Und wieder eine neue Instrumentierung von Modest Mussorgskijs „Bildern einer Ausstellung“! – Ja, warum denn das? Der muß ja verrückt sein…
Sicher, Verrücktheit gehört irgendwie zum Handwerk des Komponisten. Auch wenn er sich nur als Instrumentator betätigt. Und überhaupt: Es war ja alles gar nicht so geplant.
Begonnen hat es, als mich ein Freund, selbst Dirigent, anrief und mit etwas Verzweiflung in der Stimme sagte: „Ich soll die ,Bilder’ dirigieren. Ich bin todunglücklich. Wir müssen uns zusammensetzen.“
Gesagt – getan.
Wir gingen also die vorliegenden Versionen durch: Funtek, Stokowski, Ashkenazy, Gortschakow. Und natürlich Ravel.
Stokowski flog gleich hinaus, dann auch Funtek (zu dem ich geraten hatte). Gortschakow sagte meinem Freund auch nicht zu: „Das ist Schostakowitsch, nicht Mussorgskij.“ Ashkenazy? „Ja, sicher, glänzend, aber eine Kapellmeisterarbeit. Viel zu glatt.“ Also doch Ravel? „Wenn ich das Saxophon höre, kriege ich Aggressionen“, sagte mein Freund.
„Das Saxophon ist mir egal“, sagte ich. „Sicherlich eine Fehlentscheidung. Mich stört aber mehr, dass er die „Promenaden“ falsch gedeutet hat. Die russische Sprache hat völlig unregelmäßige Betonungen und Akzentverschiebungen. Gerade Mussorgskij hat das gewußt. Hätte er darstellen wollen, wie Menschen in einer Ausstellung hin- und herschlendern, dann hätte er das mit einem gezierten Thema gemacht, so etwas wie im Polen-Akt des ,Boris’. Hier aber schreibt er deutlich vor: ,Nel modo russico’. Und er variiert die Promenaden nach dem Eindruck, den die Bilder machen. Die Promenaden sind also sozusagen eine Art Werkkommentar, wobei dieser Kommentar stellenweise zum Werk selbst wird, etwa in den Katakomben und im Schlußbild. Das Einzige, was zu so etwas taugt, ist die Sprache. Ich bin völlig überzeugt, Mussorgskij wollte nicht herumstehende Menschen schildern, sondern das Gespräch dieser Menschen während sie promenieren. Daher: Alle Phrasen etwas ähnlich, aber doch mit Verschiebungen: Man sagt das Gleiche mit anderen Worten, betont einen Aspekt, nimmt einen anderen weniger wichtig. Ravels pompöses Auftreten am Anfang ist daher Quatsch.“
„Und was hättest Du gemacht“, fragte mein Freund.
„Ich hätte jeder Phrase ihr eigenes Gesicht gegeben, jeder Phrase ihre Klangfarbe zugewiesen.“
„Und das Saxophon wäre bei Dir was?“ – „Ein Englischhorn. Dazu Bratschen. Ein Klang, der etwas altertümlich wirkt, fast wie ein Consortium; dazu ein Tamburin.“
„Mach es“, sagte mein Freund. „Das will ich aufführen.“
So also hat es begonnen.
Die konkrete Aufführungsmöglichkeit war zeitlich viel zu nahe, das wussten wir beide. (Ravel machte aus praktischen Gründen das Rennen.) Aber ich blieb dran. Nun ist die Instrumentierung fertig, wir werden sehen, wann sich die Chance der Aufführung ergibt, angepeilt ist 2011.
Nun zu meinem Ansatz.
Die grundlegende Frage für mich war, wie Mussorgskijs Klavierversion zu behandeln ist: Als Klavierauszug oder als vollständiges Werk? Ravel tendierte zum Klavierauszug, die anderen machten es ihm de facto nach, wobei sie lediglich die Farben veränderten, kaum aber den ästhetischen Ansatz.
Aber hatte Ravel wirklich recht?
Ich gebe zu: Ich weiß es nicht. Aber es war ein Weg, den ich nicht gehen wollte. Für mich ist Mussorgskijs Original bindend, was drin steht, wird instrumentierend gefärbt, aber nicht umgedeutet oder übermalt. Ich füge keine Akkorde hinzu, nicht einmal Oktavparallelen.
Letzteres allerdings mit wenigen Ausnahmen. An einigen Stellen ist nämlich klar, daß Mussorgskij nur deshalb keine Verdopplungen schrieb, weil sie grifftechnisch nicht möglich sind. Meine Regel lautet daher: Klangverstärkung durch Oktavparallelen verwende ich ausschließlich, wo sie sich aufdrängen und nur durch die Begrenzung der Fingerspannweite unmöglich sind. Eine solche Stelle ist der Höhepunkt des „Bydlo“, bei der „Baba Jaga“ gibt es eine und im „Großen Tor von Kiew“ auch.
Nächste Überlegung: Welches Klanggewand soll meine Instrumentierung anlegen? Ich entschied mich, von Mussorgskijs eigenen Instrumentierungen auszugehen, wobei ich mich vor allem auf die Fragmente aus „Salammbô“ bezog, aber auch auf die „Nacht“ und Teile des „Boris“. Ein reines Nachahmen der Instrumentierung Mussorgskijs wollte ich jedoch vermeiden, zumal alle drei Werke sehr unterschiedlich instrumentiert sind.
Allerdings spürt man, welche Farben Mussorgskij bevorzugt: Bratschen, Oboen, Klarinetten, Hörner. Auch weite Teile der „Bilder“ scheinen mir gerade diese Farben zu suggerieren. Also besetzte ich zwar ein normales großes Orchester mit dreifachem Holz, 4 Hörnern, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Baßtuba und Streichern, nur haben die Geigen in meiner Instrumentierung etwas weniger zu tun und melden ihren Führungsanspruch keineswegs durchgehend an.
Jedes Bild bekommt dabei eine spezifische Farbe zugewiesen. Das volle Orchester spielt nur in den beiden Schlußbildern, sonst ist es aufgesplittert. Außerdem hat jede Gruppe ein Bild für sich allein: Streicher und abgestimmte Schlagzeuge (hier gehe ich über Mussorgskij hinaus und besetze mit Xylophon, Marimbaphon, Vibraphon und Celesta) lassen die Küken in ihren Schalen tanzen, die Holzbläser lassen die Marktfrauen von Limoges keifen, die Blechbläser wölben düstere Katakomben, wo nur ein einziges Mal für eine Phrase die Streicher aufklingen.
Und dann die Frage: Die Glocken im Großen Tor? Ravel hat sie weggelassen. Andere lassen die Orchesterglocken läuten. Ist das sinnvoll? Mussorgskij imitiert Glocken. Glocken zu verwenden, um Glocken zu imitieren? Ich darf Bedenken anmelden – und entschied mich für eine rein orchestrale Glockenimitation.
Und jetzt ruft mich mein Freund an, der die Partitur in Händen hat, und sagt, ich soll gleich die „Nacht“ auch machen und ein paar Klavierstücke, er habe da so eine Idee – von der ich allerdings versprochener Maßen nichts verraten kann, weil sie dermaßen originell ist, dass er sein „Copyright“ zurecht beansprucht.
Dieser Text ist ein umformulierter, teilweise erweiterter, teilweise gekürzter Auszug aus dem Vorwort der Partitur.