"Wie historisch korrekt ist HIP wirklich ?" - Kritische Gedanken über heutige Interpretationspraxis

  • Als Vorwort sei gesagt, daß mich schon in den frühen siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts Aufnahmen mit "Originalinstrumenten" interessiert haben. Vorreiter war damals Harmonia Mundi mit seinen Interpreten.
    Nicht immer waren die Einspielungen überzeugend, oft von falschen Tönen und dünnem Klang gezeichent - oft aber sehr beeindruckend.


    Inzwischen sind etliche Jahre ins Land gegangen und zumindest 2 Generationen von HIP-Interpeten unterschiedlichster Herkunft durften wir erleben. Heute bekommen wir sogar des öfteren HIP Einspieluingen angeboten, die überhaupt nicht mehr auf Originalistrumenten der Zeit (oder Kopien derselbe) interpretiert werden, sondern auf modernem Instrumentarium.


    Historisch sei lediglich - so wird uns versichert - die alte Spieltechnik und Spielweise.


    Ohne mich jetzt darüber verbreitern zu wollen wie angenehm oder unangenehm solche Aufnahmen denn nun klingen, möchte ich vilelmehr die Frage aufbeinden, wie nahe diese Interpretationen denn nun tatsächlich am historischen Original anzusiedeln seien.....


    Der mehrheitlich (wenn auch nicht immer) handelt es sich um eine Spielweise, die mit agressiven Tempi, sprödem Ton und krassen Dynamiksprüngen agiert.
    Meiner Ansicht nach widerspricht ein solcher Interpretationsansatz so ziemlich allen Eigenarten des 17. und 18. Jahrhundert, wo alles ziemlich überladen, geziert und langatmig war, "Behübschung" war erstes Gebot, sei es die Anreder in einem Brief, die Einleitung eines Buches, die Ausführung eines Gemäldes, die Architektur eines Gebäudes.
    Überall fand sich Schönheit und (übertriebene?) Harmonie.


    Gerade in der Musik jedoch, der harmonischesten aller Künste (zumindest bis ins 20. Jahrhundert)soll ein rauher und aggressiver Ton vorherrschend gewesen sein.


    Es geht hier nicht darum inwieweit dier "frische Wind" einige Werken getan hat, (Vivaldi, Bach, Haydn) bzw er andere Werke "zerstört" oder verfremdet hat (Mozart, Beethoven, Schubert) sondern was den nun wirklich "historische Wahrheit " ist.


    Des weiteren ist dieser Thread gedacht, Interpetationsansätze der Böhm- , Bernstein, und Karajanzeit unter die Lupe zu nehmen, etwa under dem Bliclwinkel, wie es zu deren Musizierstil kommen konnte, wieso Notenmatereial im Laufe der Jahrhunderte "verstümmelt" werden konnte, soll heissen Ursache - beispielsweise ob hier "verbesserungen" der Werke angestrebt wurden - oder ob es sich lediglich um Schlampereien handelte. Ich bin geneigt ersteres anzunehmen.


    Auch über HEUTIGE Interpretationen kann gelästert - äh geschrieben werden. Allmählich kehrt man ja wieder zum modernen Intrumentarium zurück (Hier stellt sich die Frage: WARUM ?) - aber man bleribt den Dynamiksprüngen und dem kantig -rhythmischen Gesamteindruck treu - fast als handle es sich um Musik des 20. Jahrhunderts..


    Ich orte in der HIP-Bewegung einen Riesen-Etikettenschwindel, der lediglich über Umwege in der Instrumentalmusik das erreichen will, was das Regietheater mit der Oper bereits gemacht hat. (Regietheater hat einen eigenen Thread bitte bei Bedarf dort drüber weiterzudiskutieren - hier wurde es nur als Gleichnis herangezogen)


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • das wird hoffe ich, ein irrsinnig spannender thread. ich freue mich. und teile - obwohl ich sehr, sehr gerne hip mag, deine bedenken. denn sooo, wie heute zu hören, kann ich mir beim besten willen die musik im barock, rokoko und klassik nicht vorstellen.

    --- alles ein traum? ---


    klingsor

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Ich orte in der HIP-Bewegung einen Riesen-Etikettenschwindel, der lediglich über Umwege in der Instrumentalmusik das erreichen will, was das Regietheater mit der Oper bereits gemacht hat. (Regietheater hat einen eigenen Thread bitte bei Bedarf dort drüber weiterzudiskutieren - hier wurde es nur als Gleichnis herangezogen)


    Lieber Alfred,


    es gibt - bei der HIP-orientierten Musikpraxis wie beim "Regietheater" - eine große Bandbreite, und dabei auf allen Seiten auch viel Scharlatanerei. Es handelt sich um modische Sichtweisen, die Ernsthaftigkeit und Kommerz gleichermaßen in sich tragen. Dass es dabei auch beglückende Erlebnisse geben kann, ist das eine, dass es viel Mittelmaß gibt, das zweite, das es dabei entsetzliche Produkte geben kann, das dritte (wir werden wohl nur unterschiedliche Prozentzahlen in den drei Kategorien nennen).


    Von vorne herein war klar, dass man Musik nicht hören kann wie zur Aufführungszeit. Dass man sich in vielem so weit wie möglich angenähert hat, war ein Zeichen akademischer Musikausübung (vor allem zu Beginn), eine Repertoirebereicherung und ein neues Klangbild. Ob das nun so historisch war oder nicht, spielte eigentlich keine Rolle - es war anders und das befriedigte den Markt, denn flugs musste man sich das Repertoire neu kaufen.


    Dass es nun (immerhin 50 Jahre nach dem Beginn) Ermüdungserscheinungen zeigt, ist verständlich; man möchte ja noch weiter Einspielungen verkaufen und muss nun wieder nach neuen Wegen suchen.


    Wir hören mit den Ohren des 21. Jahrhunderts, deshalb ist es für mich kein Wunder, dass auch Barock-Interpretationen nun nach 21. Jahrhundert klingen, sonst würde wohl nur eine kleine Kennerschaft sie kaufen.


    Schön ist es aber, hier einmal zu hören, dass der Kaiser keine Kleider trägt.


    Dafür recht herzlichen Dank


    Peter

  • Ich glaube das größte Missverständnis ist, das es kaum einem Musiker / Künstler darum geht etwas einfach nur zu reproduzieren.
    Niemand behauptet ernsthaft dass er in der Lage sei, die Musik genauso klingen zu lassen, wie sie zu ihrer Entstehung geklungen hat – allein das wäre schon ein völliges Missverständnis dieser Musik, da sie ja ohnehin dem Interpreten sehr viel Freiraum lässt, wir wissen ja, das die Improvisationspraxis in dieser Zeit unheimlich wichtig war.



    Zudem ist die musikalische Interpretation, genau wie die heutigen Inszenierungen immer von der jeweiligen Mode beeinflusst, niemand kann sich von der Ästhetik seiner eigenen Epoche lossagen – das geht einfach nicht, selbst wenn man das wollen würde.


    Aber ich denke trotzdem, dass in der Annäherung an die alten Spielweisen und die Aufführungspraxis viel gewonnen wird, denn das was bisher gängige Praxis war, ist auch nichts anderes als eine Modeerscheinung.
    Doch diese Mode wurde so dargestellt, dass sie die einzige Weißheit wäre und so etwas halte ich für fatal – Kunst kann niemals stillstand bedeuten, doch genau das symbolisiert die althergebrachte Spielweise.


    Die historisch informierte Aufführungspraxis ist weitaus mehr, als nur das spielen auf Darmsaiten und Nachbauten historischer Instrumente, die Musiker die sich auf Alte Musik spezialisiert haben, werden meist von den „normalen“ Musikern verächtlich herabgekanzelt, ich habe das schon sehr oft mitbekommen. Umgekehrt jedoch noch nie.
    Das hat wohl mal wieder etwas mit Kompetenzgehabe zu tun, das Lieblingsspiel der Deutschen (...)


    HIP ist mehr, die Musiker beschäftigen sich intensiv mit der Epoche selbst, den Spieltechniken, den Aufführungsgegebenheiten, den intellektuellen Hintergründen usw.
    Und vieles von den Erkenntnissen der Bewegung wurden ja Gott sei Dank auch von vielen Orchestern und Musikern aufgegriffen, ich denke da nur an die Reduzierung des Vibratos, dem Glockenton usw.


    Aber es gibt auch genügend HIP Ensembles die einfach nur noch mit den gewonnen Erkenntnissen spielen und nicht mehr forschen – das ist ein Fehler.
    Natürlich ist es richtig, dass die ersten Aufnahmen von Harnoncourt unerträglich sind, man beherrschte weder die Instrumente so, dass es schön klang, die Gestaltung ließ zu wünschen übrig und die Tempi waren voll daneben – sein Gambenquartett schoß den Vogel ab.
    Aber seine Erkenntnisse und das was er in Bewegung setzte, ist einfach notwendig gewesen.
    Ich mag die Interpretationen von Harnoncourt nicht besonders, aber das was er entdeckte und beschrieben hat ist ungemein wichtig, da er die Interpretation der Musik völlig veränderte.


    Harnoncourt ist aber eben nicht alles, viel kennen nur die Aufnahmen aus den 60er und lehnen HIP ab. Würde ich wahrscheinlich auch, wenn ich nichts anderes kennen würde, denn diese Aufnahmen sind wirklich nur schwer genießbar.
    Mittlerweile gibt es so viele verschiedene Ansätze, ein paar Ensembles müssen mit Gewalt alles gegen den Strich bürsten, aber auch da gibt es genügend Alternativen, wenn man das nicht mag.


    Was mir Sorgen macht ist, dass man nicht mehr so forscht und experimentiert wie in den 60er 70er und 80er Jahren.
    Ein Punkt der mich seit einiger Zeit massiv stört ist die Ensemblegröße.
    Barockmusik heißt nicht automatisch kleines Orchester / bzw. Kammerorchester.
    Die Formation „La Petit Bande“ (das Elite Orchester Lullys) wurde zum idealen Barockorchester erhoben, es sind selten mehr als 14 Musiker.
    Oder man bezieht sich auf Stiche von Orchesteraufstellungen am Dresdner Hof.



    Doch beides sind Sonderfälle.
    La Petit Bande diente ausschließlich zur Unterhaltung des Hofes und als persönlicher Gettoblaster Louis XIV, denn das Ensemble musste zu Fuß alle Wege mitmaschieren.


    Das Dresdner Hoforchester war wesentlich vielfältiger besetzt und größer als die meisten Orchester anderer Opernhäuser.


    Wie sah das nun wirklich aus ?
    In den italienischen Opernhäusern des 17. Jahrhunderts konnte es passieren, dass Opern nur von 2 oder 3 Instrumenten begleitet wurden, weil der gesamte Etat für die Sänger drauf ging.
    Will man so etwas heute hören ?
    Ich denke nicht, viel schöner ist es doch, ein farbiges großes Ensemble zu haben, wie z.B. bei „Il pomo d’Oro“ oder den anderen Wiener Hofopern? René Jacobs zumindest ist der gleichen Meinung, und er hat Opernaufnahmen mit minimalen Besetzungen gemacht (Cesti L’Orontea)


    Bei den Franzosen ist es mittlerweile festgefahren, dass man für Opernaufführungen auf die Besetzung der „Petit Bande“ zurückgreift.
    Historisch ist aber nachweißbar, dass dieses Ensemble nur dann Ballette und Opern aufführte, wenn es sich um private Vorstellungen handelte.
    Denn am Hofe gab es immerhin an die 300 Musiker, die wurden zu großen Opern und Ballettvorstellungen zusammen gezogen, man spricht von Orchestern die eine Größe zwischen 50 bis 70 Mann stark waren.
    Und man war stolz darauf die Italiener mit ihren kleinen Ensembles zu übertreffen.


    14 Musiker gegen 70 – das nicht nur ein kleiner Unterschied, das sind Welten.


    Aber auch in Italien gab es bei der Aufführung von Oratorien und Concerti Grossi wahre Heere von Musikern die zusammen gezogen wurden.


    Das also Barockmusik ausschließlich nur mit kleinen Orchestern aufgeführt werden sollte, ist langsam mal zu überdenken.
    Mal ganz abgesehen von den ganzen Instrumenten, die damals noch Verwendung fanden und bis Heute kaum eingesetzt werden: Cromorne, Serpent, Trumscheit, Schalmei (Hautbois) usw.



    Die Sänger:


    Countertenöre haben in der Oper nichts verloren, zumindest nicht in der Opera Seria des 18. Jahrhunderts.
    Bei den italienischen Opern des 17. Jahrhunderts kann man das durchaus machen.


    Diese Rollen waren für Kastraten geschrieben, diese Stimmen sind etwas völlig anderes als die der Countertenöre. Händel setzte nachweisbar immer Frauen als Ersatz ein.
    Und der Grund liegt auf der Hand, ein Counter hat nur einen begrenzten Stimmumfang, er kann niemals der gesamten Partie (vor allem wenn es sich um Hauptrollen handelt) gerecht werden. Natürlich ist es faszinierend und bestimmt als Attraktion ein Publikumsmagnet, aber eben historisch bedenklich.


    Ich denke dass HIP den Werken gar nicht geschadet hat, im Gegenteil.
    Erst dadurch habe ich Freude an der Musik von Mozart, Schubert und Beethoven bekommen.
    Letztlich bleibt es eine Geschmacksfrage, was die Musik ab 1730 betrifft, davor sind moderne Instrumente und Spielweisen ein NO GO. Weil teilweise auch gar nicht spielbar, ohne Gamben, Lauten usw.


    Da kann ich nur wieder die unselige Zedda Aufnahme der Cavalli Oper bei Naxos heranziehen.
    Da wird auf wunderbarste Weise vorgeführt, warum man mit modernen Orchester und modernen Stimmen keine Barockoper machen kann.
    Anhören sagt mehr als tausend Worte.
    Diese Mischung ist wie Spinat mit Himbeerpudding, wobei dem Spinat noch der „Blub“ fehlt und der Pudding angebrannt ist.



    Zitat

    Der mehrheitlich (wenn auch nicht immer) handelt es sich um eine Spielweise, die mit agressiven Tempi, sprödem Ton und krassen Dynamiksprüngen agiert.
    Meiner Ansicht nach widerspricht ein solcher Interpretationsansatz so ziemlich allen Eigenarten des 17. und 18. Jahrhundert, wo alles ziemlich überladen, geziert und langatmig war, "Behübschung" war erstes Gebot, sei es die Anreder in einem Brief, die Einleitung eines Buches, die Ausführung eines Gemäldes, die Architektur eines Gebäudes.
    Überall fand sich Schönheit und (übertriebene?) Harmonie.



    Das sehe ich ganz anders, Kunst entsteht erst durch Harmonie und Kontrast, und gerade das Barock zeigt beide Seiten, das Schöne wie das hässliche. Nicht jede Fassade ist wirklich harmonisch, nicht jedes Gemälde ist pure Behübschung (Jordans) und nicht alles ist überladen (Fassade Louvre)
    Allein in Versailles finden sich so viele Beispiele dafür, die Fratzen und Mutationen der spottenden Bauern am Latonabrunnen, der ssie genau in dem Moment zeigt, wie sie sich in Frösche verwandelt.
    Das schmerzverzerrte Gesicht des Encelados, der unter der gewaltigen Last der auf ihn herabgestürzten Berge stirbt usw.
    Viele Fontänen sind nicht harmonisch sondern agressiv, beängstigend, wild.
    Auch findet man diese krasse Dynamik das in vielen Gemälden wieder, allein schon in den ganzen Faltenwürfen.


    Harmonie ohne Brechung ist stinklangweilig, das weiß man seit der Antike und im Barock erst recht, deshalb darf die Musik niemals nur harmonisch klingen.


    Eine wichtige Überlegung, die ich für oft unterschätzt halte, war das die Musik als Ventil fungierte.
    Die Gesellschaft des 17. und 18. Jahrhunderts, vor allem die höfische Gesellschaft hatte nicht die Möglichkeit ihre Gefühle auszuleben.
    Sie mussten den Schein wahren, koste es was es wolle, die Musik gab ihnen die Gelegenheit die Gefühle etwas zu kompensieren.
    Ich weiß nicht mehr wo ich das gelesen habe, aber ich denke an diesem Gedanken ist eine Menge dran.




    Ich denke dass die Ensembles schon recht nahe an dem Klangbild des 17. und 18. Jahrhunderts dran sind, man sollte aber anfangen wieder etwas mehr zu experimentieren, die noch nicht rekonstruierten Instrumente hinzuziehen neue Aufstellungen testen und mit verschiedenen Ensemblegrößen ausprobieren.
    Es gibt noch viel zu entdecken.

  • Hallo zusammen,


    erst mal danke an den Lullisten für den schönen Beitrag, der viele Anregungen oder Überdenkenswertes an der heutigen HIP-Praxis zusammenfasst. Ich denke auch, dass ein Verharren in Moden oder Konventionen immer das schlimmste ist, was passieren kann und einiges in der heutigen HIP-Welt geht vielleicht in diese Richtung.


    Ich möchte aber einen Aspekt der HIP-Bewegungen aufgreifen, der meines Erachtens massiv gegen Alfreds Verdacht, den er in seinem letzten Abschnitt äußert, spricht: Die massive Repertoire-Erweiterungen, die uns die HIP-Ensemble gebracht haben. Von der Renaissance-Musik, über frühen itelienischen Oper, über Biber und Konsorten bis zur gesamten französische Barockmusik war ja fast nichts wirklich präsent und für musikalische Laien verfügbar (das sind jetzt nur ein paar willkürliche Beispiele). Heute ist doch ein unglaublicher Teil wunderschöner Musik mindestens auf CDs verfügbar - und mir ist eine Lully-Oper mit zu kleinem Orchester immer noch lieber, als gar keine Lully-Oper.


    Hierduch habe jedenfalls ich eine unglaubliche Erweiterung erfahren und bin alleine dafür den "HIP-lern" sehr dankbar. Destruktive Tendenzen stelle ich mir jedenfalls anders vor.


    Viele Grüße,


    Melanie

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  • Zitat

    (Lullist)
    Ich glaube das größte Missverständnis ist, das es kaum einem Musiker / Künstler darum geht etwas einfach nur zu reproduzieren.
    Niemand behauptet ernsthaft dass er in der Lage sei, die Musik genauso klingen zu lassen, wie sie zu ihrer Entstehung geklungen hat – allein das wäre schon ein völliges Missverständnis dieser Musik, da sie ja ohnehin dem Interpreten sehr viel Freiraum lässt, wir wissen ja, das die Improvisationspraxis in dieser Zeit unheimlich wichtig war.


    Das ist, glaube ich, einer der wichtigsten Punkte.
    Was man m.E. nicht bestreiten noch wegdiskutieren kann, ist die Funktion der HIP-Bewegung als "Jungbrunnen" und auch bei der (Wieder-)Entdeckung weiter Bereiche der alten Musik.


    Was man bestreiten, aber nicht beantworten kann, ist, inwiefern es so ähnlich wie damals geklungen haben mag. Abgesehen davon, daß das nicht unbedingt das Ziel sein sollte, kann man vermutlich guten Gewissens sagen: auch wenn man es nicht weiß, sind die HIPisten sehr wahrscheinlich wesentlich näher dran als die Traditionalisten.
    (Abgesehen davon bin ich gar nicht der Ansicht, daß die meisten HIPisten heute besonders "ruppig" zu Wege gehen würden. Das trifft nur auf einzelne zu. Viele sind eher zu brav und spielen wie Marriner, bloß auf alten Instrumenten)


    Ich glaube, daß Alfred ein verkehrtes Bild des 17. u. 18. Jhds. propagiert, wobei von einigen isolierten Merkmalen der bildenden Kunst und der höfischen Kultur auf das Ganze und auf die Musik geschlossen wird.
    Es gab eben nicht nur höfischen Tand, sondern es gab im 17. Jhd. die bis ins bizarre Detail die Vergänglichkeit hervorhebende Lyrik von Gryphius u.a., es gab die ausufernde und derbe Komik Grimmelshausens, es gab das Groteske in der Skulptur (worauf der Lullist hingewiesen hat) hat. In England den beißenden Spott Swifts, die gutmütigere Ironie Fieldings usw.


    Und später war bekanntlich war der Marquis de Sade ein Zeitgenosse Mozarts, so daß man nicht völlig fehl gehen dürfte, wenn man die Mischung aus Faszination und Abscheu, die das Publikum dem 'libertin' Don Giovanni entgegenbrachte, mit der seinerzeitigen Verquickung von sexueller und politischer Freiheit in Zusammenhang setzt.


    Ich halte es für ein Vorurteil, daß die Musik, die eben nicht (nur) "die harmonischste", sondern auch eine unmittelbar emotionale Kunst ist, einfach als angenehmes Geklingel neben solcher Literatur hergelaufen sein sollte.


    Beethoven und Schubert schließlich sind Zeitgenossen der "schwarzen Romantik" Hoffmanns oder von Gemälden wie diesem hier:



    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Dem ausführlichen Statement des Lullisten kann ich mich nur anschließen! :jubel: :jubel: :jubel:


    Auch die HIP hat ihre Geschichte, die viel länger zurückreicht als in die 1960er Jahre - man lese z.B. Hindemiths Vortrag "Bach: Ein verpflichtendes Erbe". Ein Narr, wer nicht zugibt, daß er seit dem Beginn seiner Karriere nicht dazugelernt hat, aber auch, wer es nicht tut und auf Standardlösungen setzt, sei es aus Bequemlichkeit oder ökonomischen Zwängen. Das war seinerzeit sicher auch nicht anders.


    Der größte "Feind" einer vorurteilsfreien Betrachtung der Ergebnisse der HIP sind nostalgische Gefühle und die zahlreichen Projektionen auf die Musik und ihre Entstehungszeit: Wir sehen vieles in die vergangenen Jahrhunderte hinein ... das tun die HIPler auch, aber ungleich kenntnisreicher und differenzierter.


    Einen Hauptunterschied zwischen der heutigen Musikszene und der vor 1850 sehe ich darin, daß a) damals immer neue Musik verlangt wurde, wo wir heute eine mehrheitlich museale Praxis haben und b) ein allgegenwärtiges Bedürfnis nach Unterhaltung und Entspannung Anforderungen stellt, die z.B. der Affektenlehre des Barock ziemlich widersprechen. Mir gefällt die anderen schroff erscheinenende Herangehensweise, weil sie den Staub der heroisierenden Genienverehrung von der Musik bläst. Ich bin dankbar für jeden "Kleinmeister", dessen Musik mich bewegt, den diese überheblich bewertende Attitüde nie hervorgeholt hätte!


    Man sehe parallel die Errungenschaften der Geschichtsforschung: auch da haben wir ein differenzierteres Bild gewonnen.


    Un der angeblich "dünne" Klang"? Ich habe nie verstanden, wie man z.B. den langweiligen Klang eines Steinway zum maß aller Dinge erklären kann - welch ahistorische Sichtweise! Aber ich bin auch mit dem Klang eines Wiener Flügels aus den 1830er jahren groß geworden ... Die (so abstrakt aufgefasste) Musik von ihrem Klang zu trennen, ist ein gefährliches Unternehmen ...


    Wenn ich irgendwas gegenüber skeptisch bin, dann zu allererst meinen eingeschliffenen Hörgewohnheiten gegenüber!


    :hello:

  • Ich habe schon in meinem Eingangsposting erwähnt, daß "HIP" etlichen Werken recht gut getan hat, und daß es viel interessantes gegeben hat. Ich selbst verfüge über eine durchaus respektable Sammlung von HIP-Einspielungen - und das durchaus bewusst.


    Jedoch gibt es auch ein gewisses Repertoire, welches mit "modernen" Instrumenten einfach besser klingt.


    Zitat

    Natürlich ist es richtig, dass die ersten Aufnahmen von Harnoncourt unerträglich sind,


    Diesen Satz sollte man sich einprägen, aber auch andere Ensambles, vorzugsweise aus Köln waren für mich nur schwer erträglich, speziell wenn es um Werke der Wiener Klassik und ihrer Randgebiete gehtl.


    Letztlich ist das aber gar nicht das Thema, sondern es ging lediglich um die KERNFRAGE, ob in den meisten Fällen, wo vorgeblich HISTORISCH INFORMIERT gespielt wird, nicht unter falscher Flagge gesegelt wird:
    Ein agressiver Klang, der mir verdächtig nah an der Popmusik des 20. und 21. Jahrhundert orientiert scheint wird unter dem Mäntelchen "HIP"
    für gewisse Zeit zum alleinseligmachenden Weg erklärt und alle Künstler vergangener Epochen zu ahnungslosen Trotteln gestempelt, die es halt "nicht besser wussten"
    Mir geht es hier vor allem darum dieses Vorurteil aus dem Weg zu räumen, die wussten natürlich was in den Noten stand, wenngleich natürlich nicht in der Urausgabe. Die "Änderungen" im Laufe der Zeit - oft als Schlampereien abgetan waren jedoch zumeist EINGRIFFE von Dirigenten späterer Jahrhunderte die "Schwachstellen" der Kompositionen (mit mehr oder weniger Erfolg) zu eliminieren versuchten.
    Mit der Zeit entwickelten sich dann "pragmatisch-Orientierte" Interpretationen, als deren Höhepunkt ich die Ära Karajan-Böhm-Bernstein sehe. Aber selbstverständlich waren diese Drei nicht die einzigen. Spontan fallen mir noch Klemperer, Jochum und Beecham ein.


    Was mich mehr stört als HIP ist die Abkehr davon, die die Vorteile dieser Sicht allmählich aufgibt, die Nachteile jedoch beibehällt. Stücke der Wiener Klassik vertragen keine "Terassendynamik" wo Dynamiksprünge ohne Vorwarnung die Harmonie stören. Derartiges gibt es selbstverständlich in der Moderne, aber das achtzehnte Jahrhundert ist nun mal weder Barock noch Moderne.
    Es gibt Aufnahmen wo das gesamte Kleinorchester alle Mühen aufbieten muss um zu klingen wie ein grosses, was letztlich forciert und gequält klingt.


    Vielleicht noch ein Beispiel zu Harnoncourt:


    Die Ouvertüre zur "Entführung aus dem Serail" lässt er wie "türkische Musik" spielen, sie ist aber allenfalls Rokokomusik "a la turca".
    Das ist meiner Meinung nach ein bedeutender Unterschied.


    Mir geht es in diesem Thread - auch wenn es manchmal so scheinen mag - nicht um die "Verdammung" der HIP-Bewegung, sondern um die Rehabilitation der vorherigen Aufnahmen, die für manche heute "kaum mehr anhörbar" sein sollen.......


    Zitat

    Was mir Sorgen macht ist, dass man nicht mehr so forscht und experimentiert wie in den 60er 70er und 80er Jahren


    Es ist eine Frage inwieweit dem zahlenden Publikum "Experimente" zuzumuten sind, das Publikum möchte beispielsweise Beethovens 5. hören - und keine "neuen Erkenntnisse" vermittelt bekommen.
    Es ist, als ob ich in ein Spezialtätenrestaurant gehe, wo eine Mahlzeit einen Wochenlohn kostet, das Essen aber scheußlich schmeckt.
    Auf Anfrage erklärt der Kellner: "Unser Küchenchef experimentiert gerade"


    Andrerseite - und hierin stimme ich mit dem Lullisten überein, verträgt Barockoper (und auch die meiste Barockmusik allgemein) keine modernen Instrumente. Hier hat die HIP-Bewegung viele Werke aus dem Dornröschenschlaf geküsst.


    Bei Mozart sieht das schon wieder anders aus: Mozarts Opern unter Östmann sind zumindest anfechtbar, jene unter Rene Jacobs überzeugend spritzig, erinnern jedoch mehr an Kammeropern, denn an "Große Oper"


    Wenn man übrigens des Lullisten und meine Beiträge mehrmals liest, dann erkennt man schon einen wichtigen Unterschied:


    Er hat BAROCK als Zentrum seiner Musikwelt und argument aus dieser Position auch völlig richtig.


    MEINE Musikwelt ist die "Wiener Klassik", die teilweise ja auch "Rokokoelemente" aufweist - was man heutzutage liebend gerne unterschlägt. Ebenso bin ich ein Freund der "Frühromantik" - die ja durchaus "biedermeierlich" klingen darf.


    Natürlich ist Mozart auf Originalinstrumenten interessant, aber die Mehrheit der heutigen Aufnahmen isind doch solche von "modernen" Orchestern.


    Was mich hier stört ist lediglich, daß sich diese Orchester - anscheinend aus Angst, anders nicht überleben zu können (ein "modernes" Orchester galt ja einige Jahre lang als "veraltet" - viele verloren ihre lukrativen Schallplattenverträge) an die Klangästhetik der HIP-Formationen angepasst haben - und zwar haben sie vorzugsweise jene Charakteristiken übernommen, welche ich schon bei HIP- Formationen als nicht authentisch empfunden habe, und welche sich zwar für Strawinsky und Schostakowitsch eignen mögen - nicht aber für Mozart und Beethoven.


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Wenn ich Dich recht verstehe, scheint Dir die Musik von Mozart und Beethoven auf modernem Instrumentarium besser zu gefallen, und mit einer Spielhaltung, die zwischen 1870 und 1960 entstanden ist.
    Das ist auch Geschmackssache - aber solche Instrumente hatten Mozart nun einmal nicht, also entfernt man sich auf klangsinnlicher Ebene weiter von ihnen, und das hat mit Projektionen zu tun, den Emotionen eines Menschen des 21. Jahrhunderts.


    Ich löse das Problem des Nichtgefallens vieler Aufnahmen ganz einfach dadurch, daß ich sie mir nicht anhöre oder kaufe - und bleibe dankbar für die Vielfalt, die mir immer wieder neue Hörerfahrungen beschert. Egal für welche Musik nur eine Interpretationsweise als die optimale zu bezeichnen, ist als Geschmacksurteil akzeptabel, aber nicht als Anspruch an die ganze Szene!

  • Lieber Alfred,


    sei mir nicht böse, aber Anti HIP-Threads treten - ebenso wie Threads gegen moderne Musik - so regelmäßig wie eine Grippewelle im Forum auf. Sie führen zu kurzlebigen Diskussionen, die sich meist in der Wiederholung der hinlänglich bekannten Positionen erschöpfen, die üblichen Verdächtigen beschäftigen, aber kaum jemals brauchbare Ergebnisse bringen. Warum?


    Vorweg dies: Ich teile Deine Auffassung, daß HIP eine zeitgebundene Erscheinung ist wie die romantisierende Sichtweise (und jede andere). In 20,30 Jahren wird man klassische Musik wieder anders interpretieren. Das ist eine normale Entwicklung, die jeder musikalischen Praxis innewohnt und spricht weder für noch gegen HIP. Ich teile daher auch Deine Meinung, das Notenmaterial im Laufe der Jahrhunderte "verstümmelt" wurde, Verbesserungen der Werke wurden angestrebt, es wird auch Schlamperei im Spiel gewesen sein. Das scheint mir in einer lebendigen Konzertpraxis eine ganz normale Erscheinung zu sein, so wie man auch in den Jahrhunderten zuvor die Aufführung der Werke immer an den praktischen Gegebenheiten orientiert hat (Stärke der Besetzung, Instrumentenwahl, Stand des Instrumentenbaus, Veränderungen am Notentext usw.usf.). Es ist daher nicht verwerflich, Bach, Schubert oder Chopin auf dem modernen Konzertflügel zu spielen, die Symphonien von Beethoven an die Größe moderner Konzerthallen anzupassen und dergleichen Dinge mehr.


    Zurück zur Frage: Ich sehe ich in Deiner Argumentation mehrere grundsätzliche Schwächen.:


    Erstens portraitierst Du das 17. und 18. Jahrhundert in einer Weise, die mit der Realität (der Lullist hat auch schon in diese Richtung argumentiert) wenig zu tun hat. Stattdessen beruht Deine Auffassung auf der Vorstellungswelt des bürgerlichen Zeitalters (grob zwischen 1850 und 1970) und Konzertbetriebs, also durch deren Brille gesehen.


    Zweitens zeichnest Du ein Bild von der HIP, das niemals gestimmt hat. Dogmatische Meinungen hat es in der HIP meist nur bei Hörern, Wissenschaftlern oder Journalisten gegeben, sehr selten bei Praktikern. Die waren sich von Anfang an darüber klar, daß allenfalls eine Annäherung an die historischen Aufführungsbedingungen möglich sein könne, niemals aber eine 100%ige Übereinstimmung. HIP zeichnet sich dadurch aus, daß man sich dem Werk mit größtmöglichem Respekt nähert, indem man versucht, seine aktuelle Wiedergabe mit Hilfe entsprechender Instrumente, schriftlicher Quellen, der Spielweise und anderer Parameter so zu gestalten, daß man dem Original so nah wie möglich kommt. Dazu gehört auch die Erkenntnis, daß es in vielen Fällen ein verläßliches, durch Quellen abgesichertes Original überhaupt nicht gibt.


    Wenn man sich Deine Ausführungen genauer betrachtet ( Eigenarten des 17. und 18. Jahrhunderts, alles ziemlich überladen, geziert und langatmig, "Behübschung" erstes Gebot, überall Schönheit und (übertriebene?) Harmonie, Musik als harmonischeste aller Künste, rauher und agressiver Ton im 20.Jahrhundert, Popmusik, andere Künstler ahnungslose Trottel, Regietheater), zeigen sie mE vor allem eins, daß es Klassikhörer gibt, deren Musikgeschmack und Verständnis von Musik rein statischer Natur ist. Klassik will man so hören, wie man es gewohnt ist/gelernt hat, mit einem Standardrepertoire grob von Bach bis Mahler, mit einem Klangbild, wie es Karajan, Böhm, Furtwängler, Bernstein und anderen mit den Berlinern, den Wienern und ähnlichen Orchestern gespielt haben. Andere klangliche Vorstellungen werden als fremd empfunden und zurückgewiesen. Dein zweiter Betrag macht das besonders deutlich.


    Man begreift HIP nicht als Interpretationsalternative, sondern sieht sie als Bedrohung des eigenen musikalischen Weltbildes. Entsprechend fehlgeleitet schon im Ansatz die Argumentation gegen die HIP (und auch die moderne Musik, da wir schon dabei sind).


    Wenn bei diesem Thread etwas herauskommen soll, dann bitte ein ehrliches Bild der HIP, kein weltanschaulich verzerrtes. Dann bitte Einsicht in die Grenzen der herkömmlichen Praxis und deren zeitliche Gebundenheit. Das bedeutet weder, daß die romantisierende Wiedergabe falsch, noch das die HIP die einzig legitime ist.


    Konstruktive Kritik an HIP ist erwünscht und zulässig, setzt aber voraus, daß der Gegenstand der Kritik nicht grotesk verzerrt und an einem irrealen Wunschbild gemessen wird. Sie ist unmöglich, wenn der musikalische Ausgangspunkt de facto als einzig richtiger und nicht als einer unter mehreren möglichen angenommen wird, weil man dann Gefahr läuft, nur nach einer Rechtfertigung für sein eigene Position zu suchen statt sich mit den Problemen auseinanderzusetzen.

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  • Lieber Robert,
    du bringst es auf den Punkt! Im Barock eine Epoche der "Harmonie und Schönheit" zu erblicken - dazu braucht's schon gewaltige historische Scheuklappen :no: :no: :no: :no:, daher teile ich deine Interpretation von Alfreds wahren Intentionen voll und ganz.
    lg Severina :hello:

  • Zitat

    Original von Robert Stuhr
    Wenn bei diesem Thread etwas herauskommen soll, dann bitte ein ehrliches Bild der HIP, kein weltanschaulich verzerrtes. Dann bitte Einsicht in die Grenzen der herkömmlichen Praxis und deren zeitliche Gebundenheit. Das bedeutet weder, daß die romantisierende Wiedergabe falsch, noch das die HIP die einzig legitime ist.


    Konstruktive Kritik an HIP ist erwünscht und zulässig, setzt aber voraus, daß der Gegenstand der Kritik nicht grotesk verzerrt und an einem irrealen Wunschbild gemessen wird. Sie ist unmöglich, wenn der musikalische Ausgangspunkt de facto als einzig richtiger und nicht als einer unter mehreren möglichen angenommen wird, weil man dann Gefahr läuft, nur nach einer Rechtfertigung für sein eigene Position zu suchen statt sich mit den Problemen auseinanderzusetzen.


    Danke!!!! :jubel: :jubel: :jubel:

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    aber man bleribt den Dynamiksprüngen und dem kantig -rhythmischen Gesamteindruck treu


    ?(
    Kommt ja wohl auf das Stück an.
    Wenn auf eine leise Stelle, ohne dass es dazwischen lauter wird, eine laute Stelle kommt, dann wird in der Realisation hoffentlich ein Dynamiksprung draus.


    Gerade bei Beethoven (bei dem Du HIP offenbar nicht magst) ist das ja furchtbar genau notiert - wenn sich ein Dirigent dran hält, kann man ihm das schwerlich anlasten.

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Was mich mehr stört als HIP ist die Abkehr davon, die die Vorteile dieser Sicht allmählich aufgibt, die Nachteile jedoch beibehällt. Stücke der Wiener Klassik vertragen keine "Terassendynamik" wo Dynamiksprünge ohne Vorwarnung die Harmonie stören. Derartiges gibt es selbstverständlich in der Moderne, aber das achtzehnte Jahrhundert ist nun mal weder Barock noch Moderne.


    Hä?
    Bei Haydn, Mozart und Beethoven gibt es keine Dynamiksprünge?
    Kühne These.

    Zitat

    MEINE Musikwelt ist die "Wiener Klassik", die teilweise ja auch "Rokokoelemente" aufweist - was man heutzutage liebend gerne unterschlägt. Ebenso bin ich ein Freund der "Frühromantik" - die ja durchaus "biedermeierlich" klingen darf.


    Dann solltest Du vielleicht Beethoven aus dem Weg gehen, der ist nämlich weder rokoko-nahe noch biedermeierlich.
    :beatnik:


    PS: Musikwelten ohne Dynamiksprünge ... - da fällt mir am ehesten Pop-Musik ein, die hält am saubersten den Pegel.

  • Zitat

    Man begreift HIP nicht als Interpretationsalternative, sondern sieht sie als Bedrohung des eigenen musikalischen Weltbildes. Entsprechend fehlgeleitet schon im Ansatz die Argumentation gegen die HIP (und auch die moderne Musik, da wir schon dabei sind).


    Zumindest für meine Person gilt nicht, daß ich ein Gegner von Aufführungen "quasi im Originalkostüm " (Originalklang) bin, wie käme ich denn dazu, wo das Rokoko quasi meine Lieblingsepoche ist. Schauen wir sie uns an, all die Fragonards, Bouchers ets...


    Ich habe lediglich gewagt in Zweifel zu ziehen, daß solch ein Klang, wie er uns heute als "Originalklang" untergejubelt wird bei Hofe (und zwar völlig gleich an WELCHEM) je akzeptiert wordern wäre.
    Und im 19 Jahrhundert war nun mal der Adel und auch das wohlhabende Bürgertum tonangebend. Sogar nach der französichen Revolution ......


    Aber natürlich ist diese Themenstellung schon allein ein "Angriff" - das ist mir schon bewusst.


    Und selbstverständlich waren das 17. und 18. Jahrhundert Jahrhunderte der Harmonie und Schönheit - zumindest für jene Gesellschaft die hier (iim DOPPELTEN Sinn des Wortes ;) ) "tonangebend" war.


    Daß Robert Stuhr das Ende des Bürgerlichen Zeitalters mit 1970 einläutet finde ich amüsant. Welches Zeitalter haben wir denn JETZT ?
    das der "internationalen Prolokratie ?" :baeh01:
    Manchmal möchte es wirklich so scheinen.


    Und hier schliesst sich der Kreis.
    Wenn ich mich MANCHE heutigen Interpretationen anhöre, dann passen sie eher ins 21. Jahrhundert als ins 18. - wen mich mir die hässlichen asymetrischen schiefen Türme vor Augen führe.


    Es geht einher, daß beispielsweise Mozart nicht mehr jenen Stellenwert besitzt , den man ihm völlig unwidersprochen zuerkannte als er noch "bürgerlich" interpretiert wurde.


    Ein weiteres Beispiel:


    Vivaldis Kammerkonzerte haben durch die Wiedergabe von "Il giardino armonico" sicherlich gewonnen - ich liebe diese Einspielung.
    Aber ich bin sicher, daß eine derartige Spielart zu Vivaldis Zeit völlig ausgeschlossen gewesen wäre.


    DAS ist mein Thema - und keine Bewertung.


    Sehr wohl werte ich aber, wenn der angeblich historisch korrekte rauhe Klang plötzlich von ALLEN (auch "modernen" ober besser gesaght "romantischen" Orchestern) übernommen wird.
    Weil hiefür gibt es keinen Grund - ausser vielleicht jenen, das Schöne aus der Musik zu tilgen.


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Ich versuche es mal mit konstruktiver Kritik.


    Zunächst möchte ich mich bei dir, lieber Lullist, für deine aufschlussreichen Ausführungen bedanken, sie fassen eigentlich schon wichtige Eckpunkte einer Bestandsaufnahme zusammen.


    Der Ansatz, Aufführungspraxis mit intensiver, musikhistorischer Recherche zu verbinden, ist mir am sich sehr sympathisch. Er lädt ein zum Experimentieren und wenn dieser Prozess lebendig bleibt, könnte sich große Vielfalt ausbreiten und inzwischen ist auch eine solche Tendenz zu erblicken, zumal auch Epigonen wie Harnoncourt wohltuender kritische Distanz aus mehreren Jahren Abstand entwickelt haben. Ich ziehe hier ein Interview aus dem "Spiegel" aus dem letzten Jahr heran, indem er ausdrücklich zu Modifikationen seiner damals strengen Haltung rät und - besonders wohltuend - auch den Sängern ihren anatomischen "Instrumentgebrauch" wieder zuspricht.


    Marriners Klang hat sicher der Stilbewegung ein "Gesicht" gegeben, die Praxis als eine weitere Aufführungstradition etabliert und ins Gedächtnis der Hörerschaft gelegt. Teilweise konnte ich dies aber wg. "inflationär" phasenweise nicht mehr hören.


    In diesem - auch - wissenschaftlichen Ansatz liegt aber auch die Gefahr, dass die "wissenschaftliche" Komponente zuviel Einfluss nimmt auf das Musizieren, dass man der Versuchung erliegt, Musikwissenschaft mithilfe der Musik zu transportieren in einem Maß, dass der eigentliche Sinn des Konzerts, das Erreichen der Hörerschaft, nicht mehr im Vordergrund steht. Hierbei kam oft genug Verkopftes, trockenste Sprödigkeit und z. T. auch nicht Anhörbares heraus. Harnoncourts "Erstaufnahmen" in diesem Bereich, jedenfalls die, die ich gehört habe, kommen bei mir genau so an, was vielleicht kurze Zeit interessant ist, aber keinesfalls m. E. irgendwie mit Praxis einer sinnenfrohen "alten Zeit", auch im höfischen Bereich nicht, verbunden werden kann. In dieser unflexiblen Form konnte HIP auch nicht überleben. Ich kann mir des Eindrucks nicht erwehren, dass es auch gewaltig darum ging, angeblichen "Quintenschaukeln" und angeblicher Opulenz eine aufzutischen, m. E. keine dauerhafte Grundlage, nicht mehr als ein Hauch eines Denkanstoßes. Dauerhaft wurde die Stilbewegung m. E. durch Fortentwicklung und Einbeziehung neuer Recherchen des zeitgenössischen Wirkens statt Projektion gegenwärtiger Animositäten auf ein angeblich geschmackvollere Adaption der damaligen Zeitgenossen (oder, einfacher: So hatten die Altvorderen zu sein!). Ein Mozart - HIP ist eben ein anderer HIP als ein Bach - HIP und ein Don Giovanni - Orchester war auch damals und großer besetzt als eine Kammersuite.


    Alte Instrumente, die im heutigen Gebrauch entfallen sind, Gamben, Bachtrompeten, verschiedenste Hörner und dergleichen sind unheimlich faszinierend und könnten bei sinnvollem Einsatz eine bereichernde Klangfacette darstellen, auch, was inzwischen ziemlich häufig vorkommt, in der Mischung mit "modernen" Orchesterinstrumenten.


    Wenn man bedenkt, dass diese Instrumente auch in großer Form existieren, sind sie auch klanglich ausreichend tragfähig.


    In einer Aufführung des WO in meiner Gegend konnte ich mich von dieser Wirkung überzeugen. Trotzdem veranlasste mich ein ziemlich nervige Knebelung der Solo - Gesangsstimmen (im Fall einer der Stimmen, die ich anderweitig kenne, weiß ich, dass dies so war) froh zu sein, dass ich nur im ersten Teil dort war. Warum diese Auffassung bezüglich des Gesangs immer noch so sein muss (entgegen Harnoncourts Aussage), ist mir unverständlich und dies ist einer der großen Kritikpunkte.


    Ansonsten: HIP kann reizvoll sein und ist zweifellos eine bedeutende, wenn auch nicht die alleinseligmachende Interpretationsvariante. Es steht aber nirgends geschrieben, dass alles spröde, fistelig, "körperlos" zu klingen hat. Das ist einseitige ideologische Verknöcherung.


    LG
    :hello:
    Ulrica

  • Es werden die Rokoko-Elemente gar nicht komplett bestritten (wiewohl ich die stärker einigen Richtungen des Spätbarock und der Frühklassik zuordnen würde).
    Aber es gibt in der Wiener Klassik eben auch die "Kant", "Lessing", "Rousseau", "de Sade"-Elemente und was weiß ich noch. Und die derben Scherze nach Art des Humors in Mozarts Briefen, wie das Fagott im langsamen Satz von Haydns Nr. 93.


    Wenn man die alle leugnet, zugunsten eines lieblichen Rokoko, oder die Klangrede (was ja eher auf den Mainstream bis in die 60er zutrifft) zugunsten einer romantischen Stimmungsmalerei (oder einer allgemeinen Weana Gemütlichkeit, die eher zu Lanner oder Strauß passen dürfte) einebnet, tut man der Musik m.E. unrecht. Gewiß kann man kaum alle diese Aspekte gleichermaßen deutlich zum Ausdruck bringen. Es mag sein, daß "HIP" manchmal ebenso (nur anders) einseitig ist wie Böhm. Aber mein Eindruck ist, daß wenigstens die besten HIP-Lesarten mehr der genannten Aspekte zum Ausdruck bringen.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Zumindest für meine Person gilt nicht, daß ich ein Gegner von Aufführungen "quasi im Originalkostüm " (Originalklang) bin, wie käme ich denn dazu, wo das Rokoko quasi meine Lieblingsepoche ist. Schauen wir sie uns an, all die Fragonards, Bouchers ets...


    Das wären aber dann bspw. Abel oder Boyce, sicher nicht Beethoven.

    Zitat

    Ich habe lediglich gewagt in Zweifel zu ziehen, daß solch ein Klang, wie er uns heute als "Originalklang" untergejubelt wird bei Hofe (und zwar völlig gleich an WELCHEM) je akzeptiert wordern wäre.


    Nun "solch ein Klang, wie er uns heute untergejubelt wird" ist etwas zu unscharf, da dermaßen unterschiedliche Ergebnisse produziert werden.


    Entsprechend unterschiedlich waren aber auch die Stars bei Hof - und zwar auch die Maler, selbst diejenigen, welche die mächtigsten Fürsten und Könige portraitieren durften. Während Rigaud bei Ludwig XIV sowohl eine perfektionierte Oberfläche (in feinmalerischem Sinne) als auch einen repräsentativen Ausdruck durch eine Art überzeugender Überhöhung der Würde des Dargestellten erreichte, war am spanischen Hof ein Realismus erlaubt, der uns verwundert: Die Regenten, die Velasquez malt, sehen eher kostümiert als in ihrer Würde unterstrichen aus und bei Goya beginnt der Eindruck der kaiserlichen Familie ans Lächerliche zu grenzen. Auch die Malerei kümmert sich nicht um detailverliebte Wiedergabe - man könnte sie womöglich als "ruppig" bezeichnen.


    Woher sollen wir nun wissen, wie rauh der Klang der Hofmusik bei den Fürstenhöfen war?


    Zitat

    Und selbstverständlich waren das 17. und 18. Jahrhundert Jahrhunderte der Harmonie und Schönheit - zumindest für jene Gesellschaft die hier (iim DOPPELTEN Sinn des Wortes ;) ) "tonangebend" war.


    Nun, wie uneins man darüber sein kann, was schön ist, zeigt doch nicht nur dieses Forum. Und mit der Harmonie verhält es sich ebenso.


    Zitat

    Es geht einher, daß beispielsweise Mozart nicht mehr jenen Stellenwert besitzt , den man ihm völlig unwidersprochen zuerkannte als er noch "bürgerlich" interpretiert wurde.


    Was für einen Stellenwert?


    Zitat

    Vivaldis Kammerkonzerte haben durch die Wiedergabe von "Il giardino armonico" sicherlich gewonnen - ich liebe diese Einspielung.
    Aber ich bin sicher, daß eine derartige Spielart zu Vivaldis Zeit völlig ausgeschlossen gewesen wäre.


    Rein gefühlsmäßig kommen die mir auch mäßig vertrauenserweckend vor.


    Zitat

    Sehr wohl werte ich aber, wenn der angeblich historisch korrekte rauhe Klang plötzlich von ALLEN (auch "modernen" ober besser gesaght "romantischen" Orchestern) übernommen wird.


    Ich zweifle daran, dass der rauhe Klang aus der HIP-Bewegung kommt. Höre Dir mal die nicht-HIP-Streichquartett-Ensembles an, die sind auch immer härter geworden. Mir kommt das auch etwas verfehlt vor.


    Die HIP-Beethoven-Sinfonien auf alten Instrumenten, die ich gehört habe, sind aber nicht rauh.


    Die Diskussion wird zu einem unübersehbaren Chaos.
    ?(

  • Zitat

    Original von Ulrica
    Harnoncourts "Erstaufnahmen" in diesem Bereich, jedenfalls die, die ich gehört habe, kommen bei mir genau so an, was vielleicht kurze Zeit interessant ist, aber keinesfalls m. E. irgendwie mit Praxis einer sinnenfrohen "alten Zeit", auch im höfischen Bereich nicht, verbunden werden kann. In dieser unflexiblen Form konnte HIP auch nicht überleben.


    Zum Glück gibt es aber schon in den 60er Jahren besseres als Harnoncourt.
    :D
    Die Kuijkens, Brüggens und Leonhardts haben schon ordentlich aufgespielt, dass es immer noch eine Freude ist!
    :jubel:

    Zitat

    Ansonsten: HIP kann reizvoll sein und ist zweifellos eine bedeutende, wenn auch nicht die alleinseligmachende Interpretationsvariante. Es steht aber nirgends geschrieben, dass alles spröde, fistelig, "körperlos" zu klingen hat. Das ist einseitige ideologische Verknöcherung.


    Und wo gibt es das? Ich habe ja in den letzten Wochen nur Musik des 17. Jahrhunderts gehört und nur HIP, aber "spröde" und "fistelig" verbinde ich jetzt nicht damit - vielleicht, weil ich an das spröde, fistelige Zeug schon so gewöhnt bin?
    :D
    Schließlich soll das alles ja auch furchtbar langweilig sein.
    ?(

  • Hallo,
    hallo Robert Stuhr,


    besser kann ich das nicht ausdrücken (allenfalls schlechter)!


    Meiner Meinung nach ist das sogenannte "harmonische Spielen" der Wiener Klassik eine Selbstsuggestion oder Wunschprojektion; ein im unguten Sinne konservatives Verständnis. Es ist nicht gewagt, die These aufzustellen, dass 'Mozart' niemals so geklungen hat, wie z. B. Karajan Mozarts Werke dirigierte bzw. interpretierte.


    Darüber hinaus sehe ich es als ausserordentliche Bereicherung des HIP an, dass eine Vielzahl von Opern aufgenommen worden sind, die lange in Vergessenheit geraten waren. Die Renaissance des Belcanto-Gesangs oder besser "belcanto-nachempfundenen" Gesangsstils seit den 1950-Jahren geht selbstverständlich damit einher (Callas, Horne, Sutherland, Fleming, Bartoli, Floréz etc.), bzw. ging der eigentlichen HIP-Bewegung voran.


    Wer wollte das 'missen? (rein rhetorisch ;))


    Bis dann.

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  • Jetzt tu mal nicht so, als ob Deine "These" ein Angriff ist oder Du sogar eine Heldentat vollbringst, wenn Du es "wagst in Zweifel zu ziehen, daß der HIP-Klang der Originalklang" ist. Du wiederholst bloß ein abgedroschenes Standardargument. Das ist nicht mal eine These, das geht schon eher in Richtung Agitprop.


    Im übrigen bestätigt Dein neuerlicher Beitrag nur meine Kritik. Da niemand in der HIP-Bewegung zu wissen behauptet, "wie es an irgendeinem Hof geklungen" hat, ist diese Art der Annäherung auch nie beabsichtigt gewesen. Folglich geht Deine Argumentation völlig ins Leere.


    Das 17. und 18.Jahrhundert als Jahrhunderte der Harmonie und der Schönheit anzusehen, ist derart kurzgegriffen, daß es sich kaum lohnt, darauf einzugehen. Da wird - wie ich es in meinem ersten Beitrag schon ausgeführt habe - schlicht das eigene Bild projeziert und alles übrige ausgeblendet. Natürlich hat es, wie übrigens in allen Zeiten und quer durch alle Bevölkerungsschichten, auch Schönheit und Harmonie gegeben. Daher fällt es nicht schwer, einige Beispiele anzuführen. Aber man muß schon ein sehr verkürztes Geschichtsverständins haben, wenn man die Augen so vor der Realität versschließt.



    Das bürgerliche Zeitalter ist übrigens schon 1914 untergegangen, danach war nur noch Fassade.

  • Zitat

    Original von Robert Stuhr
    Das bürgerliche Zeitalter ist übrigens schon 1914 untergegangen, danach war nur noch Fassade.


    Nun ja, das Palais Trautson von Fischer von Erlach hat man erst in den 70er Jahren entkernt, das jedenfalls ist erst seither nur noch Fassade.
    :wacky:


    Du hast recht, niemand behauptet, dass es damals genau so geklungen hat. Es gibt aber mitunter schon Versuche, alles, was über bestimmte Aufführungsbedingungen bekannt ist, zu nutzen, das kann z.B. besetzungsmäßig recht weit gehen (und ist dann z.B. eine erfreuliche Abwechslung zu der Kammerorchesteritis).


    Besonders harmonisch sind natürlich die Fürstenhöfe miteinander umgegangen. Eine so lange Friedensphase wie das 17. Jahrhundert hat es seither einfach nicht mehr gegeben!
    (Muss da noch ein Smiley her?)

  • Zitat

    Original von Kurzstueckmeister
    Besonders harmonisch sind natürlich die Fürstenhöfe miteinander umgegangen. Eine so lange Friedensphase wie das 17. Jahrhundert hat es seither einfach nicht mehr gegeben!


    Und die religiöse Toleranz erst... ;)

  • Zitat

    Es ist nicht gewagt, die These aufzustellen, dass 'Mozart' niemals so geklungen hat, wie z. B. Karajan Mozarts Werke dirigierte bzw. interpretierte.


    Nein das ist nicht gewagt, meiner Meinung nach war Karajan kein idealer Mozartdirigent. Ihm ging ebenso das Gefühl für die Feinheiten Mozarts ab, wie beispielsweise Harnoncourt - lediglich ging seine Fehlinterpretation in eine andere Richtung, ohne daß ich konkret benennen könnte WAS mich an seinem Mozart so kalt lässt.


    Es hat wenig Sinn hier den Idealen Mozart-Dirigenten zu nominieren - weil das hier nicht das Thema ist, aber eigenartigerweise konnte mich Mozart auf Originalinstrumenten nur selten überzeugen, sieht man mal von den frühen Werken ab.


    @Kurzstückmeister


    Selbstverständlich gibt es Werke wo die Dynamik hineinkomponiert wurde - da ist sie zwingend notwendig und da stört sie nicht.
    Beethovens Werk ist in der Tat eine Ausnahmeerscheinung. Genau genommen ist es weder der Klassik noch der Romantik zuzuordenen sondern lediglich BEETHOVEN.


    Zitat

    Ich zweifle daran, dass der rauhe Klang aus der HIP-Bewegung kommt. Höre Dir mal die nicht-HIP-Streichquartett-Ensembles an, die sind auch immer härter geworden. Mir kommt das auch etwas verfehlt vor.


    Genau !!!


    Aber ZUERST hörte ich dieses rauhe bei Harnoncourt und auch bei einigen Kölner HIP Formationen.
    Hingegen war ich vom ersten Augenblick an von "The English Concert" (unter Trevor Pinnock) begeistert, ebenso wie wie die "Akademie für Alte Musik Berlin" Heute würde ich noch Schoonderwoerd und sein Ensemble "Cristofori" zu meinen Favoriten zählen.


    Als Versöhnung quasi habe ich heute ein neues Mitglied mit Schwerpunkt "Alte Musik" freigeschaltet....


    mfg aus Wien


    Alfred









    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    [QUOTE]Und selbstverständlich waren das 17. und 18. Jahrhundert Jahrhunderte der Harmonie und Schönheit - zumindest für jene Gesellschaft die hier (iim DOPPELTEN Sinn des Wortes ;) ) "tonangebend" war.Alfred



    Hallo Alfred,


    geht es Dir um den Interpretationsstil in der sogenannten klassischen Musik oder gilt Dein (geheimer?) Wunsch vielmehr der Rückkehr der Monarchie in Österreich und/oder Europa? :D


    "Jahrhunderte der Harmonie und Schönheit für die tonangebende Gesellschaft". Lieber Alfred bleibe bitte bei der Musik, wechsel bitte nicht in die Politik. ;)


    Bis dann.


  • Na klar, die Parasiten einer Gesellschaft haben's immer "schön", und der Preis - die Entrechtung, Unterdrückung und Ausbeutung der "nicht tonangebenden Schichten" - braucht einen Schöngeist des 21.Jhdts. natürlich nicht zu kümmern. Gottlob ist wenigstens die Pest über alle drübergefahren, wenn auch hier natürlich ungerecht verteilt......
    lg Severina :hello:


    PS: Ich hoffe, ich habe Alfred richtig zitiert, nach dem Senden war nämlich plötzlich das halbe Zitat verschwunden und ich habe es ergänzt.


    Man zitiert am besten nicht direkt mit dem Quote button, sondern kopiert den Text mit copy&paste und fügt von Hand "[quote]" etc. ein. Sonst geht manchmal Text verloren.


    JR

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt


    Genau !!!


    Aber ZUERST hörte ich dieses rauhe bei Harnoncourt und auch bei einigen Kölner HIP Formationen.
    Hingegen war ich vom ersten Augenblick an von "The English Concert" (unter Trevor Pinnock) begeistert, ebenso wie wie die "Akademie für Alte Musik Berlin" Heute würde ich noch Schoonderwoerd und sein Ensemble "Cristofori" zu meinen Favoriten zählen.


    Ich hörte es zuerst beim Arditti String Quartet bei Musik nach 1945.
    Komponisten, die das Rauhe vehement fordern, sind seit den 60er Jahren Legion. (Lachenmanns "Pression" für Solo-Chello von 1969/70 ist eine Art Apotheose des Kratzens.)


    Vergleiche ich das mit den HIP-Aufnahmen der 60er und 70er (Harnoncourt, Kuijken, Pinnock - The English Concert gegründet 1972) kann ich dieses vergleichsweise frühe HIP gar nicht rauh finden.


    1973 wurde Musica Antiqua Köln gegründet, eines der Ensembles, die ich persönlich zu hart finde (früher war ich von ihnen begeistert). Ich kenne allerdings nur Aufnahmen der 80er/90er von ihnen.


    Die zunehmende Härte bei nicht-HIP-Streichquartettensembles kann ich jetzt leider nicht zeitlich konkretisieren. Ob die eher Musica Antiqua Köln gehört haben oder Arditti String Quartet (gegründet 1974)? Wahrscheinlich beides nicht so mit Begeisterung.


    Erhellende Informationen zu diesem Thema würden mich schon interessieren.


    Aber wir haben heute ja nicht nur die "Kratz-Mode" sondern vieles andere parallel (auch in Köln ...)
    :hello:


  • Es ging Goebel und Co damals sicher auch darum, eine eigene Stimme zu finden und ihre Virtuosität auszuspielen. Das ist ebenso legitim wie für Karajan oder das Alban-Berg-Quartett. Ich finde die Aufnahmen der Zeit größtenteils faszinierend und der tendenziell faden britischen oder flämischen Konkurrenz weit überlegen. Man höre dagegen z.B. auch mal die häufig softe und langsam-lyrische Lesart der 2. Aufnahme der Brandenburgischen unter Harnoncourt aus den frühen 80ern. Das distinktive an Harnoncourt seit dieser Zeit ist ein weit größerer Anteil an "legato"-Artikulation (die freilich nicht immer soft sein muß) und ein breiteres Tempospektrum. Dagegen sind die Tempi, die bei MAK vor gut 20 Jahren äußerst hurtig wirkten, inzwischen fast alle Standard bei jüngeren HIP-Ensembles.


    Die interessantesten Überlegungen zur Modernität der HIP-Bewegung (im weiteren Sinne seit Beginn des 20. Jhds.!), die mir bekannt sind, stammen von Richard Taruskin (Text and Act, Oxford 1995). Er überspitzt sicher auch ein wenig, aber er faßt den "wissenschaftlichen" oder "neutralen" (nicht interpretieren, nur Regeln folgen) Ansatz, der dort lange propagiert wurde als Gegenbewegung zum "organischen" Ideal der Romantik, wie es sich besonders deutlich bei INterpreten wie Mengelberg oder Furtwängler zeigt. (Toscanini ist nach dier Klassifizierung proto-HIP). Und sieht hier eine Gemeinsamkeit zum Neoklassizimus und der expliziten Forderung nach Sachlichkeit wie man sie bei Strawinsky findet. Pointiert gesagt: Bei HIP spielt man Bach nicht wie Brahms (wie es Mengelberg tut), sondern wie neoklassischen Strawinsky. Das ist natürlich übertrieben, aber die Tendenz ist stellenweise nachweisbar.


    Jemand wie Harnoncourt (und einige andere, besonders der jungen Generation) fallen hier allerdings aus dem Rahmen. Harnoncourt ist quasi der HIP-Furtwängler ;) (Im Ernst, die Ausführungen zur "Klangrede" sind inzwischen auch schon über 30 Jahre her und meinen das Gegenteils von neoklassizistischer Nähmaschine.)
    Insgesamt kann man vielleicht sagen, daß seit den letzten ca. 20 Jahren statt der vermeintlichen Objektivität eher wieder die Freiheit des Interpreten und der emotional-subjektive Zugriff im Vordergrund stehen. Dialektik eben ;)
    Das scheint mir jedenfalls bei den jüngeren Italienern oder auch bei Minkowski, auch bei Rene Jacobs (obwohl älter) recht deutlich zu sehen, wenn man sie mit dem oft sehr nüchternen Interpretationen, die die Engländer und Niederländer in den 70er/80ern vorgelegt haben, vergleicht.


    Diese Interpretationen sind sicher oft insofern "unrealistisch", als daß sie zu stark auf ausführliche Proben und einen eingreifenden Dirigenten angewiesen sind (also ebender Grund, warum traditionelle ebenso unrealistisch sind). Wenn seinerzeit die meisten Sachen maximal einmal zur Probe durchgespielt wurde, ist mit besonders differenzierter Streicherartikulation (außer ggf beim Solisten) wohl eher nicht zu rechnen. Was aber nicht heißen muß, daß die Musik nicht dennoch davon profitieren könnte. Ich erwarte auch von einem modernen Streichquartett, daß es ein Haydn-Quartett nicht versucht zu spielen, wie ein Laienensemble 1790, sondern das volle Spektrum an Artikulations- usw. Möglichkeiten (natürlich kein Bartok-pizzicato oder so) einsetzt.


    Worauf stützt sich denn die Behauptung, daß extreme Kontraste (bis zur Kratzigkeit) der Musik unangemessen seien? (außer auf das "Gefühl", daß das doch gar nicht zur feinen Gesellschaft paßt; da hat der Lullist ja schon eine leicht freudianisch angehauchte Erklärung angeboten) Denn das es bei den seinerzeit üblichen Proben (oft keine, dafür das Orchester mit Laien verstärkt) häufig kratzig geklungen haben mag, dürfte ja kaum der Punkt sein.


    Man kann das m.E. nicht pauschal beantworten; wir hatten das ja schon mehrmals. Die Zeiten und Stile sind lange nicht so homogen wie wir manchmal meinen. Ein manieristisches Stück von Biber, bei dem Tierstimmen usw. imitiert werden, verlangt vermutlich eine anderen Klang als eine etwa gleichzeitig entstandene, auf Ausgewogenheit bedachte Corelli-Sonate. Und wiederum könnte man umgekehrt dafür plädieren, den Biber nicht zu übertreiben, aber dem Corelli etwas subjektiven Ausdruck zu verleihen. Es bleibt letztlich eine künstlerische Entscheidung, die man dem Interpreten nicht abnehmen kann.
    Und natürlich kann das auch mißlingen. Aber das gilt ja genauso für Traditionalisten.


    :hello:


    JR

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  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Worauf stützt sich denn die Behauptung, daß extreme Kontraste (bis zur Kratzigkeit) der Musik unangemessen seien? (außer auf das "Gefühl", daß das doch gar nicht zur feinen Gesellschaft paßt; da hat der Lullist ja schon eine leicht freudianisch angehauchte Erklärung angeboten) Denn das es bei den seinerzeit üblichen Proben (oft keine, dafür das Orchester mit Laien verstärkt) häufig kratzig geklungen haben mag, dürfte ja kaum der Punkt sein.


    Ich muß nochmal bei Leopold Mozart nachlesen, welches Vokabular er verwendet, um die Art zu spielen, die er gut findet, zu charakterisieren.


    Dass damals nicht geprobt wurde, ist mir aber neu.


    Zitat

    Man kann das m.E. nicht pauschal beantworten; wir hatten das ja schon mehrmals. Die Zeiten und Stile sind lange nicht so homogen wie wir manchmal meinen. Ein manieristisches Stück von Biber, bei dem Tierstimmen usw. imitiert werden, verlangt vermutlich eine anderen Klang als eine etwa gleichzeitig entstandene, auf Ausgewogenheit bedachte Corelli-Sonate.


    Wobei Corelli wiederum ja wie der Teufel ausgesehen haben soll - beim Spielen. Vermutlich wird man nicht so leicht Antworten finden.


    Aber das alles hat nichts damit zu tun, dass ich den Eindruck habe, dass eine Art Kratz-Mode in letzter Zeit um sich greift, und dass ich mich frage, ob es da Beeinflussungen gibt? Anders wollten die Leute immer klingen, aber soviel gekratzt wie nun haben sie vor 40 Jahren nicht, oder?

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