Herbstgold oder Götterdämmerung? Maurizio Pollinis Chopin-Recital

  • Da erscheint ein Chopin-Recital des inzwischen auch schon in das letzte Lebensviertel eingetretenen Altmeisters Maurizio Pollini. Und man fragt sich nach dem Sinn dieser Veröffentlichung. Die beiden großen Werke, die sich auf der Platte finden, liegen bereits in Einspielungen von ihm vor: die 2. Ballade im Rahmen der Gesamteinspielung der Chopin-Balladen 1999 und die b-moll Sonate mit dem Trauermarsch hatte er bereits 1985 für die DGG aufgenommen. Warum also diese Wiederholung? Keine Frage, der ehemalige Chopinpreisträger Pollini liebt es, immer wieder Chopin zu spielen, nicht zuletzt des wunderbar organischen Klaviersatzes wegen, wie er einmal bekannte. Das Programm enthält sein bindendes Band durch die Opuszahlen: op. 33 bis op. 39. Offenbar soll es verschiedene Aspekte von Chopins kompositorischem Schaffen in einer bestimmten Lebensphase aufzeigen. 1836 während eines Sommeraufenthalts in Marienbad verlobte sich Chopin mit der jungen polnischen Adligen Marie Wodzinska, eine Liebesbeziehung, die schon 1837 am Standesdünkel der adligen Familie scheiterte. Im selben Jahr verschlechterte sich Chopins Gesundheitszustand dramatisch. 1838 reiste er mit seiner neuen Liebe George Sand und ihren Kindern zu einem Genesungsaufenthalt nach Mallorca -- eine Reise, die wiederum große Enttäuschungen mit sich brachte. Statt mit der erhofften Erholung und Gesundung endete sie in einem Fiasko in jeder erdenklichen Hinsicht. Chopin wurde als Fremder und zudem noch Tuberkulosekranker wie ein Aussätziger gemieden, was die Einheimischen aber nicht davon abhielt, das Paar in schamloser Weise finanziell auszunehmen. Fluchtartig verließen sie schließlich die Insel. Diese Epoche in Chopins Leben war also geprägt von existentiellen Krisen und tiefer Depression.


    Pollini wählt für sein Recital die Ballade Nr. 2, gefolgt von den 4 Mazurken op. 33, den Walzern op. 34, dem 2. Impromptu und der 2. Sonate mit dem berühmten Trauermarsch. Die Zusammenstellung als solche überzeugt, denn sie gibt einerseits ein repräsentatives Bild des vielfältigen kompositorischen Schaffens Chopins in dieser Periode, durch das sich aber wie ein roter Faden eine einheitliche Grundstimmung webt: Dramatik und Melancholie überwiegen nicht nur in der Ballade und der Sonate mit dem Trauermarsch, sondern auch bei den Walzern und Mazurken, wo statt ungetrübter Lebensfreude eine düster-nachdenkliche Stimmung vorherrscht, die Brillianz und Salonatmosphäre nicht aufkommen lassen will. Besonders die Mazurka wird bei Chopin zum intimen Ausdruck seiner Seelenverfassung -- seine letzte Komposition in seinem allzu kurzen Leben war bezeichnend eine Mazurka.


    Von einem altersweisen Chopin-Interpreten vom Rang eines Pollini erwartet man freilich neue Aufschlüsse und Einsichten, besonders wenn er -- der sich im Tonstudio durchaus rar macht -- die beiden wichtigsten Repertoirestücke hier noch einmal auflegt. Hat Pollini also eine neue Sicht auf die Ballade und die Sonate zu bieten? Die 2. Ballade lebt vom Kontrast von lyrischer Versonnenheit und dem dann abrupt mit der Gewalt eines Naturereignisses losbrechenden Sturm. Pollinis Interpretation betont weniger den Kontrast als ein innerlich bewegtes Drängen in einer durchweg sehr flüssigen Bewegung, das sich dann zu einem stürmischen Ausbruch steigert: also dramatische Kontinuität statt Diskontinuität. Diesen Ansatz seiner Aufnahme von 1999 verfolgt er auch hier unverändert. Also in bezug auf die Ballade nichts wirklich Neues! Eine neue Perspektive dagegen bietet seine wiederholte Einspielung der b-moll Sonate. Wie fast immer begleitet Pollinis CD ein überaus kluger und lesenswerter Klappentext seines Freundes, des italienischen Musikwissenschaftlers Paolo Petazzi. Dem ist zu entnehmen, daß bedingt durch einen vermeintlichen Fehler in der späteren deutschen Ausgabe die >Grave<-Einleitung nicht in die Wiederholung der Exposition aufgenommen wurde. Pollini wählt ganz bewußt die Erstausgabe, wiederholt also diese Einleitung, eine philologisch begründete Entscheidung, die mich allerdings musikalisch nicht überzeugt. Die Einleitung verliert so ihre Singularität und Exterritorialität als eine Vordeutung auf den Trauermarsch, um den herum die ganze Sonate komponiert ist. Neben dieser philologisch begründeten Neuerung gibt es aber auch eine interpretatorische: Gegenüber der Einspielung von 1985 geht Pollini den Trauermarsch wesentlich zügiger an.


    Die weitere Frage, die sich angesichts eines solchen Recitals stellt, ist die nach dem >Altersstil<. Hat sich Pollinis Klavierspiel mit den Jahren verändert? Man muß sagen: Ja! Es ist runder und flüssiger geworden, aber auch eindeutig kraftloser und weniger differenziert. Unvergeßlich eingeprägt hat sich mir eines seiner Konzerte im inzwischen längst abgerissenen Düsseldorfer Schumann-Saal, das ich als Jugendlicher von ihm erleben durfte. Wir saßen damals oben auf dem Podium. Pollinis Zugriff war dermaßen dynamisch und kraftstrotzend, daß der Lautstärkepegel die Schmerzschwelle streifte! Die 1999iger Aufnahme der 2. Ballade läßt diese aufrüttelnde Energie noch spüren. Eine riesige Dynamikspanne! Der mit unbändiger Kraft losbrechenden Sturmwind überfällt den Hörer gleichsam. Was mir da als eine Druckwelle aus den Lautsprechern entgegenkommt, wirft mich fast vom Stuhl! In der neuen Aufnahme dagegen mutiert dieser Sturm zu einem lauen Lüftchen. Pollinis Spiel heute erscheint entspannt und milde, in seiner Kraflosigkeit gleichsam körperlos.


    Das muß freilich kein Einwand sein. Claudio Arrau nahm mit fast 90 Jahren noch einmal die titanische h-moll Sonate von Liszt auf -- natürlich haben die Oktaven nicht mehr diese Wucht, die sie früher einmal bei ihm hatten, aber man vermißt den Oktavendonner auch nicht. Bei Pollini freilich ist ganz nüchtern feststellen: Der fehlende Körpereinsatz mag ja für altersweise Mäßigung sprechen, doch geht er eindeutig auf Kosten pianistischer Präzision. Führt man sich den Kopfsatz der Sonate mit dem Trauermarsch zu Gemüte, dann fällt auf, daß Pollini heute >schöner< und gefälliger spielt als früher. In der 23 Jahre früher entstandenen Einspielung klingt der Flügel im Forte und Fortissimo fast schon scharf, wobei man sagen muß, daß die Aufnahmetechnik hier die ungeheure Wucht seines Spiels, die man im Konzert von ihm damals erleben konnte, kaum wiedergibt. In diesem Satz werden wahrlich Naturgewalten entfesselt, die melodischen Reste regelrecht zertrümmert durch eine im Grunde menschenverachtende, sinnlose Gewalt. Hier ist der Pollini von heute nur noch ein müder Schatten seiner selbst. So harmlos und verwaschen, wie diese destruktiven Figuren bei ihm heute daherplätschern -- das ist eigentlich kaum zu glauben! Da werden die Abgründe, die sich bei Chopin auftun, zugeschüttet, die scharfen Ecken und Kanten der melodischen Trümmer rundgeschliffen und ihre explosive Kraft entschärft, das Beängstigende erhabener Naturgewalt ästhetisch verharmlost. Alles versinkt irgendwie in einem allzu pedalselig wässrigen Klangkontinuum. Details auszufeilen, scheint Pollini heute kaum mehr zu interessieren, es geht nur noch um den >großen Bogen<. Den lyrischen Auftakt der 2. Ballade nimmt er heute ähnlich flüssig wie vor 9 Jahren, doch die feinen rhythmischen Akzentuierungen, die dem Verlauf einstmals innere Bewegtheit verliehen, hat er heute zugunsten eines noch flüssigeren Weiterfließens der Bewegung eliminiert. Das Ende des Scherzos in der Sonate wirkt fast schon ein wenig lustlos -- keine Differenzierungen zwischen Piano und Pianissimo. Und die idyllische Episode zwischen dem Trauermarsch -- eine Fata Morgana unmöglichen Glücks -- spielt er heute betont einfach um nicht zu sagen: einfallslos. Was hat er da vor 23 Jahren noch für Tonschattierungen gegeben! Überhaupt klingt sein Klavierton damals voller und runder. Und der Trauermarsch: In der älteren Einspielung wählt er ein sehr gemächliches Tempo und baut eine große Steigerung vom Piano zum Fortissimo auf. Heute nimmt er ein deutlich zügigeres Tempo -- ähnlich wie sein Lehrer Benedetti Michelangeli. Das bekommt dem Trauermarsch merklich gut, der nun wirklich wie ein Marsch vorwärtsschreitet und deshalb um so beklemmender wirkt. Hier, wo es nicht mehr um Akkordpassagen im Presto geht, sondern gleichsam im Zeitlußentempo die Akkorde in den Flügel gestanzt werden, ist auf einmal -- wie in einem Wetterleuchten -- noch etwas von Pollinis einstiger Wucht und Verve zu spüren. Den berühmte Schlußsatz -- eine sinnlos vorbeihuschende Bewegung ohne Ziel und Zweck, Ausdruck existenzieller Ratlosigkeit --, nimmt er eine Idee langsamer als früher. Die Finger laufen also noch, wenn sich auch die einzelnen Töne der Tonfolge nicht mehr so deutlich herauslösen, im Pedalschwall doch ein wenig ertränkt werden.


    An dieser Stelle sei mir eine Zwischenüberlegung über die pianistische Technik erlaubt. Es gibt im Grunde zwei Ansätze: Da sind zum einen die >Fingertechniker<: Dazu gehören u.a. Walter Gieseking, Glenn Gould, Benedetti Michelangeli, Rubinstein, Horowitz oder Emil Gilels. Sie spielen nicht primär mit >Körpereinsatz<, der gewaltsam Druck auf die Tasten nur durch das Armgewicht verursacht. Glenn Gould hängt fast schon unter dem Klavier, sein Kopf auf der Höhe der Hände. Bei Benedetti Michelangeli fällt auf, daß seine Ellenbogen sich immer unterhalb der Höhe des Handgelenks befinden; die Arme hängen immer locker und sind nie muskulös angespannt. Emil Gilels setzt zwar sein Körpergewicht ein, aber so organisch, daß die Kraft auf die Fingerkuppen übertragen wird, die Arme >schieben< also keine überschüssige Kraft einfach in die Hände. Deshalb ist sein Spiel zwar ungeheur dynamisch, aber wird im extremen Forte nie tonlos und hart. Alle Fingetechniker bewahren ihre technische Präzision und Kraft bis in das hohe Alter. Die andere Gruppe sind die >Armtechniker<. Sie sitzen meistens sehr hoch am Klavier, der Ellenbogen fast immer über der Höhe des Handgelenks. Sie hämmern gleichsam von oben auf die Tasten, setzen ihr Gewicht also ein, Druck zu erzeugen, der aus den Fingern allein nicht zu entwickeln ist. Dieses Spiel ist sehr kraftaufwendig und allzu oft einfach gewaltsam (Gawrilows berüchtige Härte!) -- und im Alter ist diese Kraftanspannung des Körpers naturgemäß nicht mehr zu entwickeln. Deshalb bauen die Armtechniker im Alter merklich ab. Pollini sitzt heute sehr entspannt am Klavier, seine Präzision und sein dynamisches Differenzierungsvermögen lebte aber offenbar von dem extremen Kraftaufwand seines Spiels in jüngeren Jahren. Wo die ungeheure Kraft nun weg ist, über die er einmal im Überfluß gebieten konnte, schwindet schließlich auch die Präzision und Dynamik. Diese Entwicklung macht sich beispielsweise auf seiner letzten Beethoven-Aufnahme der Sonaten op. 2 leider allzu oft bemerkbar: Das ist einfach nicht mehr der alte Pollini!


    Aber es ist nicht nur diese technische Seite, die den Wandel seines Spiels erklären kann. Seine wirklich großartigen Aufnahmen der Polonaisen und der Preludes von Chopin zeigen ihn als ungemein feinsinnigen und auch hintersinnigen Interpreten. Heute verfließen bei ihm die Konturen, durch reichlichen Pedaleinsatz wird ein Klangkontinuum erzeugt, bei dem es auf Feinzeichnung und akribische Detailarbeit nicht mehr ankommt. Dahinter steht offenbar die Intention und Absicht, um keinen Preis den musikalischen Fluß ins Stocken geraten zu lassen. Pollini möchte Musik wie selbstverständlich klingen lassen, da wird alles vermieden, was irgendwie die Aufmerksamkeit von der Musik weg hin auf den Interpreten lenken könnte: Die Musik verliert so jegliche Anstößigkeit, ein gleichsam reibungsloses Musizieren, das durch nichts Besonderes, kein Übermaß mehr auffällt, in welcher Hinsicht auch immer -- sei es die Kraft, die dynamische Differenzierung, ein individuelles Rubato, geistsprühender Einfallsreichtum oder eine irgendwie pedantische Sorgfalt im Umgang auch mit vermeintlichen Nebensächlichkeiten. Pollinis Altersstil kultiviert Unauffälligkeit als die Tugend eines sich gleichsam selbst zurücknehmenden interpretatorischen Willens. Hier, in den kleineren Stücken, den Mazurken, Walzern und dem Impromptu, gerät dieser Ansatz zweifellos am überzeugendsten. Es gelingt ihm, eine getragende bis verhalten-düstere Stimmung zu entwickeln. Rubinsteins trägt die Mazurken trockener und konturenschärfer vor, Michelangeli deutlich feinsinniger und auch lyrisch-intimer. Die unendlichen Schattierungen, die ABM in seiner hypersensiblen Darstellung der Mazurka op. 33 Nr. 4 hervorbringt (diese Aufnahme bewundert Joachim Kaiser besonders!) läßt Pollinis unauffälliges Musizieren freilich verschwinden. Die Walzer gelingen Pollini eben deshalb sehr überzeugend, weil er sie nicht vordergründig brilliant spielt. >Grande valse brillante< -- steht über Chopins Walter op. 34 Nr. 2. Diese Bezeichnung spricht eigentlich der düsteren, ja fast schon lebensmüden Stimmung zu Beginn Hohn. Dinu Lipatti trifft diesen depressiven Ausdruck, läßt dann aber Düsternis aufhellend das Depressive in brilliant-extrovertierte Walzerseligkeit umkippen. Rubinstein beginnt alles andere als manisch-depressiv, fast schon ein wenig burschikos- unbekümmert, verfällt aber im weiteren Verlauf nicht in eine brilliante Salonetüde, sondern steigert den Ausdruck dramatisch, was auch seine Interpretation schließlich zu einem beeindruckenden Erlebnis werden läßt. Pollini erzeugt die düstere Stimmung zu Beginn und bleibt auch in den brillianten, tänzerischen Partien trefflich verhalten und introvertiert. An die betroffen machende Eindringlichkeit von Michelangelis Mitschnitt aus Bregenz von 1988 reicht Pollinis eher reservierter Vortrag freilich nicht heran. Bei ABM wird diese Musik zum radikalen, existentiellen Bekenntnis. Er spielt ein wahrlich subjektives Rubato, dehnt die Phrasen, so daß musikalische Zeit lang wird in einer Art quälerischer Agonie. Der Ausdruck todesverfallener Weltentrücktheit hält sich durch bis zum Ende -- das ist Chopin, heimgesucht von der Depression.


    Das Impromptus Nr. 2 beginnt im Stile einer Barcarolle, einer wiegenden Pendelbewegung, die sich zu einem rauschenden Klangfest steigert. Der Mittelteil besteht aus einem kräftig stampfenden Marsch, der sich gleichsam selber Lebensmut einzuflößen scheint, dann aber mit einer überaus kühnen harmonischen Rückung in nackte Verzweiflung abzugleiten droht, bevor das Klangfest auflebt als eine Art musikalisch-ästhetischer Consolation (>Tröstung< -- von Liszt gibt es einen Zyklus von kleinen Klavierstücken mit diesem Titel). Pollini beginnt wieder mit sehr viel Pedal, sehr ästhetisch-klangschön. Rubinstein spielt hier deutlich trockener und arbeitet damit die Pendelbewegungen letztlich charakteristischer heraus. Niemand jedoch spielt dieses Stück so existenziell aufwühlend, das drohende Abgleiten in die Verzweiflung so bestürzend heraus wie Claudio Arrau. Nur ihm gelingt es zudem, in der Pendelbewegung zu Beginn Struktur zu bringen, eine musikalisch aussagekräftige Phrase hörbar zu machen.


    Wer gleichsam in einem Brennspiegel sehen will, wohin Maurizio Pollinis musikalische Entwicklung führt, für den ist diese Platte unverzichtbar. Mich persönlich macht diese Art von Understatement ein wenig ratlos. Was ist von dieser pianistischen und interpretatorischen Unauffälligkeit zu halten? Wo liegt die >Tugend< dieser Altersgelassenheit, die mehr bedeutet als nur den Versuch, einen Mangel zu kompensieren und zu kultivieren zu einem Stil? Auch beim alten Arrau geht die pianistische >Wucht< verlorenen, wird nicht mehr so aufwühlend musiziert. Aber dafür gewinnt sein Spiel eine Form von klassischer Entspanntheit und beglückender Ausgewogenheit. Welche neue Dimension erreicht dagegen Pollinis Altersstil? Vor Pollinis Uneitelkeit, sich dem Hörer aufrichtig zu stellen durch den möglichen Selbstvergleich, das Grübeln über Gewolltes und Erzwungenes, über Tugend, Vermögen oder Unvermögen geradezu herauszuforden, kann man jedenfalls nur den Hut ziehen! Ich muß gestehen, daß ich angesichts seiner letzten Aufnahmen nicht so recht weiß, was ich denken soll. Wirklich überzeugt haben mich die >Nocturnes<. Für mich ein interpretatorischer Meilenstein, der diesen Klangstücken den falschen Schein der biedermeierlichen Idylle nimmt und ihre dramatische Bewegtheit wiedergibt, eine stets Unruhe verbreitende Spannung, die über den vermeintlich selbstgenügsamen, erfüllten Moment immer wieder hinausdrängt. Die Ballade als auch die Sonate dagegen hat er finde ich in früheren Zeiten wesentlich aufregender und aufrüttelnder vortragen können. Andererseits beglücken seine beiden letzten Wiener Aufnahmen mit Mozart-Konzerten, die er vom Klavier aus selbst dirigiert: Hier ist weder Kraftstrotzendes noch Extremes gefragt, sondern einfach natürliches und ehrliches Musizieren. Pollini at his best! :pfeif:


    Beste Grüße
    Holger

  • Zitat

    Original von Dr. Holger Kaletha
    ....Hier ist der Pollini von heute nur noch ein müder Schatten seiner selbst. So harmlos und verwaschen, wie diese destruktiven Figuren bei ihm heute daherplätschern -- das ist eigentlich kaum zu glauben! Da werden die Abgründe, die sich bei Chopin auftun, zugeschüttet, die scharfen Ecken und Kanten der melodischen Trümmer rundgeschliffen und ihre explosive Kraft entschärft, das Beängstigende erhabener Naturgewalt ästhetisch verharmlost. Alles versinkt irgendwie in einem allzu pedalselig wässrigen Klangkontinuum. Details auszufeilen, scheint Pollini heute kaum mehr zu interessieren, es geht nur noch um den >großen Bogen<.
    ...


    Lieber Holger,


    vielen Dank für diese eingehende Besprechung, ich bin mir sicher, dass sie im Pollini-Thread mehr Aufmerksamkeit bekommen hätte.
    Ich teile in vielerlei Hinsicht Deine Einschätzung, aber bei der Sonate stelle ich im ersten Satz doch fest, dass die neue Einspielung zwar nicht mehr so gewaltig sein mag wie die DG-Aufnahme aus den 80er-Jahren, aber ich finde sie - da mehr nach Innen gekehrt - viel eindrignlicher und keineswegs ärmer an Details. Nimm doch mal den Beginn, da gibt es diese kreisende, unruhige Figur in der linken Hand (ich habe die Noten nicht und kann das nur so beschreiben). Bei den meisten Interpreten ist das nur der Soundteppich, auf dem sich die vorwärtsdrängende Melodie der rechten Hand entfalten kann (so bspw. zuletzt bei Grimaud). Rubinstein hat in seiner Live-Aufnahme aus Moskau jedoch gezeigt (nicht in seiner viel glatteren Studio-Einspielung!), dass diese kreisende Bewegung von den Akzenten her durchaus mit der Melodie in der rechten Hand synchronisiert ist, und bei der Wiederholung spitzt er die Akzente sogar noch zu, was einen irrsinnigen Sog erzeugt! In Pollinis alter Einspielung spielt die linke Hand auch den bekannten Soundteppich, in der neuen Einspielung hingegen schafft er Akzente und bei der Wiederholung entscheidet er sich für ähnliche Akzente wie Rubinstein (aber nicht ganz so zugspitzt), das heißt dass die vorwärtsdrängende Melodie nun noch eindringlicher erklingt, da sie von den Akzenten der tiefern Stimme vorangetrieben wird. Um dies zu erreichen muss Pollini aber weder lauter noch schneller spielen, er stimmt die beiden Stimmen lediglich aufeinander ab - das kenne ich sonst von keiner einzigen anderen Aufnahme!
    Es gibt noch weitere Beispeile - wenn bspw. im ersten Satz sich die vorwärts drängende Melodie entlädt und gleichsam aufschreit, ist das jetzt nicht mehr so brutal wie früher, aber durchaus intensiver, da irgendwie nach Innen gewendet und auch etwas klarer abgesetzt. Ich weiß nicht wie Pollini das macht - und eben deshalb nötigt mir das größeren Respekt ab als die virtuosere ältere Aufnahme.
    Also, mir gefällt die neue Aufnahme auch der Sonate sehr gut und ich hoffe auf weitere Neuaufnahmen von Pollini!


    Beste Grüße,
    Christian

  • Zitat

    Original von Dr. Holger Kaletha


    An dieser Stelle sei mir eine Zwischenüberlegung über die pianistische Technik erlaubt. Es gibt im Grunde zwei Ansätze: Da sind zum einen die >Fingertechniker<: ...
    Die andere Gruppe sind die >Armtechniker<. Sie sitzen meistens sehr hoch am Klavier, der Ellenbogen fast immer über der Höhe des Handgelenks. Sie hämmern gleichsam von oben auf die Tasten, setzen ihr Gewicht also ein, Druck zu erzeugen, der aus den Fingern allein nicht zu entwickeln ist. Dieses Spiel ist sehr kraftaufwendig und allzu oft einfach gewaltsam (Gawrilows berüchtige Härte!) -- und im Alter ist diese Kraftanspannung des Körpers naturgemäß nicht mehr zu entwickeln. Deshalb bauen die Armtechniker im Alter merklich ab.


    Hallo Holger,


    zu dieser interessanten Theorie nur ein Einwand: Claudio Arrau war ja auch eher ein Armtechniker, jedenfalls kein Fingertechniker in deinem Sinn, sein Spiel war aber nie kraftaufwendig und "gewaltsam" wie das eines Gavrilovs, sondern er hat ja eher die Kraft des ganzen Körpers in die Arme fließen lassen und dadurch diesen unglaublich sonoren Arrau-Ton erzeugt. Und im Alter hat er nicht abgebaut, zumindest was den Klangreichtum seines Spiels betrifft, eher im Gegenteil (siehe bspw. seine späte Schubert- und Debussy-Aufnahmen). Diese Techniek wird recht ausführlich in CLAUDIO ARRAU - LEBEN MIT DER MUSIK (aufgezeichnet von Joseph Horowitz) beschrieben. Es gibt da also schon noch mehr Spielarten als die beiden von dir beschriebenen.


    Viele Grüße,
    Christian

  • Zitat

    Original von Christian B.


    Ich teile in vielerlei Hinsicht Deine Einschätzung, aber bei der Sonate stelle ich im ersten Satz doch fest, dass die neue Einspielung zwar nicht mehr so gewaltig sein mag wie die DG-Aufnahme aus den 80er-Jahren, aber ich finde sie - da mehr nach Innen gekehrt - viel eindrignlicher und keineswegs ärmer an Details. Nimm doch mal den Beginn, da gibt es diese kreisende, unruhige Figur in der linken Hand (ich habe die Noten nicht und kann das nur so beschreiben). Bei den meisten Interpreten ist das nur der Soundteppich, auf dem sich die vorwärtsdrängende Melodie der rechten Hand entfalten kann (so bspw. zuletzt bei Grimaud). Rubinstein hat in seiner Live-Aufnahme aus Moskau jedoch gezeigt (nicht in seiner viel glatteren Studio-Einspielung!), dass diese kreisende Bewegung von den Akzenten her durchaus mit der Melodie in der rechten Hand synchronisiert ist, und bei der Wiederholung spitzt er die Akzente sogar noch zu, was einen irrsinnigen Sog erzeugt! In Pollinis alter Einspielung spielt die linke Hand auch den bekannten Soundteppich, in der neuen Einspielung hingegen schafft er Akzente und bei der Wiederholung entscheidet er sich für ähnliche Akzente wie Rubinstein (aber nicht ganz so zugspitzt), das heißt dass die vorwärtsdrängende Melodie nun noch eindringlicher erklingt, da sie von den Akzenten der tiefern Stimme vorangetrieben wird. Um dies zu erreichen muss Pollini aber weder lauter noch schneller spielen, er stimmt die beiden Stimmen lediglich aufeinander ab - das kenne ich sonst von keiner einzigen anderen Aufnahme!
    Es gibt noch weitere Beispeile - wenn bspw. im ersten Satz sich die vorwärts drängende Melodie entlädt und gleichsam aufschreit, ist das jetzt nicht mehr so brutal wie früher, aber durchaus intensiver, da irgendwie nach Innen gewendet und auch etwas klarer abgesetzt. Ich weiß nicht wie Pollini das macht - und eben deshalb nötigt mir das größeren Respekt ab als die virtuosere ältere Aufnahme.
    Also, mir gefällt die neue Aufnahme auch der Sonate sehr gut und ich hoffe auf weitere Neuaufnahmen von Pollini!


    Lieber Christian,


    das sind sehr interessante Entdeckungen für mich, das werde ich mir auf Deine Anregung hin noch einmal zu Gemüte führen! Die Noten habe ich - lese beim Hören meist den Notentext mit! Die Rubinstein-Aufnahme aus Moskau finde ich ebenso unglaublich, da spürt man förmlich die Wut und den Trotz. Prokofieff hatte ja an Rubinstein geschrieben, Chopin sei im kommunistischen Rußland unerwünscht weil zu sentimental, passe nicht zur russischen Seele! Das ganze Konzert klingt so, als wolle er das endgültig widerlegen! Ähnlich beeindruckend ist ein Rubinstein-Mitschnitt aus den 70igern aus Lugano. Ich habe Pollini zwischenzeitlich im Konzert gehört mit Stockhausen und Schumann - sehr beeindruckend! Er spielt heute tendentiell mit sehr, sehr viel Pedal, erzeugt so ein durchgehendes Klangkontinuum. Manchmal ist das einfach für meinen Geschmack zuviel des Guten! Das Chopin-Nocturne op. 27 Nr. 2 als Zugabe im Konzert war schlicht hinreißend schön. Wenn man dann jedoch hinterher seine CD-Aufnahme mit Rubinstein vergleicht, dann ist Rubinstein eben doch in der Klangstaffelung bei wunderbar rundem Ton eindeutig klarer, zeichnet schärfer durch! Von Pollini mit der b-moll Sonate habe ich übrigens noch einen Rundfunkmitschnitt von den Salzburger Festspielen aus den 80igern - damals aus dem Radio auf Cassette mitgeschnitten! Ich arbeite seit längerem an einem historischen Interpretationsvergleich der b-moll-Sonate - mal sehen, wann ich das realisiere!


    Deine Bemerkung zu Arrau finde ich auch sehr treffend - er ist wohl so ein ähnlicher Fall wie Gilels, das Armgewicht >in die Finger< zu legen! Arrau weigerte sich beharrlich, Druck in den kleinen Finger der rechten Hand zu geben um die Melodiestimme zu betonen, wie man das im Klavierunterricht lernt, daher der bei ihm etwas >baßlastige< Klang. Die Seele der Musik lag für ihn in den Tiefen - das weiß ich von jemandem, der bei ihm Meisterkurse besucht hat! Die Arrau-Biographie steht noch auf meiner Wunschliste - es gibt sie aber leider nur noch antiquarisch! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Guten Abend!


    Das ist ein sehr interessanter und aufwendiger Beitrag - vielen Dank auch von mir!
    Nun habe ich mir noch nicht die Zeit genommen, die neuen und die alten Aufnahmen Pollinis zu vergleichen, bemerke allerdings auch einige der angesprochenen Punkte. Vielleicht wäre es an der Zeit, von Chopin nur noch (für Pollini) Neues einzuspielen. Genauso wünsche ich mir Schumann (Eric Le Sage hat, wenn auch mit Kammermusik angereichert, schon sechs Alben mit Schumann veröffentlicht), ich hätte so gerne die Kinderszenen mit M.P., und mehr Mozart, gerne auch Konzerte (noch lieber mit Dirigent! - ich denke an die Einspielung mit den Wienern unter Böhm), gerne Sonaten.
    Und vor allem: Bach! Wo bitte ist Pollini, wenn es um den "Ganz Großen" geht??? ;-)


    Sollte er bestimmte Werke physisch nicht mehr hinkriegen, bleiben doch schier endlos viele andere, die sich sicherlich (unterstelle ich als Fan pauschal) lohnen würden.


    Von Beethoven dürfte uns noch was ins Haus stehen, da bin ich recht sicher. Es bleibt also spannend.
    Beste Grüße
    Accuphan

    „In sanfter Extase“ - Richard Strauss (Alpensinfonie, Ziffer 135)

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  • Hallo Accuphan,


    das komplette "Wohltemperierte Klavier" hat Pollini im Konzert gespielt - aber eben wie so vieles andere aus seinem Repertoire nicht aufgenommen! Bei YouTube kann man einen Filmausschnitt sehen, wo er die 1o. von Liszts transzendentalen Etüden spielt. Ungemein kraftvoll und dramatisch! Umwerfend! :yes:


    Beste Grüße
    Holger

  • Zitat

    Original von Dr. Holger Kaletha
    Hallo Accuphan,


    das komplette "Wohltemperierte Klavier" hat Pollini im Konzert gespielt - aber eben wie so vieles andere aus seinem Repertoire nicht aufgenommen!


    Hallo zusammen,


    hierzu gibt es gute Neuigkeiten: im aktuellen DG-Katalog, der hier und da ausliegt oder auslag, ist eine Einspielung von WTK I mit Pollini angekündigt. Auf den DG-Websides ist dazu leider noch nichts zu finden. Vermute, dass die Aufnahme im Herbst erscheinen wird!


    Liebe Grüße,
    Christian

  • Zitat

    Original von Christian B.
    Ich teile in vielerlei Hinsicht Deine Einschätzung, aber bei der Sonate stelle ich im ersten Satz doch fest, dass die neue Einspielung zwar nicht mehr so gewaltig sein mag wie die DG-Aufnahme aus den 80er-Jahren, aber ich finde sie - da mehr nach Innen gekehrt - viel eindrignlicher und keineswegs ärmer an Details. Nimm doch mal den Beginn, da gibt es diese kreisende, unruhige Figur in der linken Hand (ich habe die Noten nicht und kann das nur so beschreiben). Bei den meisten Interpreten ist das nur der Soundteppich, auf dem sich die vorwärtsdrängende Melodie der rechten Hand entfalten kann (so bspw. zuletzt bei Grimaud). Rubinstein hat in seiner Live-Aufnahme aus Moskau jedoch gezeigt (nicht in seiner viel glatteren Studio-Einspielung!), dass diese kreisende Bewegung von den Akzenten her durchaus mit der Melodie in der rechten Hand synchronisiert ist, und bei der Wiederholung spitzt er die Akzente sogar noch zu, was einen irrsinnigen Sog erzeugt! In Pollinis alter Einspielung spielt die linke Hand auch den bekannten Soundteppich, in der neuen Einspielung hingegen schafft er Akzente und bei der Wiederholung entscheidet er sich für ähnliche Akzente wie Rubinstein (aber nicht ganz so zugspitzt), das heißt dass die vorwärtsdrängende Melodie nun noch eindringlicher erklingt, da sie von den Akzenten der tiefern Stimme vorangetrieben wird. Um dies zu erreichen muss Pollini aber weder lauter noch schneller spielen, er stimmt die beiden Stimmen lediglich aufeinander ab - das kenne ich sonst von keiner einzigen anderen Aufnahme!


    Lieber Christian,


    ich habe nun auf Deine Anregung hin noch einmal nachgehört. Erst einmal ist der Notentext hier sehr sprechend! Chopin hatte offenbar etwas gegen die Neigung der Interpreten, in der linken Hand zu akzentuieren. In Takt 11 steht für die linke Hand >simile< - er will es also gleichmäßig gespielt haben! Und in der Wiederholung der Passage im Forte Takt 26 erneuert er dieselbe Warnung: Wieder steht dort für die linke Hand >simile<!


    Wie machen es die Interpreten? Nach der Grave-Einleitung ist unter der ersten Oktave in der linken Hand Sforzato notiert! Das spielt keiner so, alle finden das offenbar zu klobig, Michelangeli oktaviert (spielt eine Oktave tiefer) um diesen Akzent hervorzuheben. In den folgenden 4 Takten, wo die Bewegung anrollt, notiert Chopin jeweils zwei mit kleinen Bögen durch Achtelpausen abgeteilte Achtelmotive. Das bewegt Rubinstein, Michelangeli und Gilels dazu, hier ein rhythmisches Pulsieren hervorzuheben, das sich in Takt 9 dann fortsetzt, obwohl dort gar keine kleinen Bögen mehr notiert sind, sondern ein großer Bogen, der über die durchgehenden 8 Achtel (4/4 Takt) hinweggeht, wo zudem dann >simile< gefordert ist. Sie machen es aber alle sehr dezent, so daß sich die Figur in der linken Hand nicht in den Vordergrund drängt und die Gleichmäßigkeit gewahrt bleibt. Grimaux ist in der Tat schwach, da bewegt sich nicht nur in der linken, sondern auch in der rechten Hand rein gar nichts! Ihre klaviertechnischen Schwächen sind auch nicht überhörbar!


    Ich weiß ja nun nicht, was Du für eine Anlage hast! :yes: Bei mir klingt Pollinis alte Aufnahme sehr pulsierend und dynamisch, auf jeden Fall mehr als die neue! Die scheint mir deutlich zäher, die abrupten dynamischen Kontraste, die Chopin notiert, die >scharfen Kanten< (Forte-Piano) werden eingeebnet. Was die Akzente in der Begleitfigur angeht, kann ich keine so großen Unterscheide feststellen. Vielleicht ist das auch eine Frage der Aufnahmetechnik und der Anlage. Und in der Forte Passage ab Takt 25 fällt auf, daß Pollini die aufregenden und aufwühlenden harmonischen Dissonanzen in der neuen Aufnahme viel weniger deutlich herausarbeitet als in der alten. Dadurch verliert diese Passage finde ich ihre Sprengkraft. Die Stelle ist auch technisch sehr anspruchsvoll, da klingt Pollini heute wie übrigens auch der alte Rubinstein 1971 nicht mehr ganz so souverän. Wie Michelangeli das hinbekommt, ist schon atemberaubend, selbst der große Emil Gilels kann da nicht ganz mithalten! Wie Gilels allerdings mit seinem angeborenen Sinn für klassische Formen die großen Phrasen des Hauptthemas herausarbeitet, das ist wiederum einmalig. U.a. deswegen zählt diese Aufnahme (Moskau 1961) mit zu meinen absoluten Favoriten neben Rubinstein und ABM. Die alte Pollini-Aufnahme ist für mich auch weiterhin >klassisch< - gehört zur Spitze!

    :hello:


    Beste Grüße
    Holger

  • Zitat

    Original von Dr. Holger Kaletha
    Erst einmal ist der Notentext hier sehr sprechend! Chopin hatte offenbar etwas gegen die Neigung der Interpreten, in der linken Hand zu akzentuieren. In Takt 11 steht für die linke Hand >simile< - er will es also gleichmäßig gespielt haben! Und in der Wiederholung der Passage im Forte Takt 26 wiederholt er dieselbe Warnung: Wieder steht dort für die linke Hand >simile<!


    Lieber Holger,
    wenn ich die Noten lesen kann (bin nicht so ein Profi wie du) ist in der Wiederholung der Passage im Forte ab Takt 26 doch zweierlei anders: zum einen fehlen in der linken Hand die großen Bögen, und zum anderen sind in der rechten Hand auf der jeweils zweiten Achtel Akzente notiert (">").


    Dieser Unterschied ist mir zum ersten Mal in der neuen Pollini-Aufnahme aufgefallen, dann habe ich mir andere Aufnahme angehört und erst bei Rubinstein konnte ich etwas ähnliches entdecken. Die neue Aufnahme klingt bei mir in der Tat etwas basslastiger und dunkler als die hellere Aufnahme aus den 80ern. Hinzukommt aber auch, dass Pollini in Takt 26 nur in der neuen Aufnahme eine minimale Verzögerung spielt, das hat mich vermutlich erst drauf aufmerksam gemacht. Mit anderen Worten: er spielt das in der 80er Aufnahme in der Tat ähnlich, aber diese Akzentuierung - die für mich aus den fehlenden großen Bögen und den Akzenten im Unterschied zu Takt 9 klar aus den Noten hervorgeht - ist mir erst in der neuen Aufnahme aufgefallen, eben weil Pollini hier nicht mehr so glatt durchspielt.


    Bei den meisten anderen Interpreten ist zwischen Takt 9 und 26ff kaum ein Unterschied, nur dass letzterer im Forte steht. (Nachtrag: Am deutlichsten hört man die Unterschiede übrigens in der Tat bei ABM, er spielt hier unglaublich genau - habe eine Aufnahme von 1959, BBC)


    Zitat

    Bei mir klingt Pollinis alte Aufnahme sehr pulsierend und dynamisch, auf jeden Fall mehr als die neue! Die scheint mir deutlich zäher, die abrupten dynamischen Kontraste, die Chopin notiert, die >scharfen Kanten< (Forte-Piano) werden eingeebnet.


    Damit meinst du vermutlich die Passage ab Takt 17ff.: wie gesagt finde ich hier die weniger plakative Gangart der neuen Aufnahme intensiver und ausdrucksstärker - vermutlich ist es genau diese verinnerlichte Umsetzung, die du als zäh wahrnimmst ;)


    Würde die jeweiligen Takte gerne hier reinkopieren, weiß aber leider nicht wie das geht!!!


    Viele Grüße,
    Christian

  • Zitat

    Original von Christian B.
    ist in der Wiederholung der Passage im Forte ab Takt 26 doch zweierlei anders: zum einen fehlen in der linken Hand die großen Bögen, und zum anderen sind in der rechten Hand auf der jeweils zweiten Achtel Akzente notiert (">").


    Dieser Unterschied ist mir zum ersten Mal in der neuen Pollini-Aufnahme aufgefallen, dann habe ich mir andere Aufnahme angehört und erst bei Rubinstein konnte ich etwas ähnliches entdecken. Die neue Aufnahme klingt bei mir in der Tat etwas basslastiger und dunkler als die hellere Aufnahme aus den 80ern. Hinzukommt aber auch, dass Pollini in Takt 26 nur in der neuen Aufnahme eine minimale Verzögerung spielt, das hat mich vermutlich erst drauf aufmerksam gemacht. Mit anderen Worten: er spielt das in der 80er Aufnahme in der Tat ähnlich, aber diese Akzentuierung - die für mich aus den fehlenden großen Bögen und den Akzenten im Unterschied zu Takt 9 klar aus den Noten hervorgeht - ist mir erst in der neuen Aufnahme aufgefallen, eben weil Pollini hier nicht mehr so glatt durchspielt.


    Bei den meisten anderen Interpreten ist zwischen Takt 9 und 26ff kaum ein Unterschied, nur dass letzterer im Forte steht. (Nachtrag: Am deutlichsten hört man die Unterschiede übrigens in der Tat bei ABM, er spielt hier unglaublich genau - habe eine Aufnahme von 1959, BBC)


    Lieber Christian,


    jetzt sind wir mitten in der Exegese des Notentextes! Deine letzte Beobachtung ist sehr treffend - das ist das Gebrechen fast aller Aufnahmen, daß diese dynamische Staffelung von Piano zu Forte Takt 9 und 26 ff. nicht beachtet wird! ABM ist da wirklich vorbildlich!


    Die Rechtfertigung für eine Akzentuierung gibt der Notentext Takt 26 ff. nicht her. Da steht eindeutig >simile< und es sind durchlaufende Achtel notiert - ob mit oder ohne Bogen, ist in diesem Falle egal! Der >Keil<-Akzent ist natürlich wichtig. Mir ist diese Passage bei Pollini - in der neuen Aufnahme - einfach zu wenig dramatisch. Sie ist ja eine Steigerung dieser destruktiven Rhythmen des Hauptthemas, die dann in der Durchführung nochmals verstärkt wird. Bei Pollini finde ich zu viel Kontinuität und zu wenig Diskontinuität. Innerlichkeit ist eigentlich beim Seitenthema gefragt (da ist wiederum ABM 1952 in Arezzo und 1959 in London unübertroffen). Beim Hauptthema finde ich das dagegen doch unpassend - ich empfinde Pollini auch eher ein wenig träge als verinnerlicht. Obwohl das ohne Zweifel eine seiner Stärken ist wenn er zu Hochform aufläuft, die ich z.B. an seiner Aufnahme der Chopin-Preludes überaus schätze. Die Nr. 2, wie er da ganz unplakativ und hintergründig schwermütig-expressiv ist, ohne plakativ Pathos aufzutragen. Großartig! Ich bin ja mit Pollini gewissermaßen groß geworden und schätze ihn sehr. Ich teile auch nicht das Unverständnis für diesen Spätstil von manchen Kritikern mit Namen. Er hatte immer zwei Vorbilder: Michelangeli und Rubinstein. Das organische Spiel von Rubinstein ohn jede Ekzentrik, dahin schlägt das Pendel in dieser Aufnahme aus! Ich sehe, ich muß an meinem Interpretationsvergleich feilen! Jedenfalls bin ich Dir für diese anregende Diskussion sehr dankbar!

    :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

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