Meine Lieben,
Obwohl von Spontinis bekanntester Oper "La Vestale" mehrere Aufnahmen erhältlich sind, und große Diven wie die Callas und andere mit einzelnen Arien daraus das Werk wieder bekanntgemacht haben, blieb und bleibt es in der allgemeinen Aufmerksamkeit doch eher an den Rand gedrängt. Dabei zählte es einst zu den populärsten Schöpfungen seiner Gattung. Daß Meyerbeer es bewunderte, erstaunt wohl nicht, eher schon, daß auch Richard Wagner es hochschätzte. Mit dem Ausklang der Romantik verschwand die Oper aber immer mehr aus dem allgemeinen Bewußtsein und wurde erst im 20.Jahrhundert wieder stärker beachtet. Die meisten Musikfreunde kennen es wohl nur vom Hörensagen oder aus Lexika, Überblickswerken u.dgl., allenfalls auch die berühmte Zugnummer "Toi que j'implore avec effroi" - die große Arie der Julia aus dem 2.Akt. Auch im Forum kennen es offenbar nur wenige Taminos, die es aber sehr zu mögen scheinen. Schauen wir also, ob wir der glimmenden Glut nicht ein wenig Feuer einhauchen können.
Der Komponist war Italiener, hatte sich aber in seinem Heimatland nicht recht durchsetzen können und war seit 1803 in Paris ansässig, wo er besseren Erfolg hatte und sich vor allem auch der Gunst Kaiserin Joséphines erfreuen durfte. Mit der 1807 in Paris dank allerhöchster Protektion uraufgeführten "Vestale" erlebte Spontini seinen endgültigen Durchbruch. Landläufig weist man der Oper eine Position zwischen Gluck und Meyerbeer zu, was sicher nicht falsch ist, aber wenig aussagt.
Die Erstaufführung in italiensicher Sprache erfolgte erst 1824 in Mailand.
Immerhin bleibt es bemerkenswert, daß ausgerechnet ein Italiener den französischen Geschmack offenbar so gut traf, daß man seine Schöpfung als durchaus französisch empfand. Das hängt natürlich mit der Empiremode, dem Klassizismus und den stilistisch entsprechenden Ambitionen Napoleons zusammen, die zudem in politischen Motiven wurzelten (notabene hatte L'Empereur, wie bekannt, eine Ader für das Sentimentale).
Wenn man sich anhört, wie Roger Norrington mit dem RTF-Orchester und einem hochklassigen Ensemble das Werk 1976 eingespielt hat, dann spürt man auch das Französische, die bei aller Beseeltheit klassische Form, die Klarheit und die fließende Disziplin, die lyrisch-leichte und dabei kunstvolle Virtuosität dieser Musik (die mich in manchem ein bißchen an Bellini erinnert). Michèle Le Bris bietet als Julia trotz einiger Schwankungen eine hochklassige Interpretation, die vor allem die lyrisch-seelenvollen Akzente betont, ohne sich je in Sentimentalität zu verlieren oder auf das Erhabene zu vergessen. Eine elegante, auf hoheitsvolle Legatoeffekte bedachte Auffassung, stilvoll bis in die Fingerspitzen sozusagen. Nadine Denize ergänzt als La Grande Vestale vorzüglich. Ähnlich noble Vornehmheit strahlt Jacques Mars als Grand Pontife aus, ebenso ist die Rolle des treuen Freundes Cinna mit Claude Méloni punktgenau besetzt. Robert Dumét als Licinius macht zwar nichts falsch, singt richtig und schön, nur mangelt es ihm ein wenig an Ausstrahlungskraft, seine gepflegten Töne erreichen zwar ab und zu schon die richtige Farbe, aber insgesamt wirkt er eine Spur zu passiv. Als Ensemble passen aber alle wirklich gut zusammen und bringen das anmutige Pathos blendend herüber.
Norringtons Dirigat ist dem vollendet angepaßt, klar und transparent, aber nie trocken, scheinbar mühelos und jedes Dröhnen klug vermeidend.
Besonders interessant ist diese Edition jedoch durch das Bonusmaterial. Drei Arien der Julia aus derselben Oper mit Maria Casula, wieder unter Norrington, aber ein Jahr später in Hilversum aufgenommen. Und dann klingt das Ganze plötzlich hochdramatisch, sodaß man fast schon Verdi zu ahnen vermeint. Plötzlich gibt es Kontraste, großes Pathos, mehr Pausen ("Toi que j'implore avec effroi" dauert jetzt 12.01 Minuten gegenüber 11.22 bei Le Bris). Ganz unfranzösisch, so richtig italienisch-temperamentvoll, Leidenschaft statt edlen Schmerzes - aber ich muß sagen, das überzeugt fast noch mehr.
In Spontini strecken für mich zwei geniale musikalische Seelen, eine italienische und eine französische, und das macht für mich einen ganz besonderen Reiz dieses Komponisten aus. Geht es nur mir so?
Norrington erfaßt beide Komponenten jeweils ganz ausgezeichnet, das finde ich mindestens ebenso bemerkenswert und sehr zum Vorteil dieses sonst oft etwas umstrittenen Dirigenten.
LG
Waldi