Verehrte Tamino-Gemeinde,
wenn es um die Sinfonien von Ludwig van Beethoven geht, dann ist stets von seinen neun Sinfonien die Rede. Mir liegt aber eine Einspielung des 1. Satzes seiner 10. Sinfonie vor, gespielt immerhin vom London Symphony unter Wyn Morris, aufgenommen am 8.September 1988.
Wie kam es dazu?
Im sehr ausführlichen Begleitheft, verfasst von Dr. Barry Cooper, der das Werk rekonstruiert hat, ist zu lesen: „Vor Beginn der achtziger Jahre hielt man Beethovens Zehnte Symphonie für eine Legende, viele Leute waren der Ansicht, daß das Werk, außer vielleicht in Beethovens Kopf, nie existiert hatte. Im Laufe der Zeit hatte sich eine Art Mythos darum gebildet, vergleichbar, sagen wir, mit dem Ungeheuer von Loch Ness oder dem sagenhaften Atlantis. ... Seitdem haben wissenschaftliche Untersuchungen von Sieghard Brandenburg und eine von mir selbst verfaßt, ohne Zweifel bewiesen, daß eine bedeutende Anzahl von Beethovens Tonskizzen aus den Jahren 1822-1825 für die zehnte Symphonie bestimmt waren.“
Beethoven schreibt noch in einem Briefe an Ignaz Moscheles am 18. März 1827: „ ... Eine ganze skizzirte Symphonie liegt in meinem Pulte...“
Weiter heißt es bei Cooper: „ Die Entdeckung dieser Tonskizzen hat es möglich gemacht, zum ersten Mal eine aufführbare Version zumindest des ersten Satzes, wenn nicht gar des ganzen Werkes, zusammenzustellen.“
Dieser erste Satz ist in der ABA-Form, einem einleitenden Andante folgt ein Allegro, dem sich die Reprise des Andante anschließt. Der Satz dauert etwas mehr als 19 Minuten. Gleich die ersten Takte sind sehr typisch für Beethoven, anknüpfend an das Thema im langsamen Satz seiner Klaviersonate op. 13.
Cooper betont, daß die melodische Linie für das Andante und die Reprise des Andante völlig vorhanden war und es für das Allegro drei größere Lücken zu füllen gab. „Es gab mehr als genug grundlegendes thematisches Material, um die verbleibenden Lücken durch Entwicklung, Extrapolation und Weiterführung des skizzierten Materials zu schließen.“
Nun werden sich Puristen natürlich mit Abscheu davon distanzieren wollen. Andererseits wird regelmäßig z.B. Mozarts Requiem aufgeführt, von dem große Teile ebenfalls gar nicht von Mozart stammen. Ich bin sehr froh, über diese Einspielung zu verfügen, die uns doch einen weitestgehend unbekannten Beethoven zeigt, dessen Handschrift aber in jedem Takt zu ahnen ist. Mich würde interessieren, wer diese Aufnahme kennt und wie eure Meinung ist, Pro oder Contra?
Herzliche Grüße
Manfred