Zwischen 1875 und 1915 komponierte Claude Debussy mehr als 80 Lieder: "mélodies" für Singstimme und Klavier, fast die Hälfte davon vor 1885. Einige seiner frühen Lieder waren Sängerinnen gewidmet (vielleicht auch als versteckte Liebeserklärungen), die er selbst am Klavier begleitete. Dichter, die den jungen Debussy anzogen, waren Alfred de Musset, Leconte de Lisle, André Girod, Vincent Hyspa und besonders Théodore de Banville und Paul Bourget. Die erste Veröffentlichung war Nuit d’étoiles; hier vermuteten Zeitgenossen Motive der zukünftigen Mélisande.
Als der Komponist 1882 die Dichtung Paul Verlaines entdeckt, findet er auch musikalisch zu seinem eigenen Stil, etwa in Mandoline. Es gibt insgesamt 19 Verlaine-Vertonungen, 12 in den Zyklen Ariettes oubliées (1887) und Fêtes galantes (1891 und 1904).
Charles Baudelaire begegnet Debussy 1887/89, einer Zeit, in der seine Begeisterung für Richard Wagner (ein eigenes spannendes Thema!) ihren Höhepunkt hat: Unter diesem Einfluß entstehen 1889 die Cinq poèmes de Baudelaire.
1892/93 entstehen die Proses lyriques, mit einer vom Komponisten selbst verfaßten rhythmischen Prosa.
Und 1904-10 die Trois Chansons de Bilitis, die Trois Chansons de France (Charles d’Orléans) und Promenoir des deux amants. Hier, wie auch in den Trois Ballades de François Villon (1911) emanzipiert sich der Klavierpart mehr und mehr von seiner dienenden Rolle als Begleitung und wird selbst zum "Dichter" und "Maler" von Reflexionen, Licht und Schatten, Landschaften und schafft um den Text herum eine eigene Atmosphäre: Es geht nicht mehr darum, die Textvorlage bloß zu vertonen, die musikalische Ausformung gewinnt zunehmend Bedeutung und Souveränität.
Als Höhepunkt und Hauptwerk könnten die Trois poèmes de Mallarmé (1913) angesehen werden, mit der Konzeption einer "mélodie", in der die klangliche Qualität der Worte als Elemente der musikalischen Komposition erscheinen. Debussy bewegt sich hier in Richtung Atonalität.
Debussys letztes Lied entstand 1915, während des I. Weltkriegs. Noël des entfants qui n’ont plus de maison (mit Text des Komponisten) beschwört das Elend der Kinder im Krieg und schlägt deutlich nationalistische Töne an.
Bis hierhin bin ich weitgehend einem Aufsatz von Jean Roy gefolgt, der im Booklet zu dieser schönen und empfehlenswerten Gesamteinspielung der Lieder Debussys enthalten ist:
Daß ich dieses Thema eröffne, liegt zum einen an meiner Begeisterung für den Komponisten, vor allem für seine Orchesterwerke, seine Oper Pelléas et Mélisande und seine Kammermusik. Mit Debussys Liedern bin ich bislang weniger vertraut und gerade erst dabei, mich auch für diesen Aspekt seines Werks zu erwärmen. Das ist für mich nicht einfach, da ich des Französischen nicht mächtig bin - gerade hier wäre das sicher eine wichtige Voraussetzung für ein angemessenes Verständnis.
Über Debussys Liedschaffen sind bislang einige wissenswerte und kluge Überlegungen in den Weiten des Tamino-Forums zerstreut. Ich fände es schade, wenn sie verlorengingen, und schlage vor, daß diejenigen, die in diesem Thema bereits aktiv waren, ihre Beiträge in diesen Thread einbringen.
Welche Erfahrungen habt Ihr mit Liedern Debussys?
Welche Interpreten schätzt Ihr?
Auch Korrekturen und Ergänzungen zu meiner Einführung sind willkommen. Besonders interessieren würden mich Informationen und Erläuterungen zu den Dichtern und deren Texte, die Debussy inspirierten. Offensichtlich war er bei der Auswahl recht anspruchsvoll, so daß dieser Aspekt ein besonderes Augenmerk verdient. Im Unterschied etwa zu Maurice Ravel vertonte Debussy ausschließlich französische Texte - Kenner/innen französischer Literatur mögen sich angesprochen fühlen.
Auch was musikalisch in Debussys Liedern geschieht, "wie es gemacht ist" - darüber mehr zu erfahren, fände ich schön.