Zusammen mit den Sinfonien Nr. 76 und 78 bildet Nr. 77 in B-dur einen Zyklus, der 1782 für eine geplante England-Reise Haydns komponiert wurde. Aus ungeklärten Gründen (Verbot des Dienstherrn?) kam dieser Ausflug nicht zustande, was in London durchaus ein gewisses Aufsehen erregte. Haydn hielt sich schadlos, indem er die Werke gleich an drei Verleger verkaufte. Er charakterisierte sie dabei als prächtige und nicht gar zu lange Sinfonien bestehend in 2 Violin, Viola, Basso, 2 Corni, 2 Oboe, 1 flauten, und 1 Fagott, aber alles sehr leicht, und nicht vil Concertierend, für die Herrn Engländer, welche ich selbst überbringen und alldort produciren wollte; da aber ein einziger Umstand solches verhinderte, so bin ich bereit diese 3 Sinfonien händen zu geben […] (Brief an den Pariser Verleger Charles-Georges Boyer vom 25.7.1783). Leicht, und nicht vil Concertirend (letzteres bezieht sich auf das Fehlen anspruchsvoller Soli insb. für die Holzbläser) sind die Werke, weil sie für Orchester komponiert wurden, deren Leistungskraft Haydn unbekannt war – so die gängige Interpretation. Mir scheinen die spieltechnischen Ansprüche aber keineswegs gering zu sein, wenn auch nicht so gesteigert wie teilweise später in den Pariser Sinfonien.
Die 77. Sinfonie ist m.E. ein besonders schönes, ausgeglichenes Werk. Walter Lessing befindet zur Stellung der Sinfonie unter ihren Schwesterwerken: „Unter dieser Trias gebührt die Krone zweifellos der B-dur-Sinfonie Nr. 77, einem Werk, das spielerische Eleganz und subtile kompositorische Ausarbeitung mit gleich hoher Inspiration in allen vier Sätzen verbindet.“
Der erste Satz, Vivace im 3/4-Takt, exponiert das graziöse, fließende Hauptthema in den ersten Violinen, während die zweiten Geigen eine zunächst unauffällige Begleitfigur in Achteln spielen, die gleich darauf aber eigenständige thematische Kontur gewinnt. Alle Motive des Hauptthemenkomplexes sind aus diesen Elementen abgeleitet. Durch eine mit Fermate verlängerte Pause setzt Haydn eine deutliche Zäsur zum Seitenthema: dieses ist einerseits deutlich mit dem Hauptthema verwandt (so dass sich der Ersthörer fragt, ob es sich um eine weitere Abspaltung handelt), andererseits im Charakter sehr verschieden: sanglich, harmonisch eingefärbt, stockend, weil von Pausen durchsetzt. Die beiden Hälften der Durchführung sind geradezu schulmäßig den zwei Themen gewidmet: Das Kopfmotiv des Hauptthemas erscheint zunächst harmonisch dramatisiert im imitatorischen Wechselspiel zwischen Geigen und Holzbläsern und wird sodann in eine dichte Engführung hineingetrieben. Das Seitenthema begeht in der zweiten Hälfte der Durchführung harmonische Seitenwege, wirkt fast ein wenig frühromantisch. Unmittelbar, in forschem B-dur und fortissimo setzt die Reprise ein, was aber auch den Effekt hat, dass das Hauptthema jetzt als Ableitung des Seitenthemas erscheint. Während der Hauptthemenkomplex verkürzt ist, lässt Haydn dem Seitenthema eine zweite Durchführung von immerhin gut 40 Takten angedeihen, bei der alle möglichen Finessen zur Anwendung kommen. Besonders auffällig die Verselbständigung der drei Viertelnoten des Themenschlusses, die zweimal eine unterschiedlich gelöste Steigerung erfahren. Insgesamt ein nicht spektakulärer, aber ungemein abwechslungsreicher Kopfsatz.
Ein besonderes Kleinod ist der zweite Satz, ein in F-dur stehendes Andante sostenuto (3/8-Takt). Klanglich wird er geprägt von den sordinierten Streichern, denen sich immer wieder die Holzbläser zu aparten Mischungen beigesellen. Das Hauptthema ist melodisch wunderschön, gleichzeitig zu allerlei thematischen Erweiterungen fähig. Ohne ein konkretes Vergleichsstück benennen zu können und ohne überhaupt einen „Einfluss“ zu postulieren, würde ich den Satz als ausgesprochen „mozartisch“ bezeichnen: in der ganzen Klanglichkeit, aber auch in manchen harmonischen Einfärbungen und Chromatismen. Obwohl das Stück quasi monothematisch ist (formal vage dreiteilig mit einem durchführungsartigen Mittelteil), gibt es nichts Repetitives, immer wieder überrascht Haydn mit neuen harmonischen Details und Klangverbindungen. Der Komponist greift den Serenadentonfall mancher Andantes der frühen Sinfonien wieder auf (worauf Lessing verweist) und überführt ihn in eine viel abwechslungsreichere, auch tiefere Klangsprache (man beachte die Mittelstimmen!).
Das Menuett ist recht kurz, steht aber ungewöhnlicherweise im Allegro-Tempo. Zusammen mit den Betonungen auf schwachen Taktteilen erzeugt das fast Scherzo-Charakter. Eine größere thematische Verarbeitung versagt sich Haydn – als einmal eine solche entsteht, wird sie rüde von einem Fortissimo-Ton der Bässe und Hörner abgebrochen. Sehr schön das charmante Trio.
Im Allegro-Finale (2/4-Takt; Haydn ergänzt die Tempovorschrift bei einer späteren Ausgabe zum Allegro spiritoso) gehört das Hauptthema einem Typus an, den Haydn in Finalsätzen häufig verwandt hat: schneller Zweiertakt, Auftaktigkeit, regelmäßige Periodisierung. Finscher stellt allein dreizehn solcher Themen in Sinfoniefinales Haydns zusammen. Es ist umstritten, ob es sich bei unserem Satz um ein „Sonatenrondo“ oder einen Sonatensatz handelt – wichtiger als eine Entscheidung ist wohl das Changieren zwischen den Formen. So wenig originell das Hauptthema ist, so verschieden erklingt es bereits in der Exposition, je nachdem, wie Haydn die Begleitstimmen arrangiert: in nachklappernden Achteln (tänzerisch), chromatisch eingefärbt, von Sechzehnteln „verflüssigt“. Besonders bemerkenswert die dramatische, polyphon verdichtete Durchführung, die dem Satz erhebliches Gewicht mitgibt.
Viele Grüße
Bernd