Joseph Haydn: Symphonie Nr. 26 d-moll »Lamentatione«
Entstanden 1768 für den Fürsten Esterhazy.
Drei Sätze:
1. Allegro assai con spirito (d-moll, 4/4, 133Takte)
2. Adagio (F-Dur, 2/4, 80 Takte)
3. Menuett (F-Dur/D-Dur, 3/4, 80 Takte)
Besetzung: 2 Oboen, 2 Hörner, Fagott, Streicher.
Die 1768 entstandene 26. Sinfonie ist eines der frühesten Exemplare der sogen. »Sturm und Drang«-Sinfonien. Der – nicht gesichert authentische – Beiname »Lamentatione« (hin und wieder findet man auch den Namen »Passio et Lamentatione«) geht auf den Umstand zurück, daß Haydn im Kopfsatz wie auch im Adagio auf Musik aus dem liturgischen Kontext zurückgreift: dem Adagio-Thema liegt eine gregorianische Choralmelodie zugrunde, während das Seitenthema des Kopfsatzes – so Michael Walter (S. 45) – den »Beginn einer vermutlich aus dem Mittelalter stammenden Markuspassion« zitiert, die in verschiedenen Klöstern in Österreich in Abschriften vorlag und zudem auch Anfang des 18. Jahrhunderts gedruckt worden war. Aus dem Umstand dieser Rückbindung an Musik aus dem Kontext der Passionsliturgien schließt nicht nur Walter, daß Haydn die 26. Sinfonie für die Verwendung/Aufführung in der Karwoche komponiert hat.
Diese Sinfonie – so mein Eindruck – gewinnt ihren besonderen Reiz aus dem inneren Spannungsverhältnis zwischen treibend-extrovertrierter Sturm-und-Drang-Ästhetik (die sich insbesondere im Hauptthema des Kopfsatzes Bahn bricht) und dem eher spirituell-kontemplativen, introvertierten Charakter der choralbasierten Passagen.
Zu den Sätzen
Der Kopfsatz hebt an mit einem bohrenden, von Synkopen bestimmten Hauptthema, im forte vorgetragen von VL. I+II und Oboen im Unisono, während Fagott, Bratschen, Celli und Bässe mit einer in akzentuierten Vierteln entschlossen voranschreitenden Figur begleiten. Ab T. 9 folgt eine viertaktige piano-Passage an die sich eine ebenfalls viertaktige Phrase im piano anschließt, deren Material aus dem Synkopenthema des Anfangs abgeleitet ist. Diese drei Passagen – achttaktiges Hauptthema + zwei je viertaktige Passagen – werden jeweils durch Viertelpausen voneinander getrennt. Durch dieses beinahe blockartige Hinter- oder Gegeneinanderschalten der Passagen erhalten diese 16 Eingangstakte der Sinfonie bereits eine ungeheurere Ausdrucksvielfalt und Dramatik. Nach einer weiteren Viertelpause setzt – ganz in der Logik des blockartigen Baus – ohne jede Überleitung das zweite Thema in F-Dur ein (ab T. 17) – eben die bereits oben erwähnte Passionsmelodie. Das Passionszitat (22 Takte!) bestimmt den gesamten zweiten Teil der Exposition. Bemerkenswert ist, daß die Violinenbegleitung in treibenden Sechzehnteln den drängenden Charakter des ersten Themas gewissermaßen unter die Choralmelodie schiebt. Eine kurze Schlußgruppe (T. 37-44) beendet die Reprise (für die eine Wiederholung vorgeschrieben ist).
Der zweite Teil des Satzes beginnt mit einer Art Durchführung, die mit dem Synkopenthema, nun nach F-Dur gewendet, anhebt. Dieses Thema bleibt auch für die Durchführung bestimmend, ergänzt durch die Sechzehntelfiguren, die man als Begleitfiguren des Choralthemas kennengelernt hat. Das Choralthema selbst wird nicht verarbeitet. In Takt 80 setzt mit der Präsentation des Synkopenthemas in der Grundtonart d-moll eine Art Reprise ein. Auch die beiden viertaktigen Pianopassagen folgen, wie aus der Exposition bekannt. Allerdings folgt dann nicht wie in der Exposition das Choralthema, sondern es wird eine weitere viertaktige Pianopassage mit aufsteigenden Dreiklangsmotiven der 1. Oboe eingeschoben. Die Passage endet nach einem aufsteigenden d-moll Dreiklang auf einem unisono-A des Orchesters im piano. Nach einer Generalpause von drei Viertelschlägen setzt unvermittelt das Passionschoralthema im forte ein und zwar in strahlendem D-Dur (Takt 100) – ein glänzender Klangeffekt! Auch hier bleibt wie schon in der Exposition der Passionschoral für den Rest dieses Satzteils bestimmend. Der Satz schließt mit einer kurzen Schlußgruppe in D-Dur.
Das in F-Dur stehende Adagio hat einen deutlich kontemplativen Charakter. Der zweiteilige Satz (T. 1-36 und 37-80; für beide Teile sind Wiederholungen vorgeschrieben) ist monothematisch, ausschließlich von der eingangs erwähnten Melodie des gregorianischen Chorals bestimmt. Bedeutung erhält außerdem nur eine markante Begleitfigur der Violinen in Sechzehnteltriolen. Der erste Teil hebt an mit der Vorstellung des getragenen Choralthemas, vorgetragen von den Oboen (piano) in gebundenen Vierteln (T. 1-16). Es folgt eine Passage in der die 1. Violinen ein Motiv von Sechzehnteltriolen vorstellen und weiterspinnen (T. 17-23), über dem sich ab Takt 24 wieder der Choral erhebt. Diese Neben- und Übereinander von Sechzehteltriolenmotiv und Choralthema bestimmt auch den zweiten Teil des Satzes. Der zweite Teil beginnt mit einer Art knappen Durchführung (T. 37-58 ), wobei hier das Material der Streichertriolen den Satz voranzutreiben scheint, während sich der Choral zitathaft über der Streicherbewegung erhebt (T. 46-48, 50-52). Mit Takt 58 setzt eine Reprise ein, die insofern von der Themenvorstellung im ersten Teil des Satzes abweicht, als hier die Hörner das Choralthema verstärken und zudem die Sechzehnteltriolenbewegung der Streicherbegleitung präsent bleibt.
Daß diese Sinfonie, die auf einen deutlich liturgisch-sakralen Kontext verweist, mit einem Menuet endet, scheint etwas seltsam. Walter ist der Meinung, daß weder die komplexen Strukturprinzipien der ersten beiden Sätze aufgegriffen würde, noch ihr Charakter eine Fortsetzung fände und vermutet daher, daß pragmatische Gründe Haydn dazu veranlaßt hätten, die Sinfonie auf diese Weise zu beschließen. Nun bin ich kein Musikwissenschaftler und weit davon entfernt, mit Herrn Walter in einen Disput eintreten zu können oder zu wollen – allein: er scheint mir falsch zu liegen. Ich habe den Eindruck, daß Haydn sehr wohl weiß, Strukturaspekte der ersten beiden Sätze als auch ihren Charakter in das Menuet zu übersetzen. Das beginnt schon mit dem seltsamen Verschleiern der Grundtonart zu Beginn des Menuets: es beginnt im piano undeutlich zwischen F-Dur und d-moll changierend, geht dann über g-moll nach d-moll und schließt in Takt 8 in A-Dur. Nach vier Viertelpausen setzt die Musik neu an (T. 9, 3. Schlag), jetzt im forte und in entschiedenstem F-Dur. Der modulationsreiche zweite Teil des Menuets (T. 20-48 ) führt die Tonartenverwirrung weiter und wartet mit einigen scharfen und durchaus markant-betonten Dissonanzen auf (T. 40-41), bevor die Musik wieder nach F-Dur findet. Das dann einsetzte Trio (T. 48-80) steht in D-Dur, wobei der unvermittelte F-Dur/D-Dur-Schnitt durchaus den Klangeffekt aus der Reprise des Kopfsatzes in Erinnerung zu rufen vermag. Die Akkordschläge des Trios wirken auf mich dann auch keineswegs »banal«, wie Walter schreibt, sondern scheinen mir hinsichtlich der gehaltlichen Anlage der gesamten Sinfonie eher sehr stimmig zu sein.
Insgesamt hat dieses Menuet, so mein Eindruck, mit einem galant-tänzerischen Satz wenig mehr als den Namen gemein, sondern zeichnet sich eher durch einen widerborstigen Gestus aus (man achte nur auf die »banalen« D-Dur-Akkorde im forte [T. 50, 56, 64,70, 76], die stets auf dem 3. Schlag, also auf einem leichtem Taktteil erfolgen) und fügt sich eigentlich in den Gesamtcharakter der Sinfonie schlüssig ein.
Einspielungen
So, man hat vielleicht gemerkt, daß ich diese Sinfonie sehr gern mag – sie gehört tatsächlich zu meinen liebsten Haydn-Sinfonien. Kennengelernt habe das Werkchen Mitte der 1990er Jahre in einer Einspielung mit dem Kammerorchester »Carl Phillip Emanuel Bach« unter der Leitung von Hartmut Haenchen. Inzwischen besitze ich fünf Einspielungen, die sich hinsichtlich des jeweils präsenten Ansatzes zum Teil auf schon beinahe exorbitante Weise unterschieden. Es sind diese:
Frans Brüggen, Orchestra of the Age of Enlightenment
Adam Fischer, Austro-Hungarian Haydn Orchestra
Hartmut Haenchen, Kammerorchester »Carl Phillip Emanuel Bach«
Christopher Hogwood, The Academy of Ancient Music
Derek Solomons, L'Estro Armonico
Die Unterschiede werden bereits an den Spielzeiten deutlich (die immensen Zeitabweichungen ergeben sich dabei vornehmlich nicht aus gespielten resp. weggelassenen Wiederholungsvorschriften):
Brüggen 4:57 / 5:50 / 5:13
Fischer 3:53 / 5:20 / 3:53
Haenchen 4:12 / 4:37 / 3:35
Hogwood 3:55 / 8:27 / 5:40
Solomons 3:54 / 7:06 / 5:04
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Die rundum gelungenste Interpretation bietet für meinen Geschmack Haenchen. Der macht alles richtig (läßt sämtliche vorgeschriebenen Wiederholungen ausführen; nur beim da capo den Menuets werden keine Wiederholungen gespielt), ist im Kopfsatz nicht zu eilig, so daß die Synkopen als Synkopen und nicht als ruhende Töne wahrgenommen werden; er nimmt das Adagio ziemlich zügig (ist bei ihm eher ein Andante), erreicht damit aber, daß die Choralmelodie als wirklich sanglich erscheint und gewinnt dem Menuet Ecken und Kanten sowie einen grimmigen Elan ab, der die Schlüssigkeit dieses Finalsatzes mehr als deutlich macht. Das Kammerorchester »Carl Phillip Emanuel Bach« spielt ja bekanntlich auf modernen Instrumenten, das Klangbild ist aber straff und transparent, fast ein wenig geschärft; da wird ordentlich markant phrasiert und der feinen (gänzlich unprätentiösen) Agogik Haenchens perfekt gefolgt.
Fischer, der zweite nicht-HIPpe im Bunde, macht hier seine Sache eigentlich sehr gut. Im Kopfsatz ist er etwas zu schnell unterwegs für den großen Orchesterapparat, da wirkt manches etwas wischi-waschi. Dafür ist der Sturm-und-Drang hier ordentlich und ganz schön mitreißend ausgespielt – allein wie er den Einstieg ins Synkopenthema angeht und die Streicher zum Abschluß des Themas mit einem Schrubben einrasten läßt. Großartig! Das Adagio spielt Fischer deutlich langsamer als Haenchen, verschleppt aber nichts. Der Satz wirkt nach dem fulminant-expressiven Kopfsatz, den Fischer hingelegt hat, allerdings vergleichsweise unterspielt, erhält kein rechtes Gewicht. Das Menuet spielt Fischer überaus kontrastreich, nimmt den Satz aber für meinen Geschmack etwas zu ländlerisch-derb. Die Klangqualität ist erstaunlich gut. Ich finde die Fischer-Aufnahmen ja oft leider etwas mulmig – davon ist hier (aufgenommen Juni 2000) nichts zu hören. Alles ist klar, transparent und klingt überaus präsent, manchmal gar etwas schroff (was mir sehr gut gefällt).
Bei den HIPstern bin ich diesmal sehr unschlüssig. So richtig rundum überzeugen will mich keine der Aufnahmen. Hogwood spielt im Feld aller fünf Aufnahmen den besten Kopfsatz: herrlich treibend und stürmisch drängend wie Fischer, dabei aber akkurater und noch einen Tick zwingender. Das ist schon ganz, ganz groß! Aber dann... Das Adagio ist bei Hogwood ein ganz-echt-richtig-authentisches Adagio – aber wer soll denn diese Choralmelodie jemals gesungen haben ohne dabei an eine Pressluftlunge angeschlossen gewesen zu sein? Das ist einfach auf’s schrecklichste zerdehnt und laaaaaaangweilig. Selbes gilt für das völlig unterspielte Menuet, dessen Untiefen und Ausdrucksmöglichkeiten von Hogwood nichtmals im Ansatz ausgelotet werden. Das is nix! Schade um den grandiosen Kopfsatz...
Bei Brüggen ist das genau umgekehrt. Er unterspielt den Kopfsatz auf fast schon erschütternde Weise: Das hat keinen Zug, da drängt nichts, das Synkopenthema klingt fast schwerfällig, das Choralthema lethargisch - von allegro assai keine Spur und con spirito ist das erst recht nicht. Dafür versteht Brüggen es, dem Adagio einen wirklich spirituellen Charakter einzuhauchen und dem liturgischen Rahmen eine beinahe sinnliche Präsenz zu verleihen. Das Menuet fällt wieder ab, ist konturlos rutergespielt und wirkt nach dem grandiosen Mittelsatz ziemlich deplaziert und tatsächlich banal.
Solomons Interpertation ist so eine Sache für sich und sie sticht im Vergleich seltsam heraus. Der Kopfsatz ist rasender und scharfkantigster Sturm-und-Drang. Deutlich sperriger und schroffer wirkt hier die Musik als in den ähnlich treibend gespielten Interpretationen von Fischer oder Hogwood. Das affiziert schon ordentlich! Das Adagio nimmt Solomon dann zwar recht langsam, verschleppt aber bei weitem nicht so wie Hogwood und vermag durchaus Innenspannung zu erzeugen. Da merkt man, daß die Stopuhr eben nicht alles ist: trotz des im Vergleich mit Fischer oder Brüggen deutlich langsamer gewählten Grundtempos, wirkt die Musik keineswegs verschleppter oder breiter. Enttäuschend ist allerdings das Menuet, das ziemlich gestelzt und – etwa bei den Akkordschlägen im Trio – effekthascherisch wirkt. Insgesamt eine überaus interessante Aufnahme, die in jedem Fall polarisieren wird. Das liegt nicht zuletzt auch an dem etwas eigenwilligen und durchaus harschen Klangbild von L'Estro Armonico. Ich mag diese Einspielung schon recht gern, kann mir aber durchaus vorstellen, daß dieser Zugriff, bei dem Haydn durchaus die eine oder andere Blessur davonträgt, nicht jedermanns Geschmack ist.
Empfehlen würde ich ganz klar Haenchen und auch Fischer, Solomon bietet ergänzend eine andere, hochinteressante Perspektive. Hogwood und Brüggen punkten in einzelnen Sätzen, können (mich) aber mit ihrer Lesart der Sinfonie in toto nicht überzeugen.
Viele Grüße,
Medard