Meisterwerk im Pech - Chabriers LE ROI MALGRE LUI

  • Wie schon viel zu lange in dem Thread Ein impressionistischer Komet - Emmanuel Chabrier 1841 - 1894 versprochen, eröffne ich nun endlich den Thread zu Emmanuel Chabriers meisterhafter Opéra Comique LE ROI MALGRÉ LUI (KÖNIG WIDER WILLEN). Ich werde ihn auch jetzt nur stückweise vorantreiben können, aber das soll niemanden entmutigen, jederzeit Kommentare einzubringen, Fragen zu stellen etc.


    Ich beginne mit einem Zitat von Edwin Baumgartner aus dem o. g. Thread, das sehr schön zusammenfasst, warum diese aus noch zu erläuternden Gründen leider viel zu unbekannte Oper einer intensiven Beschäftigung wert ist:



    Natürlich kann ich hier nur jeden Satz unterschreiben, und deshalb habe ich das Zitat auch so ausführlich hierher übernommen und den letzten Satz fett gesetzt. Ich hoffe, dass Edwin Euch jetzt wieder einmal den Mund richtig wässrig gemacht hat.


    Die ausführliche Inhaltsangabe, die ich gestern hier eingestellt habe, erlaubt es mir, in meinem ersten Beitrag etwas später oder morgen direkt den historischen Hintergrund anzugehen. Inzwischen empfiehlt es sich für alle Interessenten, den o. g. Thread über Chabrier und den Opernführer (noch einmal) durchzulesen, denn deren Kenntnis setze ich als bekannt voraus.


    :hello: Jacques Rideamus

  • Nachdem ich in Wer steckt hinter...........? die viel veroperten Familienmitglieder seines Umfelds aus der Dynastie der Valois vorgestellt habe, nun etwas mehr über den Helden dieser Oper, Henri de Valois, selbst, und spezifisch die kuriose, aber dennoch historische Episode seines Kurzkönigtums in Polen, das er nach nur wenigen Monaten aufgab, um für seinen sehr jung verstorbenen Bruder Charles IX die französische Krone anzunehmen und dort als Henri III zu regieren.


    Der sehr muntere und intelligente Henri wurde 1551 als dritter Sohn von Henri II und Katharina de Medici geboren, hatte normalerweise also wenig Chancen auf eine Krone, was ihm eine relativ unbeschwerte Jugend verschaffte, zumal er auch der Lieblingssohn seiner Vaters war. Da dieser aber noch relativ jung bei einem Turnierunglück umkam, geriet er nur zu bald unter die Fittiche seiner machtbewussten Mutter, die nicht nur ihre beiden Töchter, sondern erst recht ihre drei Söhne für ihre politischen Ambitionen einsetzte. Zu denen gehörte für die papsttreue Italienerin selbstverständlich auch die Bewahrung des katholischen Glaubens gegen die immer mächtiger werdenden Protestanten, die sie ungeachtet des Schreckens der von ihr womöglich angeordneten, mindestens aber aktiv tolerierten Bartholomäusnacht keineswegs vernichten konnte, sondern nur bis auf's Blut reizte. Die nach dieser grausamen Schlachterei immer wieder aufflammenden Religionskriege sollten die Regierungszeiten ihrer drei Söhne bestimmen, die faktisch ihre eigene war. Erst als Henri III einem sehr frühen Wunsch seines Vaters nachgab und nicht nur die Heirat seiner Schwester Marguerite mit dem nachmaligen König Henri IV erlaubte, sondern diesem auch die Thronfolge zusprach, da er kinderlos (weil nach hartnäckigen Gerüchten homosexuell) geblieben war, fanden die Religionskriege ein allmähliches Ende. Henri selbst fand dagegen ein jähes, denn er wurde von einem als Assassin trainierten Kapuzinermönch ermordet.


    Aber noch stand er in der Blüte seiner Jugend, als der polnische König Sigismund von Polen und Litauen kinderlos starb und ein Wahlkönigtum ausgerufen wurde, um das sich der russsiche Zar Iwan (der Schreckliche), der Erzherzog von Österreich und auf Betreiben der großmachtsüchtigen Katharina von Medici, die von einer Einkesselung der rivalisierenden Österreicher träumte, auch deren Sohn Henri de Valois bewarben, der allerdings wenig Lust zeigte, in einem fernen Königreich zu regieren. Nach dem Motto, dass das am weitesten entfernte Übel wohl das kleinste sein müsse, wählte der polnische Adel Henri. Das war seinen beiden Rivalen natürlich überhaupt nicht recht, und sie unterstützten eifrig Verschwörer in Polen, die den jungen Franzosen aus dem Weg schaffen sollten.


    So ließ es sich tatsächlich nicht vermeiden, dass Henri unter dem Schutz der Geheimhaltung nach Krakau reiste, wo er 1574 eintraf und als Henryk Walezy (Valois) zum König gekrönt wurde. Diese Zeit der Geheimhaltung wurde von den Autoren, die die Vorlagen zu Chabriers Libretto lieferten, fantasievoll aufgegriffen. Die im Libretto angesprochene kurze Zeit in Venedig hatte Henri übrigens auch zugebracht, allerdings erst auf der Reise von Polen zurück nach Frankreich, und wohl kaum mit einer polnischen Adeligen, wenn man seine vermutlich gleichgeschlechtlichen Neigungen berücksichtigt.


    Auch die Flucht aus Polen, welche im Libretto unmittelbar vor Henris Krönung verlegt wurde, hat eine Wurzel in der historischen Realität. Henri war nämlich von einem geheimen Boten vom Tod seines Bruders informiert worden und wollte nach Frankreich zurück um sein Thronerbe anzutreten, das ihm von manchen dort streitig gemacht wurde, was vielleicht den Umweg über Venedig erklärt. Als die Polen dies mitbekamen, reiste ihm eine Delegation nach, fing ihn vor der Grenze ab und bedrängte ihn, in Polen zu bleiben. So musste Henri, im Gegensatz zu der Darstellung des Librettos, nicht etwa versprechen, nicht mehr nach Polen zurück zu kehren, sondern genau das Gegenteil - ein Versprechen, das er natürlich nicht zu halten gedachte und auch nie einhielt.


    Nachdem er zwei Jahre davon geblieben war, wählten sich die Polen den Ungarn Stefan Barthory als neuen König, so dass Henryk Walezy formal zwei Jahre, tatsächlich aber nur für drei Monate in Polen regierte. In Frankreich wurde er aber auch nie mehr richtig glücklich, denn er überlebte seine nach wie vor dominierende Mutter nur um ein halbes Jahr und wurde im August 1589 von dem bereits erwähnten, mörderischen Mönch um sein mit 38 Jahren selbst damals eher kurzes, aber höchst farbiges Leben gebracht.


    Bemerkenswert ist übrigens, dass die Librettisten von Giuseppe Verdis erster und bis zum FALSTAFF einziger Komödie UN GIORNO DI REGNO (auch bekannt als IL FINTO STANISLAO) eine sehr ähnliche Geschichte erzählen. Diese spielt allerdings 50 Jahre später zur Zeit Ludwigs XIV, der damals ebenfalls einen polnischen König unterstützte, nämlich Stanislaus I. Leszcynski, der sich in Paris aufhielt und sich von einem befreundeten Adeligen vertreten ließ, damit er inkognito nach Polen zurück reisen und dort bereits zum dritten Mal König werden konnte. Vier Monate später wurde er jedoch, wie schon zwei mal zuvor, von einer Koalition aus Österreichern, Russen und Kursachsen abgesetzt. Statt seiner wurde der Kurfürst von Sachsen, der nachmalige "Große Kurfürst" August, zum König in Polen ernannt, was schließlich zu Preussens Gloria führte. Aber das ist eine andere Geschichte.


    Wie es scheint, sind die Regierungszeiten von Königen, die ihr Amt inkognito antreten mussten, eher in Monaten als in Jahren zu messen. Dafür überleben sie in bemerkenswerten komischen Opern, denn auch Verdis viel geschmähte Oper, die kaum populärer ist als die Chabriers, verdient die nachhaltige Missachtung keineswegs, die ihr aus Gründen der zu dem Zeitpunkt tragisch verlaufenden Biografie Verdis zuteil blieb.


    Die Gründe für die mangelnde Popularität der Oper Chabriers sind allerdings ganz andere. Dazu in Kürze mehr.


    :hello: Jacques Rideamus

  • Im April 1886 war die Uraufführung von Chabriers wagnerisierender Oper GWENDOLINE am Brüsseler Theatre de la Monnaie ein rauschender Erfolg gewesen. Das konnte aber nicht verhindern, dass der Intendant des Theaters bereits nach der zweiten Aufführung Konkurs anmelden musste. Chabrier fühlte sich jedoch bestätigt und suchte nach einem neuen Opernstoff. Diesmal sollte es wieder eine Komödie sein, denn diese Gattung lag Chabrier sehr am Herzen und hatte sich schon zehn Jahre zuvor mit seiner Operette L'Etoile für ihn bewährt.


    Ein Freund machte ihn auf eine 1836 uraufgeführte Komödie mit Musik (damals ein Vaudeville genannt) von Marguerite-Louise Virginie Ancelot (1792–1875) aufmerksam. Diese war die Frau des Dramatikers Jacques-Francois Ancelot (1794-1854), dessen berühmtestes Drama MARIA PADILLA ihm eine Mitgliedschaft in der Academie Francaise eingetragen, und der auch die Vorlage zu Bellinis I PURITANI geliefert hatte. Der Titel dieses Vaudevilles, an dem beide mitgewirkt hatten, lautete bereits LE ROI MALGRÉ LUI. Heute ist dieses Stück wohl nur noch in verstaubenden französischen Archiven zu finden.


    Chabrier war von dem Thema begeistert und beauftragte die Librettisten Emile de Najac und Paul Burani mit der Erarbeitung eines Librettos, für das er sich auch die Einführung eines komischen Figur wünschte. Das Ergebnis war die schillernde Gestalt des Venezianers Frittoli, dessen zwielichtige Rolle allerdings im Text weit weniger komisch geriet als Chabriers Musik nahe legt. Chabrier ließ sich die einzelnen Teile schicken, kaum dass sie fertig waren, und las sie sich laut vor, damit er Ton und Rhythmus der Texte erfasste, denn wie die Mehrzahl der großen französischen Komponisten legte er großen Wert auf eine starke Affinität zwischen Text und Musik. Er war jedoch nicht sehr glücklich mit dem Ergebnis und nahm viele Veränderungen vor, bei denen ihm auch sein Freund Jean Richepin wertvolle Hilfe leistete.


    Leider übersahen beide über den vielen Änderungen im Detail (oder knnten nichts mehr dagegen tun), dass die Verwechslungskomödie eine miserable Dramaturgie aufwies, und zahlreiche Kritiker, unter ihnen Vincent d'Indy, der mit Chabrier befreundet war und seine Musik bewunderte, bemängelten, dass nicht nur die Beteiligten, sondern auch das Publikum sehr bald nicht mehr wusste, wer in diesem verwirrenden Verwechslungsspiel gerade wer sein sollte oder wo versteckt war, und wer jeweils was davon wusste. Entsrpechend schwer fiel mir auch ein halbwegs nachvollziehbarer Überblick in der Synopsis meines Opernführers. Zudem pendelt das Stück unschlüssig zwischen mehreren Hauptpersonen, und man weiß nie so richtig, mit welchem Helden man gerade sympathisieren soll, denn selbst die zwielichtige Alexina wird von Chabrier mit einer so hinreißenden Musik ausgestattet, dass sie als Partnerin Henris und neben den vermeintlichen Zentralgestalten Nangis und Minka als vierte Sympathieträgerin gelten muss.


    Nichtsdestoweniger wurde die Uraufführung an der Opéra comique am 18. Mai 1887 dank Chabriers mitreißender Musik ein rauschender Erfolg, von dem allerdings die Librettisten ausgenommen waren, denn im Gegensatz zu den Interpreten und Chabrier wurden sie bereits bei der Uraufführung mit einem Buhkonzert empfangen. Nach der dritten Vorstellung aber brannte die Oper ab, und ein weiteres Mal war ein Meisterwerk Chabriers ein Opfer katastrophaler Umstände geworden. Daran änderten weder eine stark gekürzte (und wohl auch billigere) Inszenierung am Theatre lyrique ein halbes Jahr später noch mehrere erfolgreiche Aufführungen in Deutschland nichts, die der deutschen Erstaufführung in Dresden im April 1888 folgten.


    Zur Aufführungsgeschichte des Werkes, das schon seit dem Brand der Opéra comique ähnlich wie Offenbachs LES CONTES D'HOFFMANN unter einem Unstern zu stehen schien, später mehr. Wie sehr schon die damalige Fachwelt das Werk schätzte, lässt sich am besten in der Reaktion von Eric Satie bemessen, der ungeachtet der Brandkatastrophe und der Vernichtung des Opernhauses nur bedauerte, dass er nicht mehr in der Lage sein würde, Chabriers Meisterwerk zu hören.


    Zur späteren Aufführungsgeschichte mehr im Anschluss an die Schilderung des bedeutendsten Aspektes dieser Oper, nämlich ihrer Musik.


    (Fast alle wesentlichen Informationen für diese Darstellung und auch andere Teile des Threads verdanke ich neben diversen Internet-Quellen wie Wikipedia der vorbildlichen Einführung von Harry Halbreich im Textheft der oben gezeigten Einspielung von Charles Dutoit)


    :hello: Jacques Rideamus