Bach, der mich vom Stuhl reisst

  • Ich bitte euch um Hilfe!


    Ich suche nach Interpreten von Bach, die mich vom Stuhl reißen. Und finde so gut wie nie etwas.


    Entweder mehr oder minder mechanisch herunter geleiert oder wie gerade eben gehört fast schon dissharmonisch klingend. Wo ist der gute Bach?


    Mir ist klar, das Bach als Organist ein Genie war, an den seitdem vermutlich seitdem nie wieder jemand auch nur annähernd herangekommen ist. Mir ist klar, dass Bach an seine groß angelegten Kompositionen mit seiner ganzen Hingabe, Liebe und Technik ging. Mag sein, das die eine oder andere Kantate, die er im Zuge der Leipziger Zyklen aufführen musste, nicht gerade ein Meisterwerk ist.


    Doch was ich von den bekannteren Bach Interpreten meistens höre, ist schlichtweg langweilig. Nichts, was mich vom Stuhl reißen würde. Doch genau danach suche ich.


    Beispielsweise habe ich gerade probehalber in eine neuere Aufnahme von Helmut Rilling mit der Gächinger Kantorei rein gehört und es überkam mich die große Langeweile. Gerade höre ich in die h-moll Messe von Hengelbrock rein. Sie reisst mich zwar nicht vom Stuhl, doch es ist die Feinheit der Interpretation, die mich aufhorchen lässt. Zugleich kommt sie mir jedoch zu gekünstelt vor. Auch einige Aufnahmen von Herreweghe lassen mich aufhorchen. Es kann doch nicht sein, dass es keinen einzigen Interpreten gibt, der Bach überzeugend spielt.


    Mit gut meine ich nicht die Technik. Mit gut meine ich auch nicht die Instrumentierung. Mir ist es völlig egal, ob etwas auf Original Instrumenten oder auf modernen Instrumenten gespielt wird. Es muss mich einfach vom Stuhl reißen. Es muss mehr rüber kommen als Töne. Es muss Atmosphäre rüber kommen.


    Liebe oder Harmonie, aufrichtiger Glaube oder auch Zweifel, irgendwas halt. Oder schlichtweg die totale Freude an der Musik, die Freude und der Jubel zum Preise Gottes.


    Ich werde nie eine Aufführung des Weihnachtsoratoriums mit dem Tölzer Knabenchor vergessen, die ich mit organisiert hatte in der Münchner Markus Kirche. Trotz des eher drittklassigen Orchesters traten mir die Freudentränen in die Augen. Da schwang soviel Freude mit, da kam ein solcher Glaube rüber, es war unbeschreiblich. Direkt danach war ich in der Musikhochschule eingeladen, um das Weihnachtsoratoriums in einer Aufführung von Arnold Mehl mit einem Augsburger Profichor zu hören. Das Orchester war um Klassen besser, die jungen Solisten zum Teil ganz ausgezeichnet, doch insbesondere die Chor Passagen wirkten leer. Da kam einfach nichts rüber. Es war lediglich gut ein trainiert, technisch perfekt aber ohne jede innere Bewegung. Mechanisch eben.


    Letzte Woche war ich zum ersten Mal in Rom und nach einer Besichtigung des vatikanischen Museums mit der sixtinischen Kapelle, die mich zum Staunen brachte und einige Betrachter mit offenem Mund stehen ließ, ein Foto vom großen staunen habe ich auf http://www.podere-carbone.de/Rom.html veröffentlicht (wenn Ihr Euch das vierte Foto von oben anseht, begreift Ihr vielleicht, wonach ich suche), war ich auf dem Petersplatz und anschließend im Petersdom. Der Platz und der Dom strahlen einen Frieden und eine Herzlichkeit aus, die ich gerade an diesem Platz für nicht möglich gehalten hätte. Erinnerte ich mich doch nur zu gut an die Renaissancepäpste und die Machenschaften, mit denen man den Bau des Petersdom finanziert hatte. Umso überraschter war ich von der Atmosphäre dieses Platzes und erst recht im Inneren des Petersdoms. Am Liebsten wäre ich dort geblieben.


    Es gibt auch Musik, gerade die Musik von Bach, die davon etwas mittragen. Aber es gibt nur sehr wenige Musiker, die Musik mit Ihrem Herzen verstehen und interpretieren. Deshalb meine Bitte an euch, gebt mir ein paar Tipps für Musiker, die Musik mit dem Herzen spielen.

  • ich glaube dieses spezielle Gefühl kann man gar nicht auf CD bannen.
    Das kenne ich auch nur von echten Aufführungen.


    Es ist eben wie mit dem Essen, CD's sind eben Konserven, da ist ein Besuch im Restaurant schon was anderes.
    (in meinem speziellen Falle, kann ich aber nur auf CD's zurückgreife, weil das was mich interessiert hierzulande nicht gespielt wird)



    Aber Die Interpreten die mich bei Bach bisher am meisten angesprochen haben war Herreweghe und Ton Koopman bei der geistlichen Musik


    und bei den beiden berühmten Sammlungen (Brandenburgische Konzerte und Orchestersuiten)
    einmal das Concerto italiano mit Alessandrini. Oder sogar noch besser das Café Zimmerman - die CD's bekommst Du bei Alpha.
    Das hat mich auch wieder mitgerissen.


    Besonders angetan hat es mir auch die Einspielung der Orchestersuiten mit dem Brandenburg Consort und Goodman.


    Bleiben noch die Gouldbergvariationen :D

  • Zitat

    Original von Gerhard
    Ich bitte euch um Hilfe!


    Ich suche nach Interpreten von Bach, die mich vom Stuhl reißen. Und finde so gut wie nie etwas.


    Entweder mehr oder minder mechanisch herunter geleiert oder wie gerade eben gehört fast schon dissharmonisch klingend. Wo ist der gute Bach?


    Seltsam, ich kenne viele Einspielungen, die mich vom Stuhl reißen. Aber ich hab noch niemand mit dem Herz spielen sehen, immer nur mit Instrumenten oder Stimmen. Sorry für den Kalauer, aber mir scheint dieses "Herz"-Argument ein büschen zu allgemein. Vielleicht solltest Du Deine Erwartungen ändern, wenn sich die Aufnahmelandschaft sich nicht Deinen Ansprüchen als gnädig erweist? Vielleicht sind Dir professionelle Musiker per se suspekt? Weil die womöglich "buchstabieren"? Vielleicht tragen Dich zu viele Vorurteile? Und vor allem, wie kriege ich denn mit, dass da Atmosphäre herrscht? Und wie kann ich sie zwingen zu bleiben? Fragen über Fragen ... :D


    :hello:

  • Lieber Gerhard, es freut mich, dass du so unerschütterlich weiter nach "Deinem" Bach suchst! Allerdings fürchte ich, dass wir Dir hier nur zum Teil weiterhelfen können. Einen Teil der Empfehlungen des Lullisten zum Beispiel teile ich nämlich, bei anderen würde ich persönlich wiederum eher widersprechen, und da liegt schon die Crux: wat dem een sin uul, is dem anderen sin nachtigall!


    Einiges was dem einen beseelt und innig erscheint, langweilt den Nächsten zu Tode; anderes, was einigen lebhaft und lebendig erscheint, ist für den anderen verhetzt und gerast.


    Zum Teil liegt es auch an den Stücken selbst: Einige erschließen sich mir nicht bei dem ersten Hören, manchmal kommt der Gänsehautfaktor erst später, in einigen Fällen hat er sich bis jetzt gar nicht eingestellt. Und da wird es sicher nicht nur mir so gehen.


    Mein Rat würde daher lauten: Nicht aufgeben und einfach weiter probieren. Ich würde mich durchaus auch an den im Forum genannten Empfehlungen entlang hangeln (persönlich halte ich vieles davon nämlich auch sehr gut :D), aber bitte nicht traurig sein, wenn die vielgelobte Einspielung Dich eben nicht vom Stuhl reißt.


    Grade die h-moll-Messe zum Beispiel empfinde ich selbst als problematisch; Ihre Größe kann ich nicht leugnen, aber eine innige Liebe zu ihr hege ich nicht gerade (beim Weihnachtsoratorium übrigens auch... :untertauch:).


    Dagegen ist das Magnificat einer meiner Favoriten; und die "kleinen" Messen waren für mich eine große Entdeckung.


    Bei den Orchesterwerken würde ich zum Beispiel die Empfehlung des Concerto Italiano mit den Brandenburgischen unterstreichen, die ich wiederum besser finde als das Cafe Zimmermann (da fängt's schon wieder an mit der Subjektivität!).


    Ich persönlich freu mich auch schon wieder auf den anrückenden Advent; da kommt bei mir nämlich die Kantate BWV 62 mit dem Herrn Gardiner in die Anlage. Die Einspielung halte ich nicht mal für optimal in allen Aspekten, aber wenn ich die Einleitung des Eingangschors "Nun komm der Heiden Heiland" höre, dann ist das für mich ein Gänsehautmoment (vor allem wenn der Cantus firmus einsetzt). (Mir ist auch Prinz Charles viel sympathischer, seit er sich dieses Stück für seine Hochzeit mit seiner langjährigen Jugendliebe wünschte - der Mann hat Geschmack :stumm:)


    Also nicht den Mut verlieren und weiterhören! Und weiter in Konzerte gehen - manchmal kann man den Funken, der live überspringt, doch hinüberretten ins heimische Wohnzimmer.


    Viele Grüße
    Kerstin

  • <<Mit gut meine ich nicht die Technik. Mit gut meine ich auch nicht die Instrumentierung. Mir ist es völlig egal, ob etwas auf Original Instrumenten oder auf modernen Instrumenten gespielt wird. Es muss mich einfach vom Stuhl reißen. Es muss mehr rüber kommen als Töne. Es muss Atmosphäre rüber kommen.>>


    Dann suchst Du also den persönlichen Kick, das gewisse Etwas. Mit CD-Tips werden wir Dir kaum helfen können. Ich kann mich zwar einfühlen, weil ich den gleichen "Kick" suche wie Du, und mir dabei letzten Endes auch gleichgültig ist, ob HIP oder nicht, aber die subjektive Einschätzung ist doch von Person zu Person viel zu verschieden, um garantierte Empfehlungen aussprechen zu können.


    Bei den Orchesterwerken bevorzuge ich moderne Einspielungen auf authentischen Instrumenten wie Cafe Zimmermann oder die Einspielungen von Amadine Beyer mit Gli Incogniti. Aber ich höre auch zB Zehetmair oder Hahn bei den VK.

    Bei den Kantaten bevorzuge ich die solitische Besetzung, vorzugsweise Rifkin, bei den großen Chorwerken auch Herreweghe, Koopman, gelegentlich Gardiner. Ab und an bin ich aber auch in der Stimmung für romantisierende Interpretationen, dann höre ich Richter oder auch Ristenpart.

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Lieber Gerhard, unter den genannten Umständen kann man Dir eigentlich nur empfehlen, in soviel Live-Konzerte wie möglich zu gehen.


    Mich haben bisher nur wenige Dinge aus der Konserve "vom Stuhl gerissen"- eher dzann, wenn ich ein Werk noch nciht kannte und plötzlich davon überrollt wurde wie von einer Urgewalt.
    Aber bei Dir schon gut bekannten Werken den Funken so richtig überspringen zu lassen, dazu gehört m.E. in diesem Fall dann wahrscheinlich eine aufgeheizte Live-Atmosphäre mit möglcihst engagierten Künstlern. Das kann sogar eine Amateuraufführung in Hintertupfingen manschmal eher leisten als das bestmögliche Alte Musik Ensemble.
    Ein Live-Erlebnis ist für mich ohnehin durch nichts zu ersetzen.


    Wo es dich auch vom Stuhl reissen könnte: wenn Du plötzlich selbst irgendetwas von Bach spielen oder singen würdest.
    Das geht oft noch ganz anders unter die Haut als das Zuhören.
    Und es spielt keine Rolle, wie gut oder schlecht das Ergebnis dann ist.


    Kennst Du das Buch von Maarten t'Haart "Bach und ich"?
    Den hat's vom Hocker gerissen und er kann dir vieleleciht erkl¨zrne, warum und wie. eine Cd mit seinen "Vomhockerreissinterpretationen" ist auch bei dem Buch.
    Mich rissen sie eher weniger, aber das heisst gar nichts.


    Viel Erfolg bei Deiner Suche!


    Fairy Queen, die von Bach auch immer wieder rauf- und runtergerissen wird.

  • Liebe Fairy Queen ,


    lieber Gerhard !


    Mir geht es fast so wie Dir Fairy Queen : Ein Livekonzert ( oder auch Opernabend ) ist nur in wenigen Ausnahmefällen durch eine LP oder CD zu ersetzen .


    Und Aufnahmen , die einen , jeden falls mich , immer neu "vom Stuhle reissen " gibt es gerade bei J S Bach viele .


    Beispielhaft seinen aufleistet :


    Partiten für Klavier solo : Weissenberg ; Zhu Xiao Mei , Richard Goode


    Sonaten und Partiten für Violine solo : Szeryng & Milstein


    Goldberg-Variationen : Weissenberg ( 1967 & 1982 ; EMI ; Goulsd ( Salzburg ) , Maria Yudina ( "Great Pianist of the Century" ) , Wanda Landowska ( EMI ) ; Gustav leonhardt besonders die letzte Aufnahme )


    WTK I , II : Samuil Feinberg & S. Richter .


    Dann die h - Moll - Messe mit C M Giulini oder Klemperer .


    Die Cellosonaten : Casals , Tortelier , Fournier


    Konzert für zwei Violinen und Streichorchester m i t
    David und Ogor Oistrach , DGG , 1961 , London .


    - Eine Aufnahme von einzigartiger Eindringlichkeit ! Für die stillen , nachdenklichen Momente unseres Lebens ! -


    Bachs "Chromatische Fantasie ud Fuge , BW 903 " .


    Die Liste könnte ich beliebig mit herausragenden Aifnahmen verlängern , was mir in diesr Leichtigkeit bei anderen Komponisten nicht immer leicht fiele !


    Viel Freude beim Hören !


    Grüsse ,


    Frank

    Frank Georg Bechyna
    Musik & Medizin

  • Die offensichtlichste Empfehlung - Glenn Gould - ist dir wahrscheinlich zu wenig, oder?
    Bisher hat mich jede seiner Bachaufnahmen "vom Stuhl gerissen". Jedenfalls wäre hier die Beschreibung, dass mehr als Töne rüberkommt, mehr als passend.
    Ansonsten kann ich beim WTK noch S. Richter empfehlen. Weissenberg ist auch immer eine gute Wahl, und als Geiger für Barockmusik mag ich Szeryng sehr gerne!


    Ich sehe gerade, meine Vorlieben decken sich sehr mit denen von Frank.

    "Das Große an der Musik von Richard Strauss ist, daß sie ein Argument darstellt und untermauert, das über alle Dogmen der Kunst - alle Fragen von Stil und Geschmack und Idiom -, über alle nichtigen, unfruchtbaren Voreingenommenheiten des Chronisten hinausgeht.Sie bietet uns das Beispiel eines Menschen, der seine eigene Zeit bereichert, indem er keiner angehört." - Glenn Gould

  • Zitat

    Original von rappy
    Jedenfalls wäre hier die Beschreibung, dass mehr als Töne rüberkommt, mehr als passend.


    Eine Antwort, die mich herzlich zum Lachen brachte.


    Natürlich kenne ich die Einspielungen von Glenn Gould seit vielen Jahren, doch Bach auf Klavier ist nicht ganz unproblematisch.


    Ich hatte gestern nach langer Abstinenz mal wieder ins Usenet gesehen, besonders in die lossless Newsgroups und mir einiges heruntergezogen. Das brachte mich auch zu meiner Frage. Es gab einige sehr interessante Einspielungen darunter, doch eben nichts, was mich vom Stuhl reißt.


    Zum Beispiel eine Einspielung von Ivo Pogorelisch in einer Transcription von Scriabin. Klingt wirklich interessant, aber man muss schon dazu sagen, dass es sich um eine Bach Aufnahme handeln soll, denn von alleine käme man nicht auf die Idee, das Pogorelisch Bach spielt.


    Obwohl es in Heidelberg nicht ganz einfach ist, die empfohlenen Einspielungen zu kaufen beziehungsweise vorher hinein zu hören werde ich sicherlich den einen oder anderen Tipp mal ausprobieren.


    Besonders bei der Vokalmusik Bachs ist es ohnehin nicht so ganz einfach, weil der Dirigent drei völlig verschiedene Interpreten Gruppen unter einen Hut bringen muss. Nur bei wenigen Ensembles wird der Chor vom selben Dirigenten vorbereitet. Dazukommen dann noch die Solisten, die durchaus ihre eigenen Vorstellungen mitbringen.


    Um auf die gestern Nacht gehörte Einspielung der h-moll Messe von Hengelbrock zurückzukommen, schwächelte sie insbesondere bei den Sopranarien, die einfach nur herunter gesungen wurden. Ansonsten merkt man der Aufnahme deutlich an, das Hengelbrock aus der Opern Welt kommt des und gerne auch mal dramatisiert. Dann höre ich mir doch zehnmal lieber alte Aufnahmen von Karl Richter an.


    Die zudem noch den Vorteil haben, dass ich sie als Schallplatten besitze, die in meinen Ohren einfach besser klingen als die CDs. Doch bezog sich meine Frage nicht auf Einspielungen, die älter als 20 Jahre sind, sondern auf neuere Einspielungen.


    Natürlich kann keine Konserve die Atmosphäre eines echten Konzerts mit rüber bringen. Es gibt zum Beispiel von Karl Richter eine Aufnahme eines Konzert Mitschnitts in Japan, die trotz der zwingend vorhandenen kleinen Fehler eines life Konzerts sehr viel mehr Atmosphäre tragen, als die Aufnahmen, die im Herkules Saal der Residenz entstanden sind. Wenn ein Chor zwanzigmal dieselbe Passage singen muss tritt zwingend eine gewisse Ermüdung ein. Die technische Perfektion wird besser, doch darunter leidet die Innigkeit.


    Solange ich in München lebte, hatte ich keine Probleme mit life Konzerten, zumal ich zu vielen Konzerten als Ehrengast geladen wurde. Sitzt man mittendrin, kennt man zwar die eigene Region, doch vom Rest der Welt hat man nicht allzu viel Ahnung. Aufgewachsen bin ich zum Beispiel in der Pfalz mit vielen Schulfreunden, die später die elterlichen Weingüter erbten. Auf die Art kannte ich zwar die pfälzischen Weine so gut, dass ich oft sogar den Jahrgang heraus schmecken konnte, doch erst der Abstand dazu, als ich in München lebte ließ mich auch Weine anderer Regionen kennen lernen.


    Im Raum Heidelberg Mannheim gibt es leider nur selten Aufführungen, die es wert sind, eine Karte zu erwerben und sich die Zeit zu nehmen. Dass Amateure nur selten besser sind als Profis, habe ich in meiner Münchner Zeit oft genug erfahren. Ich erinnere mich dunkel an eine Aufführung von Haydns Schöpfung, die ich bereits nach einer halben Stunde verließ, weil sie mir in den Ohren weh tat. Gute Musik verlangt auch nach der Technik, um sie überhaupt spielen zu können. Doch mit der Technik macht man noch lange keine gute Musik. Gute Musik ist eben wesentlich mehr als nur Technik. Wenn es nur die Technik wäre, und wir den Streit um HIP oder HOP einmal beiseite legen, dann hätte Karajan nur perfekte Musik gemacht. Wobei das Wort Perfektion auf ihn durchaus zutrifft, doch das alleine macht keine Musik.


    Nachdem ich gestern Nacht meine Frage in dieses Forum gestellt habe, hatte ich mir nochmal die Bilder angesehen, die ich von der sixtinischen Kapelle und vom vatikanischen Museum gemacht hatte. Ich erwarte von einem Bachinterpreten nicht unbedingt, die sixtinische Kapelle als Musik zu bringen. Ich erwarte jedoch zumindestens, dass er die Atmosphäre der sixtinischen Kapelle begreift und vermittelt. Das war natürlich ein übertragenes Beispiel, aber vielleicht versteht Ihr, was ich meine.


    Um bei diesem Beispiel zu bleiben, in Reiseführern und diversen Bildbänden werden akkurat die Decken Gemälde Michelangelos beziehungsweise das Jüngste Gericht dargestellt, jedoch völlig herausgelöst aus dem Gesamtzusammenhang des Kunstwerks. Der fehlende Zusammenhang macht diese Abbildungen steril. Und genau das ist es, was mich bei vielen Einspielungen einfach stört. Sie wirken steril.


    Wie anders ist es, selbst mit störenden Ordnern und hunderten von Menschen um sich herum in der sixtinischen Kapelle zu stehen und sich beeindrucken zu lassen. Die sattsam bekannten Gemälde vor sich zu sehen, doch diesmal nicht herausgelöst, sondern im Zusammenhang einer Schöpfung, die man erlebt haben muss um sie zu begreifen.

  • Zitat

    Original von Gerhard


    Obwohl es in Heidelberg nicht ganz einfach ist, die empfohlenen Einspielungen zu kaufen beziehungsweise vorher hinein zu hören


    Na zwei gute Adressen für klassische Musik gibt es in Heidelberg aber alle Mal: Entweder bei Hochstein oder bei Crazy Diamond. Und in die CD`s hereinzuhören ist eigentlich auch kein Problem- zumindest hatte ich weder da noch dort damit bisher Probleme. Persönlich ist mir Crazy Diamond ein wenig lieber- die Atmosphäre ist angenehmer und die Preise in der Regel etwas niedriger.


    Herzliche Grüße,:hello: :hello:



    Christian

    Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen! (Cato der Ältere)

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Banner Interviebanner 1 Gelbe Rose
  • Zitat

    Original von Gerhard
    Letzte Woche war ich zum ersten Mal in Rom und nach einer Besichtigung des vatikanischen Museums mit der sixtinischen Kapelle, die mich zum Staunen brachte und einige Betrachter mit offenem Mund stehen ließ, ein Foto vom großen staunen habe ich auf http://www.podere-carbone.de/Rom.html veröffentlicht (wenn Ihr Euch das vierte Foto von oben anseht, begreift Ihr vielleicht, wonach ich suche),


    Er Schuft, er soll doch nicht in der Sixtina fotographieren, hat er die zermürbenden Lautsprecheransagen nicht gehört...?


    :D ;)

  • Zitat

    Original von Gerhard


    Eine Antwort, die mich herzlich zum Lachen brachte.


    Natürlich kenne ich die Einspielungen von Glenn Gould seit vielen Jahren, doch Bach auf Klavier ist nicht ganz unproblematisch.


    Weiter oben hast du geschrieben:


    Zitat

    Mir ist es völlig egal, ob etwas auf Original Instrumenten oder auf modernen Instrumenten gespielt wird. Es muss mich einfach vom Stuhl reißen.


    Was denn nun?

    "Das Große an der Musik von Richard Strauss ist, daß sie ein Argument darstellt und untermauert, das über alle Dogmen der Kunst - alle Fragen von Stil und Geschmack und Idiom -, über alle nichtigen, unfruchtbaren Voreingenommenheiten des Chronisten hinausgeht.Sie bietet uns das Beispiel eines Menschen, der seine eigene Zeit bereichert, indem er keiner angehört." - Glenn Gould


  • Es ist nicht ganz unproblematisch, ihn vom Hocker zu reißen...


    :hello:

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Du hast recht, es ist nicht ganz einfach, mich von Hocker zu reissen. Dazu kenne ich inzwischen einfach zu viel.


    Vor vielen Jahren hatte ich mit Lionel Rogg einige Konzerte veranstaltet. Als ich ihn an der kleinen Orgel in der Markus Kirche hörte, die kleine Orgel, die man eigens für Karl Richter gebaut und auf eine Empore des Seitenschiffs montiert hatte, da riss es mich vom Stuhl.


    Obwohl ich glaubte, seine Interpretationen Bachs in und auswendig zu kennen. Doch was er dort spielte, war etwas vollkommen Neues.


    Wenn man etwas zum hundertsten Male gehört hat, kann es einem einfach nicht mehr vom Stuhl reißen. Auch die beste Konserve kann das nicht erreichen. Das schafft entweder eine neue Konserve oder die völlig neue Interpretation während eines life Konzerts. Oder einfach die Innigkeit, die zur Musik Bachs zwingend dazugehört.


    Zitat

    Original von ThomasBernhard
    Er Schuft, er soll doch nicht in der Sixtina fotographieren, hat er die zermürbenden Lautsprecheransagen nicht gehört...?


    :D ;)


    Sie waren ja nicht zu überhören und störten die Atmosphäre ganz massiv. Dass man die empfindlichen Gemälde nicht mit einem Blitz heimsucht, sollte sich eigentlich von selbst verstehen. Aber was das Verbot des Fotografierens soll, fragte nicht nur ich mich. Zumal es ansonsten im gesamten vatikanischen Museum erlaubt ist. Aber vielleicht wollen sie ihre eigenen Postkarten und Kunstbände verkaufen. Im Apothekermuseum im Heidelberger Schloss ist das Fotografieren ebenfalls verboten, doch dort habe ich auch nichts entdeckt, was mich gereizt hätte, das Verbot zu übertreten.

  • Da Du, lieber Gerhard, den »Bach«, der Dich vom Stuhl reissen soll, nicht weiter spezifiziert hast (jedenfalls nicht so ganz richtig), empfehle ich Dir diese Scheibe:



    Wenn Du dabei still sitzen bleiben kannst, ist Dir nicht zu helfen... :D


    Viele Grüße,
    Medard

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Ich glaube, wenn man mit Vorstellungen an etwas herangeht, dann würde es noch nicht einmal vom Stuhl reißen, wenn jemand hundertprozentig die Erwartungen erfüllt. Vom Stuhl reißt das neue, das unerwartete, das Staunen. Aber ich werde mir deinen Tipp gerne einmal anhören.

  • Lieber Christian ,


    da Du HD ja sehr gut kennst meine FRage an Dich :


    Gibt es noch die im Sommer in Heidelberg stattfindenden Konzerte in dem altehrwürdigen Konzertsaal ( gehört früher auch einmal zur Uni ) ?


    In Heidelberg gab es aus meiner Erinnerung heraus eigentlich immer gute , ja sehr gute Konzerte .


    Du hattest doch früher hier im Forum auch sehr interessante Konzerte empfohlen , die Du nachhaltig empfohlen hast . Fanden die nicht in HD statt ?


    Viele Grüsse ,


    Frank

    Frank Georg Bechyna
    Musik & Medizin

  • Hallo Gerhard,


    mh, komisch, nach dem Lesen deiner faustischer Beschwerden lassen mich
    auch meine Lieblingsstücke von Bach ein wenig kalt... Vielleicht ja noch:


    1. Sein Sohn Carl Philip empfahl die Sonaten für Violine und Cembalo
    (vielleicht mal zum Schnuppern: 'http://www.youtube.com/watch?v=cbzWLnBl4oM&feature=related)


    2. "Aus Liebe will mein Heiland sterben" (koopmann, ab 2:10 gefällt mir gut, hier ist der Klang leider etwas metallisch)


    3. Selber spielen, singen!

    "Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten" Gustav Mahler

  • Zitat

    Original von Gerhard
    Wenn man etwas zum hundertsten Male gehört hat, kann es einem einfach nicht mehr vom Stuhl reißen.


    Das kann ich nicht so stehen lassen, das bestreite ich jetzt einfach mal vehement! :baeh01:


    Zugegeben, oft kommt es nicht vor, aber gerade wenn man mal eine Weile "enthaltsam" war, kann einen auch oftgehörtes wieder erreichen wie beim ersten Mal. Das glaube ich ganz fest. :yes:


    Manchmal reissen mich übrigens Bach-Stücke gerade dann vom Hocker, wenn sie mich völlig unvorbereitet treffen. So trieb mir mal die bereits zu Tode genudelt geglaubte Air die Tränen in die Augen, als sie während eines Gottesdienstes aus blechernen Lautsprechern als Meditationsmusik eingespielt wurde.
    Und der Sender Tele5 hatte einmal eine mehrminütige Vorschau auf die Spielfilme des kommenden Monats mit dem Schlusschor aus der Matthäuspassion unterlegt. :faint: Ich weiss, das klingt nach Sakrileg (ist es auch), die Musik hat mich aber in dem Moment erschüttert wie lange nichts mehr. Dabei war es noch nichtmal hip, sondern momumental besetzt. :D



    Weitere Tips für Gerhard (mensch, irgendwas muss doch hinhauen! ;))
    Wei mein Vorredner empfehle ich "Aus Liebe will mein Heiland sterben", und dazu auch noch "Erbarme dich" aus der Matthäuspassion, den Eingangschor und "Es ist vollbracht" aus der Johannespassion. Dazu die Motetten, besonders "Jesu meine Freude", und den Eingangschor "O ewiges Feuer, o Ursprung der Liebe" aus der gleichnamigen Bachkantate.

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Ich habe in meinem Leben viel Bach gesungen (ist manchmal höllisch schwer) und noch mehr Bach gehört.
    Ich habe die sensationelle Matthäuspassion unter Herreweghe auf DVD, sie wird aber auch auf YouTube in voller Länge gezeigt. Da habe ich mir eine "Abkürzung " gesucht, die mich auch nach dem 100. Mal vom Stuhl reißt.
    1. Eingangschor "Kommt ihr Töchter, helft mir klagen".
    2. So ist mein Jesus nun gefangen (Sopran, Alt) mit anschließendem Chor: "Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden".
    3. Abschluss des ersten Teil: "O Mensch, bewein dein Sünde groß".
    4. Bass: Rezitativ ("Am Abend, da es kühle ward") und Arie "Mache dich, mein Herze rein".
    5. Schlussquartett der Solisten mit den beiden Chören: "So ist der Herr zur Ruh gebracht".
    6. Schlusschor: "Wir setzen uns mit Tränen nieder".

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Das reißt mich vom Hocker:


    Gould, der die Fuge halb so schnell spielt wie seine eigene Einspielung der Konserve (Platte / CD) und damit Strukturen freilegt, die sonst verborgen geblieben wären - und die letzte Minute (Coda) umfaßt so ziemlich alles, was ich von hockerstürzender Musik erwarte, eine Intensität und Klarheit des Spiels und eine Schönheit der Melodie, wie sie extrem selten zu hören sind



    Glenn Gould: BWV 878, Fuge

  • Wie nicht selten ist Gould zu schnell oder zu langsam. Hier schafft er sogar beides. :D In diesem Film zu langsam, auf der offiziellen Einspielung zu schnell. In diesem Falle gefällt mir zu langsam aber auch besser.


    Der Film mit Monsaigneon ist dennoch sehr interessant. Es ist sehr schade, dass es keine richtige komplette Klavieraufnahme der Kunst der Fuge gibt, nur diese seltsame Orgelaufnahme und ein paar Einzelstücke.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Es ist sehr schade, dass es keine richtige komplette Klavieraufnahme der Kunst der Fuge gibt, nur diese seltsame Orgelaufnahme und ein paar Einzelstücke.


    Wundert mich auch, zumal Gould Fugen anscheinend besonders gern spielte. Ich denke mal, er hatte die Kunst der Fuge im Visier, sein früher Tod hat ihm nur einen Strich durch die Planung gemacht.

  • Gould über die Kunst der Fuge: https://www.youtube.com/watch?…&feature=youtu.be&t=1m41s

    Zitat

    ... There are moments in the Art of Fuge that are much more valuable than its virtuosity, I think; moments that for me absolutely surpass everything else that Bach wrote. I really can't think of any music that moved me more deeply than that last fugue […] it really is because that final fugue ... has a sense of peace, a devotional quality, that even for Bach is, ... is really overwhelming ...


    Gould spielt den unvollendeten Contrapunctus auf seiner Aufnahme sehr langsam und feierlich: