Joseph Haydn: Sinfonie Nr. 22 Es-Dur »Der Philosoph«
Entstanden 1764 für den Fürsten Eszterhazy (ein Autograph der Partitur ist erhalten)
4 Sätze:
Adagio (Es-Dur, 68 Takte, 4/4-Takt)
Presto (Es-Dur, 98 Takte, 4/4-Takt)
Menuetto (Es-Dur, 52 Takte, 3/4-Takt)
Finale. Presto (Es-Dur, 119 Takte, 6/8 )
Besetzung: 2 Hörner, 2 Englischhörner, Streicher.
Aufführungszeit: ca. 20 Minuten.
Wie die ihr in der Zählung vorausgehende Sinfonie Nr. 21 beginnt auch Haydns 22. Sinfonie mit einem langsamen Satz und schließt mit der Satzfolge langsam-schnell-langsam-schnell an die Tradition der »Kirchensonate« an. JR hat in seiner Einführung zur 21. Sinfonie ein paar Bemerkungen dazu gemacht, auf die ich hier nur verweisen möchte.
Die 22. Sinfonie weist allerdings einige weitere Eigenarten auf, die sie aus dem Kontext der Haydnschen Sinfonien herausstechen lassen: da ist zunächst einmal die Besetzung, die bei den Bläsern auf die üblichen Oboen und Flöten verzichtet und statt dessen neben zwei Hörnern in Es zwei Englischhörner vorschreibt, also die Alt-Instrumente aus der Oboenfamilie, die sich durch einen eher gedeckten, verhaltenen, recht schwermütigen Klang auszeichnen. Die Nr. 22 ist übrigens die einzige Sinfonie, in der Haydn Englischhörner verwendet.
Zudem fällt auf, daß alle vier Sätze der Sinfonie in der Grundtonart Es-Dur stehen, selbst im dritten Satz stehen Menuet und Trio in Es-Dur.
Ja, und eine weitere Besonderheit ist dann natürlich der Umstand, daß dieses Werk zu jener Gruppe Haydnscher Sinfonien gehört, die einen Beinamen haben – und diese hat dazu noch einen recht hübschen: »Der Philosoph«. Allerdings ist der Name – das hat die 22ste mit den meisten anderen Namenssinfonien gemein – nicht authentisch. Der Titel bezieht sich – so die übereinstimmende Meinung aller Autoritäten – auf den etwas archaisch anmutenden, bedeutungsschwer-choralartigen Kopfsatz.
Dieser Kopfsatz zeichnet sich durch bemerkenswerten Klangarchitektur aus. Es handelt sich um einen Adagiosatz, der sich frei an die Sonatenform anlehnt. Der Satz beginnt mit dem getragenen choralartigen, deutlich periodisch in Vorder- und Nachsatz gegliederten Hauptthema, wobei Vorder- und Nachsatz wiederum in 2 x 2 Takte untergliedert sind: begleitet von einer schreitenden Pizzicato-Achtelfigur der (über den gesamten Satz) gedämpften Streicher (unisono) tragen die in Oktaven parallel geführten Hörner (ff.) einen in halben Noten gehaltenen steigenden Es-Dur Dreiklang vor (Es-G-B), der abschließend wieder auf Es zurückfällt (T. 1-2). Die Englischhörner antworten (auch im ff) mit einer ebenfalls zweitaktigen Figur. Der Nachsatz (T. 5-8 ) wiederholt die Takte 1 und 2 des Vordersatzes und auch hier folgt eine Antwort der Englischhörner, die nun aber kadenzierenden Charakter hat (man könnte das auch so deuten, daß das Thema nicht achttaktig ist sondern nur viertaktig und unmittelbar mit verändertem Nachsatz wiederholt wird – finde ich aber nicht überzeugend). Das Dreiklangsmotiv aus der ersten Periode von Vorder- und Nachsatz gewinnt dann im weiteren Verlauf des Satzes bestimmende Bedeutung. Auf die Vorstellung des Themas folgt eine Passage für die zweistimmig geführten Englischhörner und die Streichergruppe (wobei die Violinen mit den Stimmen der Englischhörner parallel geführt werden), die zu einer Streicherpassage überleitet bevor eine von Zweiunddreißigstelfiguren bestimmte, nach B-Dur modulierende Schlußgruppe die Exposition abschließt. Die Durchführung (ab Takt 23) beginnt erneut mit einer Streicherpassage, die zunächst das Dreiklangsmotiv des Hauptthemas (nun in B-Dur) aufnimmt, dann jedoch die antwortende Passage freier fortspinnt. Von Takt 30 an bestimmt das Dreiklangsmotiv vollständig die Durchführung: es wird von den in Oktaven parallel geführten Englischhörner zweimal wiederholt (zunächst in As-Dur, dann in f-moll). Nach einer überleitenden Passage der Streicher erklingt das Motiv wieder von den Hörnern vorgetragen, bevor die Wiederholung des gesamten Themas in seiner Grundgestalt ab Takt 44 den Beginn der Reprise signalisiert. Für die Exposition wie auch für Durchführung/Reprise sind Wiederholungen vorgeschrieben.
Insgesamt hat der Satz einen sehr feierlichen, ja beinahe sakralen Charakter. Die durchgehend in Achteln schreitende Begleitbewegung der Streicher verleiht dem Satz für mein Empfinden übrigens eher den Charakter eines getragenen Andante denn eines Adagios.
Der stürmische, von Achtelton-Repetitionen in den Begleitstimmen vorangetriebene, in seiner Struktur ebenfalls in Richtung der Sonatensatzform weisende zweite Satzes kontrastiert ganz erheblich mit der – im Ausdruck – feierlichen Schlichtheit des Kopfsatzes. Der Satz wird von den Streichern (die jetzt die Dämpfer ablegen durften) bestimmt, während die Bläser eher begleitende Funktionen übernehmen. Das Hauptthema des Satzes basiert auf einer einfachen Akkordmelodik. Diesem Thema wird eigentlich kein weiteres richtiges Thema zur Seite gestellt. Satt dessen arbeitet Haydn mit einer ganzen Reihe von Motiven, die zwischenzeitlich Gewicht gewinnen, darunter ein markantes Motiv, das von aufwärts geführten Oktavsprüngen geprägt wird (T. 13ff.) sowie ein weiteres, ebenfalls überaus markentes Motiv, das von einem fallenden Oktavsprung und einer Synkopenfigur mit Tonrepititionen bestimmt ist (T. 22 f.).
Bemerkenswert ist nun, daß in der Durchführung (ab T. 39) vornehmlich die verschiedenen Motive, insbesondere das Oktavsprungmotiv (mit dem Durchführung auch einsetzt und zwar in B-Dur) und das Synkopenmotiv verarbeitet werden, während vom Hauptthema eigentlich nur die ersten beiden Takte in der Durchführung auftauchen (T. 45f.) und unmittelbar wieder in das Oktavmotiv überführt werden, das nun sequenziert wird (ab T. 52 ff.), bevor schließlich das Synkopenmotiv Dominanz gewinnt (ab T. 58 ). Nach einer Überleitung beginnt in Takt 68 die Reprise. Sowohl für die Exposition als auch für Durchführung/Reprise sind Wiederholungen vorgeschrieben.
Insgesamt scheint mit dieser zweite Satz ein wenig auf den stürmenden und drängenden Charakter einiger, wenige Jahre später entstandener Sinfonien voraus zu deuten.
Der dritte Satz – ein Menuetto mit Trio, beide Teile wie schon gesagt in Es-Dur stehend – korrespondiert dann wieder deutlicher mit dem feierlich-schlichten Ausdruck des Kopfsatzes. Das zweiteilige, eher feierliche Menuetto wird von mit den Englischhörnern parallel geführten Streichern bestimmt. Auch hier stellt – wie im Kopfsatz – der einfache aufsteigende Es-Dur-Dreiklang das thematische Material. Das ebenfalls zweiteilige Trio wird von den nun jeweils in Terzparallelen geführten Englischhörnern und Hörner getragen. Für beide Teile von Menuett und Trio sind Wiederholungen vorgeschrieben.
Das Presto Finale hat deutlichen Kehrauscharakter. Pochende Achtel-Tonrepititionen und markante Hörnersignale verleihen dem Satz den Charakter eines Jagdstücks. Auch dieser Satz ist mit Exposition (T. 1-45) und Durchführung (T.46-75)/Reprise (T. 76-119) formal an die Sonatensatzform angelehnt. Das Hauptthema besteht aus drei abwärts geführten punktierten Vierteln (B-As-G), die von einem Hornruf auf Es (parallelen Oktaven) beantwortet werden. Dieses Thema wird – wie im zweiten Satz – von verschiedenen mehr oder weniger markanten Motiven flankiert, die zwar allesamt kein thematisch-melodisches Eigengewicht erhalten, für die Durchführung jedoch bedeutsam sind. Dies gilt insbesondere für ein Motiv, das aus der Umkehrung des fallenden Dreiklangs aus dem Hauptthema gewonnen wird. In der Durchführung wird zunächst dieser fallende Dreiklang aus dem Hauptthema von den Streichern modulierend sequenziert (T. 46-53). Diese Takte haben einen eher ruhigen Charakter, der jedoch in Takt 54 in sein Gegenteil verkehrt wird: das volle Orchester setzt im forte mit dem umgekehrten Dreiklangsmotiv ein, begleitet von pochenden, treibenden Tonrepititionen. Es folgt eine stark modulierende Passage bevor in Takt 75 die Reprise einsetzt. Auch in diesem Satz sind Wiederholungen für die Exposition wie für Durchführung/Reprise vorgeschrieben.
Übrigens – dies weiß Lessing (S. 83) zu berichten – existiert auch eine »Pariser Fassung« der Sinfonie Nr. 22, die 1773 im Verlag Vernier erschienen ist: es handelt sich um eine dreisätzige Fassung, bei der Kopfsatz und Menuet fehlen. Die beiden Prestosätze umrahmen hier ein neu komponiertes »Andante grazioso« in As-Dur. Die Autorschaft dieses Satzes ist ungeklärt – Haydn als Komponist eher unwahrscheinlich. Auch scheint es so zu sein, daß die Pariser Druckausgabe nicht autorisiert ist.