Diese 1791 (zwischen Nr. 95 und 94) komponierte Sinfonie ist eine der unbekannteren unter ihren Geschwisterwerken, obwohl sie seinerzeit besonders großen Erfolg erzielte – zu keiner anderen der für London komponierten Sinfonien haben sich so (relativ) ausführliche Pressereaktionen erhalten. Die bejubelte Uraufführung fand am 17. Februar 1792 statt: der zweite Satz musste wiederholt werden und die Times rühmte novelty of idea, agreeable caprice und whim combined with all Haydn’s sublime and wonten [wanton?] grandeur. Hier sind zwar zentrale Kategorien der Haydn-Rezeption versammelt, aber man hätte doch (wie bei vielen heutigen Musikkritiken) gerne auch konkrete kompositorische Bezugspunkte erfahren. Wie auch immer: Die Sinfonie erfreute sich so großer Beliebtheit, dass sie auf vielfachen Wunsch noch zweimal (am 20.4. und 18.5.1792) aufgeführt wurde.
Ich fand das Werk lange Zeit eher spröde und habe es nur selten gehört. Das hat dann sich später zwar tendenziell geändert, aber erst jetzt bekomme ich einen direkteren Zugang. Zur Charakterisierung der Sinfonie zitiere ich Ludwig Finscher (S. 365): In ihrer endgültigen Gestalt [es gab eine nicht erhaltene Erstfassung des Finales] ist die Symphonie ungleich anspruchsvoller als I:96 und 95, aber auf eine unter den Londoner Symphonien einzigartige Weise, indem sie eine Entwicklung vom Einfachen zum Komplizierten und von ungetrübter Freundlichkeit zur Bizarrerie umschreibt; andererseits weisen die thematischen Beziehungen zwischen Kopfsatz, Menuett und Finale und die Gestalt des Menuetts und Trios auf die späteren Werke voraus.
Der erste Satz beginnt mit einem Adagio im ¾-Takt: auf ein mächtiges Tutti-Unisono auf D antwortet eine gesangliche Phrase, die dann dynamisch gesteigert und nach A-dur abgebogen wird – worauf die Phrase leise wiederkehrt, aber in der weit entfernten Tonart Es-dur, „eine Stelle von geradezu mystischer Wirkung“ (W. Lessing). Über A-dur geht es in einer schreitend-zeremoniellen Abwandlung des Themas wieder zurück nach D. Eine harmonisch ungewöhnlich (wenn auch symmetrisch) gestaltete Einleitung. Der Allegro-assai-Haptsatz, ebenfalls im ¾-Takt, ist ebenfalls ungewöhnlich, aber zunächst eher wegen der Simplizität der Exposition. Ein eher lyrisches, in seiner symmetrischen Struktur fast menuetthaftes Hauptthema wird breit entwickelt, nur tendenziell etwas verdichtet und von einem im Charakter ähnlichen, allerdings eher ländlerhaften Seitenthema abgelöst. Die Überraschung folgt in der ausgedehnten Durchführung: sie beschäftigt sich ausschließlich mit einem vom Seitenthema abgespalteten Motiv, in teilweise dramatischer Zuspitzung und vor allem in einer ungeheuer dichten und variablen thematischen Arbeit. Nach einer Generalpause setzt wieder die Reprise ein, als sei nichts geschehen – sie ist verkürzt (und zwar ausgerechnet um die verdichteten Passagen um das Hauptthema). Auch in der kurzen Coda, die mit Material aus dem Hauptthemenkomplex bestritten wird, tut sich mit Ausnahme einer harmonischen Irritation nicht mehr viel. Für diese totale Abhebung der Durchführung vom Rest des Satzes fällt mir momentan kein anderes Beispiel bei Haydn ein.
Es folgt ein Largo in G-dur. Ein einfaches, aber harmonisch leicht verschattetes, etwas marschartiges Thema wird zunächst von einem Streichquartett vorgetragen (aparte Wirkung!), dann tutti, aber pianissimo. Es folgt eine als Antwort eine Moll-Variante im Fortissimo, die in ihrem gezackten Rhythmus, ihren 32tel-Läufen und ihren Pralltrillern sehr barock anmutet – vielleicht wirklich eine Reminiszenz an Händel, wie W. Lessing vermutet (was auch ein wenig den Erfolg des Satzes beim zeitgenössischen Londoner Publikum erklären könnte). Dem entgegengesetzt ist eine durchgehende Bewegung in Achteltriolen, die teils melodische Belebung erfährt, meist aber mit dem Hauptthema kombiniert wird – besonders schön nach Takt 44, wenn das Thema sich aus seinem rhythmischen Korsett befreit und vorübergehend nach Moll gewendet wird. Kurz vor Schluss einer der rauheren von Haydns Scherzen: die Musik fällt in kleine rhythmische Bruchstücke, dann in einzelne Akkorde und Töne auseinander, die sich harmonisch verrennen, bevor die Fagotte mit einem fast schon obszön wirkenden tiefen C im Fortissimo Ordnung schaffen. Leicht indigniert und ganz im Stil des gutbürgerlichen Wissenschaftlers bemerkt Ludwig Finscher zu den Gründen des Erfolgs der Sinfonie: „… zur Ehre des Londoner Publikums wollen wir nicht annehmen, daß es der nicht gerade subtile Scherz des fortissimo-C der Fagotte am Ende des Largo war“.
Sehr ungewöhnlich das Menuett. Zunächst wegen seiner Tempovorschrift – kein Molto allegro wie bei Nr. 94, aber immerhin Allegro. Noch mehr aber wegen seiner Struktur: auf einen ungebärdigen scherzohaften Unisono-Vordersatz folgt ein fast wilder Ländler als Nachsatz (der aus dem Seitenthema des ersten Satzes abgeleitet ist). Nach einer abwechslungsreichen Durchführung, bei der besonders eine Passage auffällt, die unter repetierten Flötenachteln und über einem Orgelpunkt der Pauke mit Bruchstücken des Themas spielt, folgt eine auf den Ländler verkürzte Reprise. Völlig aus dem Rahmen fällt das Trio: schmetternden Fanfaren in D und A antwortet ein flehend wirkendes piano-Streicherthema, das drei verschiedene Tonarten vorschlägt (h, G, F). Statt einer Synthese bricht aber in diesem Kontext höchst überraschend ein derbes, stampfendes Ländlerthema hervor (analog zum Menuett-Hauptteil). Finscher beschreibt diesen Satzteil m.E. zu Recht mit „eher bedrohlich als komisch“.
Das Finale, Presto ma non troppo im 2/4-Takt, ist diesmal weniger ein “Sonatenrondo” als ein sehr ungewöhnlicher Sonatensatz. Das durch seinen fortwährend wiederholten Zwei-Achtel-Auftakt geprägte Hauptthema wird zunächst mehrfach thematisch verdichtet, (auch kontrapunktisch) verarbeitet, nach Moll umgefärbt und erweitert, bevor fast nach der Hälfte des Satzes (T. 118 ) das zweite Thema erscheint – dieses ist noch deutlicher als das Ländlerthema im Menuett aus dem Seitenthema des ersten Satzes abgeleitet (das ja dort bereits vollständig die Durchführung beherrscht hatte). Nach einem weiteren durchführungsartigen Teil verrennt sich ein Solocello schließlich mit dem Auftaktmotiv des Hauptthemas auf C und muss vom gesamten Orchester fortissimo nach D korrigiert werden – gewissermaßen eine Antwort auf das Fagott-C des langsamen Satzes. Damit setzt die Reprise ein, in der endlich das Seitenthema ordnungsgemäß an das Hauptthema angeschlossen wird. In der Coda werfen sich Holzbläser und Streicher noch einmal den Nachsatz des Themas über einem Pauken-Orgelpunkt zu (vgl. Menuett!), bevor es mit aus demselben Thema abgeleiteten Fanfaren (die Hermann Kretzschmar im 19. Jh. an das Viva la libertà! aus dem ersten Don-Giovanni-Finale erinnerten) zum Ende geht. Insgesamt eine sehr dicht gestrickte und konzentrierte Sinfonie, bei der Menuett und Finale keineswegs weniger gewichtig sind als die ersten beiden Sätze!
Viele Grüße
Bernd