Ich habe den thread, da die Barock-Zuordnung ja eher eine Notlösung war, mal hierhin verschoben. Scheint mit konsequenter, wenn KEINER der Bach-Söhne im Barockforum abgehandelt wird.
JR
Wilhelm Friedemann Bach (1710-1784)
- verkannter Komponist am Ende des Barockzeitalters -
Wilhelm Friedemann Bach wurde am 22. November 1710 in Weimar als erster Sohn von Johann Sebastian Bach und seiner ersten Frau Maria Barbara geboren; am 24. November wurde er in der Stadkirche getauft.
Die belegbaren Aussagen und Dokumente über sein Leben lesen sich recht nüchtern; Yvonne Pickmann hat sie auf 27 Seiten zusammengefasst (Wilhelm Friedemann Bach - Eine Chronik nach Dokumenten. In: Heinemann, Michael & Strodthoff, Jörg (Hg.): Wilhelm Friedemann Bach. Der streitbare Sohn. Dresden: Sandstein 2005, S. 6-33; ISBN 3-937602-52-6). Umso erstaunlicher ist die lange Liste von völlig erfundenen Darstellungen seines Lebens in Romanen und Filmen, die mit seinem wahren Leben nichts zu tun haben, das Bild des Komponisten aber bis in die Gegenwart prägen und sich immer noch in Versuchen, seine Persönlichkeit zu beschreiben, niederschlagen, obwohl die Fakten das kaum hergeben - woher das Bedürfnis rührt, gerade bei diesem Komponisten das Bild eines verkannten Genies bis zu Extremen hin zu zeichnen, entzieht sich meinem Verständnis. Der unsägliche Roman von Emil Brachvogel von 1858 und der 1940 entstandene Film von Traugott Müller mit Gustav Gründgens in der Hauptrolle sind nur die Spitze des Eisberges (mehr bei Norbert Bolin: "... ist's nur Geschöpf der Phantasie?" Das wundersame Leben des W.F. Bach in der Wort-, Ton- und Filmkunst. In: Concerto I (1984), Heft 4, S. 37-41; Stefan Weiss: Wilhelm Friedemann Bach in der fiktionalen Literatur. In: Heinemann & Strodthoff, a.a.O., S. 95-104; Manuel Gervink: Der Film Friedemann Bach. In: Heinemann & Strodthoff, a.a.O., S. 105-110). Selbst ein aufrichtig an W.F. Bach interessierter Autor wie Hanno Ehrler kann sich des plakativen Hinweises, daß der Komponist wohl ein Alkoholproblem hatte, nicht enthalten; auch eine Serie des mdr-Rundfunks im Jahr 2002 betont eher die auffälligen Seiten der Mitglieder der Bach-Familie. Der Mangel an konkreten Aussagen über seine Persönlichkeit scheint eine unwiderstehliche Anziehungskraft auszuüben und zur fiktionalen Schließung der Lücken aufzufordern. An solchen Spekulationen möchte ich mich hier bewußt nicht beteiligen, sondern nur die Fakten aufzählen, die nirgendwo im Internet einigermaßen vollständig wiedergegeben sind, und bitte auch alle Taminos, sich hier auf die - weitaus interessantere - Diskussion seiner Musik zu beschränken.
Ich werde mich bemühen, an dieser Stelle nach und nach alle Werkgruppen und die bisher entstandenen Aufnahmen auf Tonträgern (soweit sie mir bekannt sind) vorzustellen - das schon für 2005 im Carus Verlag angekündigte neue Werkverzeichnis von Peter Wollny im Rahmen des Bach-Repertoriums lässt leider noch auf sich warten, ebenso die ersten Bände der Gesamtausgabe seiner Werke im gleichen Verlag. Die Funde der letzten Jahre lassen allerdings auf die Wiederentdeckung weiterer unbekannter oder verschollener Werke hoffen - hier sei nur das Flötenkonzert D-dur BR C 15 genannt. Vorläufig kann man das Werkverzeichnis (abgekürzt: BR) auf der Seite über W.F. Bach in der englischsprachigen Wikipedia ansehen - ich werde es hier bei den einzelnen Werkgruppen zitieren. (Dass Vergleichbares in der deutschen Wikipedia noch fehlt, ist nur symptomatisch.) Parallel dazu existieren immer noch die Werkverzeichnisnummern nach Martin Falck - abgekürzt: F), die auf Tonträgern meistens benutzt werden. Hier ist eine Konkordanz notwendig, die ich bei den einzelnen Werkgruppen versuchen werde - die Identifikation einzelner Stücke ohne Incipits ist nicht immer einfach, ebenso wie das Aussortieren fälschlich W.F.Bach zugeschriebener Werke, die unkritisch aus veralteten Notenausgaben übernommen werden. Trotzdem ist das 1913 erschienene Buch von Martin Falck (nachgedruckt im Georg Olms Verlag 1977 und antiquarisch problemlos preiswert aufzutreiben (http://www.justbooks.de) sozusagen Pflichtlektüre, weil er sich vorbehaltlos für die Anerkennung von W.F. Bachs musikalischen Qualitäten einsetzt, einen umfassenden Überblick über Leben und Werk gibt, mit sicherem Blick falsch zugeschriebene Werke aussortiert, den Vorurteilen über seine Persönlichkiet entgegentritt, und vor allem viele Quellen und Noten noch einsehen konnte, die inzwischen als verschollen gelten - auch er beklagt schon zahlreiche Verluste. Nach den Angaben auf der Website des Olms Verlags ist das Buch z.Zt. vergriffen, aber eine Neuauflage geplant.
Überhaupt ist die Quellenlage eher schlechter geworden - Eckart Sellheim betont dies in einem Interview in der Zeitschrift Concerto (Jahrgang I, 1984, Heft 4) - die erhaltenen Autographen sind schnell aufgezählt.
Jedem an seinem Leben interessierten kann ich nur die Lektüre von Martin Falcks Buch empfehlen, sowie den anläßlich eines Symposions in Dresden entstandenen Sammelband von Heinemann & Strodthoff im Sandstein Verlag, dessen Beiträge alle wesentlichen Aspekte abdecken und auf dem neusten Stand der Forschung sind. Ich empfehle das Buch direkt beim Verlag zu bestellen; wenn ich die ISBN bei JPC eingebe, kommt nichts (?). (Die Buchreihe ist übrigens auch sonst interessant.)
Wer ein eher erzähltes Porträt lesen möchte, suche das Buch von Andreas Friesenhagen: Die Brüder Bach. Leben und Werk zwischen Barock und Klassik. Köln: Könemann 2000 - nur noch antiquarisch zu bekommen, aber lohnend, mit vielen Illustrationen und alle vier Komponisten-Bachsöhne in den Kontext ihrer Zeit stellend.
Andere Bücher über die Bach-Söhne von Marc Vignal oder Martin Geck finde ich einfach zu knapp in der Darstellung.
Ich habe lange überlegt, in welchem Forum dieser Thread am besten aufgehoben wäre. Ich habe mich für das Forum Alte Musik - Barock entschieden, weil Wilhelm Friedemann an seinem Ende aufgewachsen ist und seine Ausbildung bekommen hat, Zeit seines Lebens mit einem Fuß musikalisch sozusagen darinnen blieb, und 90% der Aufnahmen seiner Werke in HIP gemacht wurden. Ich denke, hier bekommt er mehr Aufmerksamkeit als im überbordenden Forum zu Allgemeinen Klassikthemen.
Ich hoffe, Eure Neugier geweckt zu haben, oder die unter Euch, die wie ich Wilhelm Friedemann Bach zu ihren Lieblingskomponisten zählen, zur Diskussion zu motivieren.