Vor über 10 Jahren, ich war noch in der Schule und fing gerade an, mich mit Chormusik zu beschäftigen, kaufte ich mir eine CD des Choir of New Oxford Colledge, die der damaligen Mode ensprechend zahlreiche Highlights der geislichen Chormusik enthielt. Neben Werken von Faure, Elgar, Albinoni und Brahms befand sich auch das Agnus Dei eines gewissen Frank Martin. Dieses Stück begeisterte mich damals sofort durch seine weiten tragenden Klänge, welche wie gemacht schienen, um riesige sakrale Räume mit Chorklang auszufüllen. Die ungewöhnlichen Klangfarben und überraschenden Harmoniewechsel taten ihr übriges, um mich in Gänsehautschauern vor dem CD-Player staunend lauschen zu lassen.
Später entdeckte ich, dass das Agnus Dei ein Teil eines großen Werkes ist, nämlich der
Messe für Doppelchor
Geschichte des Werks
Im Jahre 1922 schrieb der 32jährige Martin die ersten Teile der Messe, nämlich das Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus und Benedictus. Nach eine Pause von vier Jahren fügte er das Agnus Dei hinzu und kompletierte damit die Messe zu der heute bekannten Form. Damit gilt die Messe für Doppelchor als eines der frühesten Werke Martins. Was nun kommt, scheint nahezu unglaublich. Über 40 Jahre lang :faint: lag das Manuskript in der Schublade und während dieser Zeit wurden die Noten weder verlegt, noch kam es zu einer Aufführung. Erst 1962 entdeckte der Kantor Franz W. Brunnert aus Hamburg, vermutlich durch einen Zufall, die Ankündigung der Messe in einem Verlagskatalog. Sogleich bat er Martin um die Zusendung der Noten "zu Studienzwecken". Und so kam es erst am 2. November 1963 in Hamburg mit der Bugenhagen-Kantorei unter Letung von Franz W. Brunnert zur Uraufführung dieses Werkes. Von nun trat es seinen Siegeszug rund um die Welt an und ist mittlerweile eines der bekanntesten und vor allem beliebtesten geistlichen Chorwerke für Chor a capella überhaupt.
Angesprochen auf die Gründe für diese lange Zeit zwischen Entstehung und Uraufführung gab Martin an, dass er die Messe aus einer tiefen Religiösität heraus geschrieben habe, welche er als eine eher private Sache empfand. Berühmt ist der Satz, diese Messe sei "eine Sache zwischen Gott und ihm".
ZitatZitat Martin
»Ich kannte zu dieser Zeit wirklich nicht einen Chorleiter, der sich für dieses Werk hätte interessieren können. [...] ich hatte auch gar nicht den Wunsch nach einer Aufführung, denn ich befürchtete, dass die Messe einzig unter ästhetischen Gesichtspunkten beurteilt werden könnte«.
Erwähnenswert ist, das Martin nur sehr wenig für a capella Chor geschrieben hat. Neben der Messe für Doppelchor sind hier lediglich die Songs of Ariel zu nennen, welche 1950 entstanden. Angesichts der Kunstfertigkeit, mit welcher er die Messe schuf, ist dieser Umstand regelrecht bedauerlich. Welche großartige Chormusik hätte noch aus der Feder Martins enspringen können..
Werkbeschreibung
Die Messe besteht wie bereits oben erwähnt aus den für eine lateinische Messe üblichen Teilen: Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Benedictus und Agnus Dei.
Wie ebenfalls bereits erwähnt handelt es sich um ein Werk für unbegleiteten Chor, welcher genau genommen in zwei eigenständige Chöre aufgeteilt ist. Die Art, wie beide Chöre eingesetzt werden, verändert sich jedoch im Verlauf der einzelnen Messteile. Während der ersten Teile (Kyrie, Gloria und Credo) aggieren beide Chöre eher als ein einheitlicher 8-stimmiger Chor. In den hinteren Messteilen übernehmen die Chöre teilweise völlig getrennte Funktionen. Im Agnus Dei bspw. schreitet der Chor II in monotonem Rhythmus und setzt dabei Harmonie an Hamronie. Dadurch wirkt der Part dieses Chores wie ein Glockenläuten, welches getragen und weit schwingend ein Harmoniebett für den Chor I bereitet. Dieser psalmodiert mit großer rhythmischer Freiheit in "harmonielosen Oktavschichtungen". So bildet sich ein großer Kontrast zwischen beiden Chören, die dennoch, ein jeder mit eigener Funktion, miteinander interaggieren.
Martin verwendet in seiner Messe für Doppelchor viele pentatonische und kirchentonale Elemente. Eine echte Zuordnung in Moll oder Dur fällt häufig schwer bzw. ist gar nicht möglich. Auch gregorianische Einflüsse kann man heraushören. Melodien werden häufig einstimmig geführt und von den anderen Stimmen mit weit schwingenden, manchmal auch liegenden Klängen begleitet. Mit alle diesen Elementen wirkt die Musik manchmal etwas "archaisch", aber auch eigentümlich schlicht und doch zugleich prächtig und strahlend. Romantischer Überschwang ist dem Werk fremd.
Bemerkenswert ist die textnahe Gestaltung der Musik. Beispielhaft sei hier eine Passage aus dem Credo genannt:
Bei "Deum de Deo, lumen de lumine" ("Gott von Gott, Licht vom Licht") führt Martin den Chor von einem piano in ein forte, zudem aus einer tiefen Lage in eine strahlende Höhe. Das göttliche Licht scheint regelrecht in Ton gegossen, so herrlich strahlt und brilliert der Chor an dieser Stelle..
Es sind diese kleinen Stellen, welche der Musik eine so emotionale Nähe und religiöse Aussage verleihen.
Noch einige Worte zum Anspruch für den ausführenden Chor: Von diesem wird wirklich alles abverlangt. Zunächst stellen die zahlreichen komplexen Harmoniewechsel allerhöchste Anforderungen an die intonatorischen Fähigkeiten des Ensembles. Zudem werden kräftige Randstimmen benötigt: tiefe Bässe für zahlreiche profunde Bassstellen, und vor allem klare und hohe Sopranstimmen, welche ohne Vibrato und gekünseltes Pathos eben jene helle Strahlkraft erzeugen können, nach welche die Messe an vielen Stellen verlangt. Die weit ausladenden und sehr langen Phrasen erfordern zudem einen langen chorischen Atem und die Fähigkeit, derart lange Linien ohne Klanglöcher bewältigen zu können.
Einspielungen
Als ein sehr bekanntes Werk der geistlichen Chormusik gibt es eine Vielzahl von Einspielungen, die ich nicht alle besprechen bzw. erwähnen kann. Denoch blitzen aus dieser Masse einige Einspielungen hervor, sei es durch ungewöhnliche Interpretation oder vor allem durch eine exzellente Ausführung durch den Chor.
RIAS-Kammerchor
In gemäßigten, der Musik sehr zugute kommenden Tempi navigiert Marcus Creed den RIAS-Kammerchor durch die Teile der Messe. Dabei zeigt der Chor sein ganes Repertoir an chorischen Fähigkeiten: Ausgewogenheit der Stimmen, Homogenität, Präzision. Die technisch hervorragende Aufnahme wirkt jedoch mitunter etwas steril, was gerade bei einem derart emotionalen Werk schade ist. Dennoch halte ich diese Einspielung für eine der besten, die es gibt.
Dale Warland Singers
Neben Chormusikhighlights wie dem Miserere von Allegri oder dem Agnus Dei von Samuel Barber ist auf dieser CD auch die Messe für Doppelchor zu finden. Die Dale warland Singers, ein leider 2004 aufgelöster semiprofessioneller Chor aus Minnesota (USA) aggiert mit großer Weichheit und herausragender Homogenität. Spannend sind hier ebenfalls die Tempi. Während das Benedictus in einem extrem langsamen Tempo angesetzt ist (hier wählen die meisten Chöre eher zügigere Tempi), ist das Agnus Dei nach nur 3:13 Minuten zu Ende (zum Vergleich: The Sixteen benötigt hier 5:48! 8o). Trotzdem erscheint es nicht gehetzt, obgleich das schnelle Tempo die Musik nicht ganz so frei schwingen lässt und die aneinander gereihten Harmoniewechsel etwas an ihrer überwältigenden Wirkung einbüßen.
Westminster Cathedral Choir
Diese CD wurde 1998 mit dem Grammophone Award in der Kategorie "Best of Category (Choral)" ausgezeichnet. Dies mag zum einen an der hervorragenden Leistung des Westminster Cathedral Choir liegen, welcher alle Klippen des Werkes exzellent meistert. Es ist beeindruckend, wie homogen und präzise ein Knabenchor aggieren kann! Herausragend an dieser Aufnahme ist jedoch, wie der Chor die inhaltlichen Farben an das Publikum vermittelt. Mystik, göttliche Herrlichkeit, mantraartige Gebete, all das kommt beim Zuhörer ganz unmittelbar an und dringt tief in die Seele vor. Hier scheinen mir die Grundgedanken Martins beim Komponieren dieser Messe am intensivsten umgesetzt. Die Aufnahme ist für mich daher neben der von The Sixteen die beeindruckenste. Eine ganz dicke Empfehlung!
The Sixteen
Dies ist für mich die beste Einspielung der Messe. Sie kann zwar von ihrer Intensität mit der vomWestminster Cathedral Choir mithalten, ist jedoch aus chortechnischer Sicht die überzeugenste. Sehr zugute kommt dem Werk die englische Stimmbildung und Chorklang. Viel metallischer Klang und schnurgerader Klang bei den hohen Stimmen, insbesondere den Sopranen, satte profunde Bässe. The Sixteen unter Harry Chrisopher legen die Messe in sehr getragenen Tempi an, was die Musik beeindruckend langsam und weit schwingen lässt. Das Agnus Dei liegt mit xxxxx Minuten in der (mir bekannten) langsamsten Einspielung vor. Gerade hier entfalten sich die glockenschlagartigen aneinandergereihten Akkorde des Chores II besonders herrlich. Es spricht sehr für diesen Chor, dass er diese langsamen Tempi derart souverän präsentieren kann, ohne das Klanglöcher entstehen oder Müdigkeitserscheinungen auftreten. Homogenität und Präzision sind zudem auf allerhöchstem Niveau.
Chorus Sine Nomine
Diese Einspielung des österreichischen Chores Chorus Sine Nomine ist mehr als ordentlich. Sie kann zwar mit den Leistungen eines RIAS-Kammerchores oder The Sixteen nicht heranreichen, aber wir reden hier schließlich über Vokalensembles von allererstem Rang. Chorus Sine Nomine gefällt durch eine hohe Homogenität, auch seien die Randstimmen, von welchen Martin in der Messe ausführlichen Gebrauch macht, lobend erwähnt. Mit dem Kauf dieser Einspielung kann man auf jeden Fall nichts falsch machen.
Norddeutscher Figuralchor
Diese Aufnahme kenne ich persönlich nicht, jedoch hat unser Mitglied BBB bereits mehrfach von dem Chor bzw. auch dieser Aufnahme berichtet bzw. geschwärmt. Da der Norddeutsche Figuralchor recht stark besetzt ist, könnte die Einspielung durchaus interessant werden, da die Besetzung dem Gestus der getragenen Musik entgegenkommen dürfte.
Weitere Aufnahmen, die ich jedoch nicht kenne, sollen hier nur benannt werden. Interessant dürfte aber bspw. diejenige des Dresdner Kammerchores sein, welcher sich in den letzten Jahren den Ruf eines hervorragenden, insbesondere akribisch exakt und homogen musizierenden Vokalensembles erarbeitet hat.
Fazit
Die Messe für Doppelchor von Frank Martin ist eine der schönsten Mess-Vertonungen des 20Jh. Durch ihre komplexen, aber nie abstoßend wirkenden Klänge ist sie nur außerordentlich bekannt und beliebt und wird von vielen Chören weltweit aufgeführt. Jedem Liebhaber von Chormusik, aber auch den Freuden geistlicher Musik sei eine Beschäftigung mit diesem Werk unbedingt anempfohlen. Diese Empfehlung gilt uneingeschränkt jenen gegenüber, welche Vorbehalte gegenüber der Musik des 20. Jh. haben. Die Musik ist zwar der romantischen Tonkunst weitgehend entstiegen, dennoch bereitet sie mit ihren harmonischen Effekten ein unmittelbares und sehr tief gehendes Hörvergnügen, ohne sich im Vorfeld mit moderner Tonsprache beschäftigt haben zu müssen.
Sehr gespannt bin ich, welche (Hör)Erfahrungen ihr mit diesem Werk gemacht habt bzw. welche Aufnahmen ihr kennt!
Liebe Grüße, der Thomas.
P.S.:
Ich habe längere Zeit mit mir gerungen, ob ich dieses Thema im Board ORATORIUM -MESSE- KANTATE oder im Borad Vokalmusik-Forum einstellen soll. Da es sich bei dem Werk um eine ganze Messe nach katholischenm Vorbild handelt, habe ich mich doch für ersteres Board entschieden. Für mich stehen jedoch neben den inhaltlichen Aspekten des Werkes auch die chorischen sehr stark im Zentrum meines Interesses, weswegen mir diese Entscheidung nicht ganz leicht gefallen ist. Es zeigt aber wiedermal, dass die momentane Aufteilung der vokalen Musik in verschiedenen Boards nicht immer glücklich gelöst ist..
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Quellen:
http://www.br-online.de/kultur-szene/...
Wikipedia