Was ist für mich klassische Musik? - Versuche einer Annäherung

  • Nachdem ich das Niveau dieses Forums in letzter Zeit vor allem durch substanzlose Threads und müde Aufgüsse wie Rätsel und TMOOs in seichte Ufer getrieben habe, möchte auch ich zur Abwechslung etwas zu seiner Substanz beitragen und eine Frage aufwerfen, die ins Allertiefste, nämlich den Kern seines Selbstverständnisses führt. Ich werde mich aber hüten, die eigentliche und wohl nie gültig zu beantwortende Frage "Was ist klassische Musik?" zu stellen, sondern individualisiere sie gleich. Sollte aber jemand doch den Stein der Weisen gefunden haben und die Quadratur des Kreises lösen können, um so besser. Dann wird Tamino nämlich in die Geschichte eingehen und womöglich noch für einen Nobelpreis vorgeschlagen werden.


    Bei einer, zugegeben flüchtigen, ergebnislosen Recherche, ob es einen solchen Thread nicht doch schon gibt, stieß ich unter anderem auf diese noch viel fundamentalere Fragestellung: Was ist eigentlich Musik?


    Sie führte, wie vorhersehbar, zu keinem Ergebnis, wohl aber zu einer Reihe interessanter Antworten und dieser Gegenfrage:


    Zitat

    Original von Caesar 73
    Nur eine Frage am Rande: Müssen wir Musik unbedingt definieren, im akademischen Sinn? Mir kommt da spontan Erich Fried in den Sinn: Ein Gedicht von ihm heißt: "Es ist was es ist" Gemeint ist hier zwar die Liebe, aber in gewisserweise trifft die Frieds Schlussfolgerung ebenso auf die Musik zu. Zu uferlos, zu weit ist dieses Feld.


    Natürlich müssen wir hier gar nichts, außer möglichst Interessantes verständlich auszudrücken, aber es erstaunt mich, dass man sich anscheinend bislang um diese Kernfrage unseres gemeinsamen Selbstverständnisses gedrückt zu haben schien, so oft man es auch schon einzukreisen versuchte. Sollte ich einen solchen Thread aber nur übersehen haben, schiebe ich diesen natürlich gerne dort hin.


    Ich möchte mich nicht gleich zum Einstieg überfordern und versuche es daher erst einmal auf dem "negativen" Weg, inspiriert durch eine bekannte Anekdote, auf die ich mich schon anderswo bezog. Der zufolge hatte ein amerikanischer Richter einmal zu entscheiden, ob eine bestimmte Publikation Pornografie sei. Die Verteidiger warfen alle möglichen kunstästhetischen Definitionen auf, die nicht nur den Richter verwirrten, bis es diesem reichte und er das Werk mit der "klassisch" gewordenen Begründung verbot, er wisse nicht, wie Pornografie zu definieren sei, aber er erkenne sie, wenn er sie sehe. Danach wäre, frei nach Talleyrands Bonmot über den Verrat, Pornografie bzw. in unserer Fragestellung, klassische Musik "eine Frage des Datums". Was nicht die denkbar falscheste Antwort ist.


    Was wäre aus der Perspektive der klassischen Musik das Pendant zur Pornografie? Popmusik? Unterhaltungsmusik? Sogenannte Fahrstuhl- und andere "Gebrauchsmusik"? Schlager? Volksmusik? Rap? Gar Jazz mit seinen freien Improvisationen??? Wird Klassik zur Pornografie, wenn sie, ähnlich wie die Erotik, in der Werbung missbraucht wird? Wenn ja, müsste es doch auch den umgekehrten Weg geben. Wie ginge das?


    Bei genauerer Betrachtung wird man all diese Gattungen in der Musik wiederfinden, bei der wir fraglos akzeptieren, dass sie in einem Forum für klassische Musik behandelt zu werden verdient. So wurden auch, wann immer die Zugehörigkeit einer Gattung wie Operette, Musical oder, der Auslöser dieses Threads, Filmmusik zur klassischen Musik in Frage gestellt wurde, diese mindestens von einer engagierten Mehrheit bejat. So waren wir am Ende einer befriedigenden Antwort so fern wie zuvor, wenn auch um einige Gedankengänge reicher.


    Versuchen wir es trotzdem, wohl ahnend, dass der Ausgang derselbe sein dürfte.


    Hier ein paar Anregungen, wie man die Abgrenzungen sinnvollerweise nicht vornehmen kann:


    E-Musik ist klassische Musik, U-Musik ist es nicht
    Man braucht nicht auf Offenbach oder Strauß Bezug zu nehmen, die sich gewundert hätten, wenn man ihre Musik nicht hätte als Unterhaltungsmusik verstehen wollen. Die Spezialisten werden wissen, wie weit man da zurück gehen kann und muss, aber auch Mozarts Tanzmusiken waren längst nicht der Anfang der U-Musik in der Klassik, und weder Bernstein noch Sondheim markieren deren Ende. Dennoch hat sich die Tonträgerindustrie diese Unterscheidung zu eigen gemacht, wenn sie auch von "Institutionen" wie dem irreführenderweise "Klassik-Radio" genannten Häppchensender zunehmend unterlaufen wird.


    Es gibt nur gute und schlechte Musik. Klassische Musik ist gute Musik
    Nicht nur bei Operette und Musical dürften da die Meinungen schon stark auseinander gehen, auch wenn selbst die engagiertesten Gegener einräumen dürften, dass es gute - oder wenigstens bessere - und schlechte(re) gibt - natürlich auch in der Klassik allgemein. Auch wenn man die immer wieder bechworene "Tiefe" an Stelle des "GUten" setzt, dürfte da kaum sehr viel Haltbares herauskommen.


    Klassik kann per Definition nur Musik der Vergangenheit sein
    Man schlage mal diesen Begriff bei Wikipedia nach. Dort findet man von der Antike über die ziemlich präzise eingegrenzte Wiener Klassik (1780-1827) bis hin zur "Populären Klassik" diverse Begriffe und Perioden, aber keine Antwort. Auch bestreitet kaum jemand, dass mindestens die herausragenden Komponisten der Gegenwart "klassische" Musik schreiben, was eine, wie auch immer geartete, zeitliche Definition ausschließt, auch wenn manche, darunter wohl auch der Gründer dieses Forums, das gerne hätten. Wenn aber Vergangenheit im Extremfall die soeben vergangene Minute ist, hilft diese Definition auch nicht weiter.


    Klassische Musik begnügt sich nicht mit Einfällen, sondern wird dies erst durch deren Verarbeitung
    Der Versuch ist sicher nicht unfruchtbar, aber dann müssten wir wohl u. a. die sogenannte Minimal Music und große Teile z. B. der Tanzmusik der Wiener Klassik oder viele der beliebten Volksmusikbearbeitungen ausschließen, die wir fraglos in "unserem" Repertoire dulden. Je mehr wir aber davon zulassen, um so größere Bereiche der gegenwärtigen Unterhaltungsmusik gehörten dazu, denn auch simple Schlager verarbeiten, wenn auch auf schlichtestem Niveau. Wo aber verläuft die Grenze vom Schlichten zum Anzuerkennenden?


    Dies nur mal zum Einstieg, denn die Fragen und Nachfragen sind womöglich noch zahlreicher als denkbare Antworten. Ich hoffe daher auf eine rege Debatte, wohl wissend, dass hier der Weg das Ziel ist, weil das Ziel selbst zu sehr im Vagen des fernen Horizonts liegt und sich - jedenfalls für mich - stets als Fata Morgana erwiesen hat, wenn ich einmal meinte, ihm näher gekommen zu sein.


    Also: was ist für Euch klassische Musik?


    :hello: Jacques Rideamus

  • Zitat

    Original von Jacques RideamusAlso: was ist für Euch klassische Musik?


    Lieber JR,


    Wie Du richtig schreibst, kann man hier nicht definieren. Meine subjektive Antwort, die aber jetzt mehr aus dem Bauch heraus kommt als aus dem Hirn, lautet: Potentiell alles, was mir echt gefällt. Vom Hirn kommt prompt der Einwand: Es gibt aber klassische Musik, die mir (noch?) nicht gefällt, was ist dann mit der?
    Außerdem: Man kann ein klassisches Werk schlagermäßig ummodeln, man kann einen billigen Schlager mit einigen Tricks klassikmäßig aufmascherln. Der musikalische Einfall an sich entzieht sich also der Zuordnung, ist "klassisch" eine Sache der Bearbeitung? Eine reine Sache konventioneller Übereinkunft und daher dem jeweiligen Zeittrend anpaßbar? Ich weiß es nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, "klassisch" ist ein ganz nützlicher, aber künstlich geschaffener Hilfsbegriff, der bei näherem Abklopfen sofort gravierende Widersprüche offenbart und nur innerhalb relativ eng gesteckter Bezugsgrenzen funktioniert. Nix als Fragezeichen, daher lande ich wieder einmal bei Erich Kästner: "Forscht, wo ihr was zum Forschen findet - das Unerforschbare laßt unergründet!" Leider ist halt so spannend, sich die Ganglien mit unlösbaren Fragen zu strapazieren.


    LG


    Waldi

  • Wie wär’s mit:


    »Klassisch« zu nennen ist eine Musik dann, wenn sie explizit in der Tradition der europäischen Kunstmusik steht und sich produktiv mit dieser Tradition auseinandersetzt.


    Viele Grüße,
    Medard

  • Zitat

    Original von Klawirr
    Wie wär’s mit:


    »Klassisch« zu nennen ist eine Musik dann, wenn sie explizit in der Tradition der europäischen Kunstmusik steht und sich produktiv mit dieser Tradition auseinandersetzt.


    Viele Grüße,
    Medard



    Finde ich nicht schlecht (wobei man sich über das "produktiv" streiten kann). Insbesondere der problematische Terminus "klassisch" wird elegant "mit Inhalt gefüllt".


    Allerdings besteht immer noch die Schwierigkeit, das Gebiet "europäische Kunstmusik" genau zu umgrenzen. Ein wenig suggeriert Deine Definition ja auch, dass es einen Unterschied zwischen "europäischer Kunstmusik" und "Musik, die in der Tradition der europäischen Kunstmusik steht" gibt. Die Grenze wird schwierig zu ziehen sein.


    Auch die Frage, seit wann es (europäische) "Kunstmusik" gibt, bleibt eine Achillesferse - letztlich ist das gestellte Problem unlösbar mit der unlösbaren Frage "was ist Kunst?" verbunden.


    Sind gregorianische Choräle bereits Kunstmusik/klassische Musik? Auf der einen Seite eher nicht, auf der anderen sind (nach meinem bescheidenen Kenntnisstand) gregorianische Choräle später ja durchaus zu einem Bestandteil der Tradition der europäischen Kunstmusik geworden.


    Zur Not ziehe ich mich lieber auf das zurück, was Waldi oben "konventionelle Übereinkunft" genannt hat :D. Das ist aber zugegebenermaßen wenig befriedigend...



    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Original von Walter Krause
    Nix als Fragezeichen, daher lande ich wieder einmal bei Erich Kästner: "Forscht, wo ihr was zum Forschen findet - das Unerforschbare laßt unergründet!" Leider ist halt so spannend, sich die Ganglien mit unlösbaren Fragen zu strapaziereni


    Ich spiele mal Sparringspartner, denn die Frage interessiert mich sehr:


    Fällt dann ein Nachweis der Relativitätstheorie unter dieselbe Kästner-Kategorie und gehört damit auch in ein fliegendes Klassenzmmer?


    Ist nicht, wie die Vergangenheit immer wieder bewiesen hat, auch Unerforschbares eine Frage des Datums?


    Zitat

    Original von Klawirr
    Wie wär’s mit:


    »Klassisch« zu nennen ist eine Musik dann, wenn sie explizit in der Tradition der europäischen Kunstmusik steht und sich produktiv mit dieser Tradition auseinandersetzt.


    Viele Grüße,
    Medard


    Was ist europäische Kunstmusik? "Wir winden dir den Jungfernkranz"? Ab wann wird "Ein feste Burg" dazu?


    Und was ist mit den Komponisten von Villa-Lobos oder Scott Joplin bis hin zu diversen Asiaten, die sich auf ganz andere Traditionen berufen, von der chinesischen Oper etc. ganz zu schweigen?


    Sind Canteloubes "Chants d'Auvergne" klassische Musik? Oder doch "nur" Volksliedbearbeitungen in der Tradition der Haydnschen Volksliedbearbeitungen?


    Was macht Mozarts Jugendkanon "Bona nox" zur klassischen Musik, wenn er denn dazu gehört?


    In all den Fällen wären dann wohl auch Burt Bacharachs barockige Instrumentalbearbeitungen von Beatles-Songs klassische Musik, diese aber nicht?


    Ich deutete ja schon an: es gibt bei näherem Hnsehen immer mehr Fragen als (befriedigende) Antworten, und genau das macht es für meine/unsere Ganglien ja so spannend. Da bin ich ganz bei Waldi.


    :hello: Jacques Rideamus

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  • Zitat

    Kunstmusik


    Lieber Medard,


    würde Deine Definition nicht die Frage aufwerfen: Wann, unter welchen Umständen, durch welche Merkmale gekennzeichnet ist Musik auch Kunst?




    Für mich ist klassische Musik - Mozart, Brahms, Beethoven, Donizetti, Kálmán usw, usw...... Eine Definition kann ich unmöglich erstellen, dennoch glaube ich, dass klassische Musik sich vor allem dadurch auszeichnet, dass der Komponist dieser Musik kein oberflächlicher "Luftgitarrenspieler" war bzw ist. Im Gegenteil er hat die Materie Musik durchdrungen, sich mit dieser auseinandergesetzt und kann sie dadurch wie ein Handwerkzeug benutzen, einsetzen, wiedergeben. Ich denke nur durch solch eine Auseinandersetzung mit der Musik ist und wird klassische Musik entstanden bzw entstehen. Ob man diese dann heute oder in 200 Jahren als Klassik oder Kunst bezeichnet, kommt sicher auf den jeweiligen Zeitgeist, oder auf die vorherrschende Definition "Kunst" bzw. Klassik an. Aus heutiger Sicht denke ich, Musik die als klassisch bezeichnet werden darf, einfach ein gewisses musikalische Niveau haben muss. Leider bin ich nicht in der Lage eine musikwissenschaftliche Erklärung niederzuschreiben, ab wann Musik Niveau hat und welche unsinniger Kitsch ist, aber ich denke ich bin zumeist in der Lage diese Unterschiede zu hören.



    LG


    Maggie

  • Lieber Medard,


    Wären wir jetzt im Jahr 1908 und nicht hundert Jahre später, würde ich dieser interessanten Definition vermutlich weitgehend zustimmen. Aber inzwischen haben wir soviel Internationalisierung erfahren und auch so viel Erkenntnisse über Vernetzung mit nichteuropäischem Kulturgut (nicht nur unter Dominanz des abendländischen Faktors), daß mein Zweifel größer ist als der Konsensdrang.


    LG


    Waldi

  • Zitat

    Original von Maggie
    Leider bin ich nicht in der Lage eine musikwissenschaftliche Erklärung niederzuschreiben, ab wann Musik Niveau hat und welche unsinniger Kitsch ist, aber ich denke ich bin zumeist in der Lage diese Unterschiede zu hören.


    Liebe Maggie,


    fast genau so hat sich der oben zitierte Richter im Fall der Pornographie auch geäußert. :D


    :hello: Jacques Rideamus


  • Nach Deiner Definition wären auch die Beatles Klassiker.


    Was bedeutet für Dich denn "von der Materie Musik durchdrungen"? Muß man dazu ein Hochschulestudium nachweisen? Oder heißt es, daß man "hauptberuflich" sich mit Musik befaßt hat?


    Weiter: Fragen über Fragen...


    Matthias

  • Lieber Bernd,


    Zitat

    Original von Zwielicht



    Finde ich nicht schlecht (wobei man sich über das "produktiv" streiten kann). Insbesondere der problematische Terminus "klassisch" wird elegant "mit Inhalt gefüllt".


    »Produktiv« will in diesem Kontext sagen, daß eine reflektierte Auseinandersetzung gesucht wird – sei’s durch Anschluß, Abgrenzung, Dekonstruktion oder gar Destruktion.


    Zitat

    Allerdings besteht immer noch die Schwierigkeit, das Gebiet "europäische Kunstmusik" genau zu umgrenzen. Ein wenig suggeriert Deine Definition ja auch, dass es einen Unterschied zwischen "europäischer Kunstmusik" und "Musik, die in der Tradition der europäischen Kunstmusik steht" gibt. Die Grenze wird schwierig zu ziehen sein.


    Die Unterscheidung finde ich gar nicht so schwierig. Bis zum Jahr 1700 dürfte etwa 99,9999% dessen, was wir »Klassik« nennen (ich habe die Formel »Klassisch zu nennen, ist eine Musik dann« durchaus absichtsvoll an Stelle eines »Klassisch ist Musik dann« gesetzt, weil so der Konstruktcharakter der Begriffsbildung bewahrt bleibt) [edit.: ] in Europa entstanden sein. Bis zum Jahr 1900 dürfte der Anteil immer noch bei ca. 95% liegen. Seitdem wird diese Tradition im globaleren Rahmen fortgeschrieben. Die amerikanische Symphonik des 20. Jahrhunderts etwa steht dann in diesem Sinne in der Tradition der »europäischen Kunstmusik« genauso, wenn auch ganz anders ( :D), wie Webern, Schostakowitsch, Hartmann oder Rihm. Im Übrigen scheint mir ein Rekurs auf »europäische Kunstmusik« in der Definition den Vorteil zu haben, daß damit kein exklusiver Kunstanspruch des Klassischen postuliert wird. »Jazz« wäre in diesem Sinne vielleicht in Abgrenzung als »afroamerikanische Kunstmusik« zu fassen.


    Zitat

    Auch die Frage, seit wann es (europäische) "Kunstmusik" gibt, bleibt eine Achillesferse - letztlich ist das gestellte Problem unlösbar mit der unlösbaren Frage "was ist Kunst?" verbunden.


    Sind gregorianische Choräle bereits Kunstmusik/klassische Musik? Auf der einen Seite eher nicht, auf der anderen sind (nach meinem bescheidenen Kenntnisstand) gregorianische Choräle später ja durchaus zu einem Bestandteil der Tradition der europäischen Kunstmusik geworden.


    Schwierig. Die »Tradition« entsteht im Kontext einer solchen Bemühung um eine definitorische Annäherung ja explizit in der Retrospektive (halt: Invention of Tradition). Das ist aber gar nicht schlimm, weil der Klassik-Begriff als solcher ja wieder mal nur eine Ordnungs-Prothese ist.


    Also: aus der Perspektive eines solchen Konstrukts »Klassische Musik« gehört die Gregorianik selbstverständlich in die Tradition »europäischer Kunstmusik«.


    Was Kunst ist? Woher soll ich das wissen? :D



    Viele Grüße,
    Medard

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  • Zitat

    Was bedeutet für Dich denn "von der Materie Musik durchdrungen"? Muß man dazu ein Hochschulestudium nachweisen? Oder heißt es, daß man "hauptberuflich" sich mit Musik befaßt hat?


    Das heißt für mich, dass der Komponist mehr als nur die Noten kennt. Er muss damit auch umgehen können. Studiert muss er die Musik schon haben, wenngleich nicht zwangsläufig auf einer Eliteuni. :D Er muss ganz einfach wissen, was er tut und wie er es tun muss. Sorry ich weiß gerade nicht was ich tue, bzw wie ich es anders ausdrücken soll.



    LG


    Maggie


    PS: Natürlich sind die Beatles auf ihrem Gebiet Klassiker. Dennoch zähle ich sie nicht zum Bereich klassische Musik. :D

  • Zitat

    Original von Zwielicht
    Sind gregorianische Choräle bereits Kunstmusik/klassische Musik? Auf der einen Seite eher nicht, auf der anderen sind (nach meinem bescheidenen Kenntnisstand) gregorianische Choräle später ja durchaus zu einem Bestandteil der Tradition der europäischen Kunstmusik geworden.


    Lieber Bernd,


    mich würde die "eine Seite eher nicht" interessieren. Was lässt Dich dem Gregorianischen Gesang den Kunstcharakter absprechen? Was ist er dann? Folklore?


    Liebe Grüße Peter


  • Ich habe die Beatles absichtlich als Beispiel eingebracht, denn auch sie haben sich mit der Musik vor sich auseinandergesetzt, und haben sicherlich sehr bewußt das getan, was sie getan haben.


    Ich denke, in Deiner Defeinition fehlt also noch etwas, um die "Beatles" auszuschliessen (wenn wir das denn wirklich wollen)...


    Daher der "Einwurf"...


    Matthias



  • Lieber Peter,


    er wäre: Kult(-musik), Bestandteil der Liturgie - weil nicht Gegenstand eines zeitgenössischen Diskurses über Kunst (was z.B. bei der ars nova oder gar bei Palestrina schon ganz anders aussieht).


    Dazu sind zwei Dinge zu bemerken:


    1. Das Absprechen des Kunstcharakters für den Gregorianischen Choral bedeutet keineswegs eine Abwertung der Gregorianik, sondern eher die Abwertung eines als unbrauchbar empfundenen Kunstbegriffs.


    2. Ich beziehe mich hier auf eine Diskussion (nicht nur) im Fach Kunstgeschichte, von der ich nicht weiß, ob sie auch im musikwissenschaftlichen Bereich geführt wird: Eine Richtung, die sich als Bildwissenschaft bezeichnet, möchte den Begriff "Kunst" tendenziell über Bord werfen und sich lieber am "Bild" als Leitgröße orientieren. Damit wirft man in der Tat Ballast ab und schafft Erkenntnismöglichkeiten, die man vorher nicht genutzt hat: im Mittelalter z.B. die stärkere Orientierung an der Funktion und den Wegfall problematischer Grenzziehungen (sind z.B. Pilgerzeichen Kunst auch nur im weitesten Sinne? Bilder sind sie auf jeden Fall), später die hochinteressanten Gemeinsamkeiten von und Wechselwirkungen zwischen "Kunstbildern" und Bildern wie z.B. technischen Zeichnungen, Landkarten, Röntgenaufnahmen und Hybridformen (Diagramme etc.). Das erinnert ein bisschen an die alte Text-vs.-Literatur- Diskussion in den Sprach-/Literaturwissenschaften.


    Nun stehe ich dieser Richtung eher skeptisch gegenüber (deswegen habe ich ja mit einerseits-andererseits argumentiert), kann mich aber ihren produktiven Fragestellungen nicht verweigern: Schneidet man mit der retrospektiven Einbeziehung von Kunst- bzw. Musikformen des Mittelalters in später entstandene ästhetische Diskurse nicht Erkenntnismöglichkeiten ab? Und trägt man damit, auch wenn man es gar nicht will, neuzeitliche Kriterien der Ordnung und der Wertung in dafür ungeeignete (weil nach gänzlich anderen Kriterien geordnete) Bereiche hinein?



    Viele Grüße


    Bernd

  • Lieber Medard,



    Zitat

    Original von Klawirr
    »Produktiv« will in diesem Kontext sagen, daß eine reflektierte Auseinandersetzung gesucht wird – sei’s durch Anschluß, Abgrenzung, Dekonstruktion oder gar Destruktion.


    einverstanden.



    Zitat

    Die Unterscheidung finde ich gar nicht so schwierig. Bis zum Jahr 1700 dürften etwa 99,9999% dessen, was wir »Klassik« nennen (ich habe die Formel »Klassisch zu nennen, ist eine Musik dann« durchaus absichtsvoll an Stelle eines »Klassisch ist Musik dann« gesetzt, weil so der Konstruktcharakter der Begriffsbildung bewahrt bleibt). Bis zum Jahr 1900 dürfte der Anteil immer noch bei ca. 95% liegen.


    Kann es sein, dass Du hier versehentlich einen Satz nicht zu Ende geführt hast? Mich würde brennend interessieren, was vor 1700 99,9999 % dessen, was wir "Klassik" nennen, sein dürften. ;)



    Zitat

    Seitdem wird diese Tradition im globaleren Rahmen fortgeschrieben. Die amerikanische Symphonik des 20. Jahrhunderts etwa steht dann in diesem Sinne in der Tradition der »europäischen Kunstmusik« genauso, wenn auch ganz anders ( :D), wie Webern, Schostakowitsch, Hartmann oder Rihm.


    Damit habe ich keine Probleme. Der von Rideamus erwähnte Villa-Lobos z.B. steht eben unzweifelhaft auch in der Tradition "europäischer Kunstmusik" und kann daher zur "klassischen Musik" gezählt werden - was Zugehörigkeiten zu anderen Musiktraditionen selbstverständlich nicht ausschließt.



    Zitat

    Im Übrigen scheint mir ein Rekurs auf »europäische Kunstmusik« in der Definition den Vorteil zu haben, daß damit kein exklusiver Kunstanspruch des Klassischen postuliert wird. »Jazz« wäre in diesem Sinne vielleicht in Abgrenzung als »afroamerikanische Kunstmusik« zu fassen.


    Finde ich auch ok. Ich hätte Schwierigkeiten damit, die chinesische Oper zur klassischen Musik zu zählen. Trotzdem handelt es sich natürlich um Kunstmusik.



    Zitat

    Schwierig. Die »Tradition« entsteht im Kontext einer solchen Bemühung um eine definitorische Annäherung ja explizit in der Retrospektive (halt: Invention of Tradition). Das ist aber gar nicht schlimm, weil der Klassik-Begriff als solcher ja wieder mal nur eine Ordnungs-Prothese ist.


    Also: aus der Perspektive eines solchen Konstrukts »Klassische Musik« gehört die Gregorianik selbstverständlich in die Tradition »europäischer Kunstmusik«.


    Genau, das hatte ich ja mit meinem "auf der anderen Seite" ja gemeint. "Ordnungs-Prothese" passt auch, eine angemessen nüchterne Definition dieses aufgeladenen Felds.



    Zitat

    Was Kunst ist? Woher soll ich das wissen? :D


    He, Du drückst Dich um eine Antwort. :D



    Viele Grüße


    Bernd

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  • Lieber Waldi,
    Interkulturalität ist immer gut und manchmal sogar auch schön.
    Allerdings wäre meine Frage, ob es »klassische Musik« gibt, die nicht in irgendeiner Form explizit in Auseinandersetzung mit der »Tradition der europäischen Kunstmusik« steht und damit auch an sie anschließt. Gibt’s so was? Und was macht diese Musik dann »klassisch«?


    Wenn Isang Yun Symphonien schreibt, dann stellt er sich damit doch ganz explizit in die Tradition der europäischen Kunstmusik (ganz gleich, wie dominant und prägend Ostasienismen dann für das Klangbild auch sein mögen). Sicherlich haben Barber, Copland und Bernstein amerikanische Musik geschrieben – aber dies in (vielleicht explizit abgrenzender) Auseinandersetzung mit der Tradition europäischen Kunstmusik (abgrenzend etwa insofern, als sie u.a. Elemente afro-amerikanischer Kunstmusik [Jazz] einbezogen haben – allerdings haben die europäischen Kunstmusikheinis das schon vorher betrieben).


    Also: das Eurozentrismus-Argument lasse ich hier nicht gelten. Wenn wir keine Differenzen markieren können/dürfen, dann sollten wir einfach nur noch von »Musik an sich und als solcher« (was immer das dann auch sei) reden und endlich auch Threads für Gothic, EBM, Grunge, Shoegazer-Rock, Didgeridooing, R’n’B, Vogelzwitschern, Alphornblasen usw. zulassen (hätte ich sowieso nix dagegen). Einfacher wird so alles, klarer nichts.


    Was different ist, sollte man auch different sein lassen können (das ist u.a. auch ein Zeichen des Respekts vor dem Anderen) - und es nicht unter dem Deckmäntelchen der Multikulturalität sukzessive assimilieren. ;)


    Viele Grüße,
    Medard

  • Zitat

    Original von Zwielicht
    Kann es sein, dass Du hier versehentlich einen Satz nicht zu Ende geführt hast? Mich würde brennend interessieren, was vor 1700 99,9999 % dessen, was wir "Klassik" nennen, sein dürften. ;)


    ... in Europa entstanden. ;)

  • Zitat

    Original von Klawirr


    ... in Europa entstanden. ;)


    Achsooo :D. Dem widerspreche ich natürlich nicht.



    Zitat

    Original von Klawirr
    und endlich auch Threads für Gothic, EBM, Grunge, Shoegazer-Rock, Didgeridooing, R’n’B, Vogelzwitschern, Alphornblasen usw. zulassen (hätte ich sowieso nix dagegen).


    Jodeln! :D Ich würde gerne endlich mal was Substantielles über Jodeln erfahren - ehrlich! Ist das nicht ein Thema für unsere alpenländischen Freunde?



    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Original von Klawirr
    »Klassisch« zu nennen ist eine Musik dann, wenn sie explizit in der Tradition der europäischen Kunstmusik steht und sich produktiv mit dieser Tradition auseinandersetzt.


    Lieber Medard,


    das Problem (für mich) ist einfach, dass der Begriff der Klassischen Musik aus dem Bereich der Vermarktung stammt, so wie man ihn heute vorfindet, und damit recht unscharf ist. So wissen wir, was in den Regalen der Musikgeschäfte wo steht - und da stehen die Walzer von Strauß bei der "Klassischen Musik", werden sie aber von André Rieu dargeboten, wird man sie bei der U-Musik finden. Das ist doch einleuchtend.


    Auch Kunstmusik hilft als Ersatz erst mal nicht weiter, denn welche Musik wird nun von der Kunstmusik ausgegrenzt: Meint man nun autonome Kunst im Gegensatz zu funktionaler, oder geht es um die Abgrenzung von Volks- und Subkulturmusik?


    Bleibt man bei einem eher heuristisch gefassten Etikett, das einem "ernsten" Komponisten wie Piazolla dann auch noch U-Musik erlaubt, die durch die Person des Komponisten veredelt wird zur Kunstmusik?


    Oder entschließt man sich, wie Du es zu tun scheinst, zu einer normativen Festlegung, die den klassischen Kunstbegriff zugrunde legt: hoher Organisationsgrad der Formelemente, Intensionalität, Teilhabe an einem System der ästhetischen Kommukation, das sich zu einer Tradition verhält und eine Tradition schafft.


    Liebe Grüße Peter

  • ich halte mich aus dieser Diskussion lieber raus - denn für mich ist "Klassische Musik" nur die Musik die zwischen ca. 1780 und 1827 entstanden ist :D:untertauch:


    aber eine Frage hab ich trotzdem:


    Zitat

    Die Unterscheidung finde ich gar nicht so schwierig. Bis zum Jahr 1700 dürfte etwa 99,9999% dessen, was wir »Klassik« nennen (ich habe die Formel »Klassisch zu nennen, ist eine Musik dann« durchaus absichtsvoll an Stelle eines »Klassisch ist Musik dann« gesetzt, weil so der Konstruktcharakter der Begriffsbildung bewahrt bleibt) [edit.: ] in Europa entstanden sein.


    ist das wirklich so ?



    Denn gerade im Mittelater und in der Renaissance rekrutieren sich nicht nur viele Instrumente (die Laute an erster Stelle) auch ein ganz großer Teil der musikalischen Tradition aus der Orientalischen Musik.



    ?(

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  • Zitat

    Original von Zwielicht
    er wäre: Kult(-musik), Bestandteil der Liturgie - weil nicht Gegenstand eines zeitgenössischen Diskurses über Kunst (was z.B. bei der ars nova oder gar bei Palestrina schon ganz anders aussieht).


    Lieber Bernd,


    Du nennst die Gegenargumente gleich mit :) Die Frage wäre ja, wenn man der Argumentation folgt, ob Musik dann, wenn sie vom Kultischen benutzt wird, ihren Kunstcharakter verliert. Die im Gregorianischen Choral gesammelten und normierten Melodien sind ja nicht im luftleeren Raum entstanden. Sie wurden - auch gegen den Widerstand einzelner Kirchenlehrer - in den Gottesdienst aufgenommen, allerdings nicht als Bestandteil, sondern als Ergänzung, als Schmuck der Liturgie. Wenn man dann das entscheidende Kriterium der Kirche (Textverständlichkeit) nimmt, dann haben sie sich sozusagen von der Liturgie sogar wegentwickelt, denn dieses Argument, dass das Wort im Mittelpunkt steht, begleitet ja die kirchenmusikalische Debatte bis in die Neuzeit, am bekanntesten ist ja das Konzil von Trient, das Palestinas Musik als maßstäblich festlegte. Gegen die Ars Nova gab es auf der anderen Seite schon eine päpstliche Bulle.


    Mit dem "Diskurs über Kunst" kann ich in diesem Zusammenhang ohnedies wenig anfangen, denn einen Diskurs über den Kirchengesang gab es wohl, angefangen von den unterschiedlichen Traditionen (wie den Mailänder Ambrosianischen Gesang) - die Notenschrift - und damit ist ja das Datum des Gregorianischen Gesanges gesetzt - brachte ja eine "Normalisierung" des Gesanges, womit ja gerade die Geschichte der europäischen Kunstmusik begann. Die Melodien des Gregorianischen Chorals zeigen Gesetzmäßigkeiten in Aufbau und Abläufen, die mE deutlich für einen Kunstcharakter sprechen.



    Zitat

    Dazu sind zwei Dinge zu bemerken:


    1. Das Absprechen des Kunstcharakters für den Gregorianischen Choral bedeutet keineswegs eine Abwertung der Gregorianik, sondern eher die Abwertung eines als unbrauchbar empfundenen Kunstbegriffs.


    selbstredend ...


    Zitat

    2. Ich beziehe mich hier auf eine Diskussion (nicht nur) im Fach Kunstgeschichte, von der ich nicht weiß, ob sie auch im musikwissenschaftlichen Bereich geführt wird: Eine Richtung, die sich als Bildwissenschaft bezeichnet, möchte den Begriff "Kunst" tendenziell über Bord werfen und sich lieber am "Bild" als Leitgröße orientieren.


    Nun, daran hindert ja niemand, was dies für die Musikgeschichte brächte, will mir allerdings nicht so recht einleuchten. Das liegt sicher an der ganz anderen Überlieferungsgeschichte, die eine bewusste Notation verlangte. Und wo Musik nicht notiert wurde, ist sie für uns noch nicht einmal spekulativ hörbar zu machen (die Umsetzung von Notationen in Klänge hat ja ohnedies schon ihre Problematik, weil frühe Notationen nicht absolute Tonhöhen, sondern relative Tonhöhen abbilden).


    Die Musik hat als Ars zum Quadrivium gezählt, das heißt, dass es eine handwerkliche Ausbildung und damit auch Traditionen und einen Diskurs über Traditionen gab (als Beispiel habe ich schon oben die Reformen des Ambrosius von Mailand angeführt).



    Liebe Grüße Peter

  • Hallo!


    Zitat

    Original von pbrixius
    das Problem (für mich) ist einfach, dass der Begriff der Klassischen Musik aus dem Bereich der Vermarktung stammt, so wie man ihn heute vorfindet, und damit recht unscharf ist. So wissen wir, was in den Regalen der Musikgeschäfte wo steht - und da stehen die Walzer von Strauß bei der "Klassischen Musik", werden sie aber von André Rieu dargeboten, wird man sie bei der U-Musik finden. Das ist doch einleuchtend.


    Diesen Gedanken finde ich gut, möchte ihn aber noch etwas weiterführen. Den Begriff "Klassik" haben ja nicht die Marketingstrategen des 20. Jahrhunderts erfunden, auch im 19. Jahrhundert gab es etwas, das als "klassische Musik" bezeichnet wurde. Für mich ist die Bezeichnung ein Rückblick auf eine Epoche, die man mit Ehrfurcht betrachtet und gleichzeitig feststellt, dass die Epoche vorbei, quasi tot ist - aus der Sicht eines aktuellen, nicht "klassischen" Künstlers. Das ist natürlich auch eine Form von Marketing. Wagner hätte sich wohl kaum als Klassiker betrachtet, heute ist er es.
    So gesehen würde ich sagen, dass der schwammige Begriff "klassische Musik" ein Hybrid ist zwischen Zeithorizont und Wertschätzung des in der bezeichneten, vergangenen Zeit Geleisteten auf der einen Seite und Abgrenzung zum aktuellen Geschehen andererseits.
    An der Grenze des "klassischen Zeithorizonts" wird die Unterscheidung natürlich schwammig, deswegen gibt es Probleme a la "wann ist Filmmusik Klassik" oder "wann ist Musical Klassik".


    Da jenseits des Zeithorizonts vor allem die Erinnerung an die "Kunstmusik" bleibt, sprechen wir, wenn wir über klassische Musik reden, natürlich häufig von E-Musik; aber da wir uns ja auch einiger guter U-Musik erinnern, kann das kein definierendes Kriterium sein.


    In die heutige Sicht fließen vor allem bei Außenstehenden sicherlich auch sofort erkennbare Stilmerkmale wie "verwendete Instrumente" ein, a la "da spielen Geigen => es ist klassische Musik". Die Frage ist, in wieweit so etwas in eine allgemeingültige Definition einfließen kann?


    Edit: Möglicherweise wird jederzeit auch Musik, die zu deutlich in der Tradition der als klassisch bezeichneten steht, der klassichen Musik zugeordnet. Für Außenstehende zum Beispiel über oben genanntes Instrumentierungskriterium.


    Gruß,
    Spradow.

  • Zitat

    Original von Spradow
    In die heutige Sicht fließen vor allem bei Außenstehenden sicherlich auch sofort erkennbare Stilmerkmale wie "verwendete Instrumente" ein, a la "da spielen Geigen => es ist klassische Musik". Die Frage ist, in wieweit so etwas in eine allgemeingültige Definition einfließen kann?


    Eher nicht. Ich weigere mich jedenfalls, André Rieu als etwas anderes als ggf die Pornografie der klassischen Musik anzuerkennen, obwohl die Geigen da schluchzen, was sie können.


    Auch die Beatles, um nur ein bereits angeführtes Beispiel zu nennen, haben ja immer wieder auf ganze Orchester zurück gegriffen. "All You Need Is Love" mag aber zwar ein Klassiker seiner Gattung sein, klassische Musik ist es aber deswegen noch nicht.


    Wenn ich mir den bisherigen Stand der Diskussion ansehe, erfüllt Andrew Lloyd Webbers REQUIEM alle Kriterien, im Sinne seines Komponisten sowieso, und mit Placido Domingo hat sich auch ein "klassischer" Sänger daran beteiligt. Dennoch habe ich allein bei dem Gedanken, dass dieses Werk in unser Forum gehört, Bauchkrämpfe.


    Ist das einfach nur schlechte klassische Musik oder sind nicht doch Stil- und Geschmacksfragen wenigstens als Ausschlusskriterien mit zu berückschtigen? Auch Rieu bearbeitet ja durchaus honorige Komponisten. Es gibt aber auch viele "klassische" Bearbeitungen von Beethoven bis Kagel, also ist die Reinheit des Originals auch kein brauchbares Kriterium.


    Ich sagte ja schon: Quadratur des Kreises.

    EDIT: Dennoch sollte man den Ausgangspunkt nicht vergessen: wie befinden uns in einem "Klassikforum" und haben eine mindestens im Kern konsensfähige Auffassung, was dazu gehört und was nicht. Haben wir nur alle das gleiche Bauchgefühl oder lässt sich das nicht doch näher bestimmen?


    :hello: Jacques Rideamus

  • Nun, das Unterfangen, eine griffige Gesamtdefinition zu erstellen oder, mit anderen Worten, eine einfache Antwort auf eine - scheinbar - einfache Frage zu geben, erscheint hier fast aussichtslos. Ich besinne mich daher auf den Titel und befasse mich mit zwei Aspekten bloßer Annäherung:


    Vorweg: Eine Beschränkung des Klassischen in der Musik auf Europa halte ich für unzulässig. Um zu dokumentieren, was ich damit meine, nenne ich die Peking - Oper, die auf jeden Fall klassisch zu nennen ist.


    Dimension der "Haltbarkeit":


    Die gemeinhin klassisch genannten Werke der Vergangenheit kennen wir ja nur, weil sie auf Dauer gespielt wurden und werden und daher überliefert sind. Gemeinsam ist diesen Werken die uns als klassisch bekannte Art der Instrumentierung. Gleichzeitig gibt es aber auch Volks- oder folkloristische Musik, die uns überliefert ist, die wir auch spielen und ggf. verändern. Von beiden Formen ging aber auch das verloren, was eben Strohfeuer war, keinen langfristigen Anklang fand. Heute gibt es das ja auch zu Genüge, meist zu Recht. In diesem Sinn sind auch schon viele Stücke aus der Popmusik Klassiker, Evergreens geworden und verdienen es, auf jeden Fall als "höhere Kunst" betrachtet zu werden, auch wenn die Instrumentierung auf Bandelementen aufbaut.


    Gesang:


    Hier, denke ich, kann man den Aspekt "klassisch" einer bestimmten Technik zuordnen, wobei auch hier weltweite Dimensionen eine Rolle spielen. Auch z. B. das asiatische Obertonsingen ist eine nach klaren Regeln zu lernende Singweise. Alternativ gibt es andere Techniken und Musik der Naturstimme. Hier sehe ich eine Entwicklung, die Jazz und Pop auf ein Niveau bringt, das zunehmend auch einer Ausbildung bedarf, um als solides musikalisches Handwerk und Schaffen dauerhaft weiterzuleben.


    Manche Werke der Jazz-, Pop-, und Bandmusik haben dies bereits geschafft und werden es künftig schaffen. Vielleicht sind wir in hundert Jahren soweit, mehrere "Klassiken" nebeneinander her zu besitzen.


    Nur eine kleine Annäherung…..


    LG
    :hello:
    Ulrica


  • Dann will ich erst gar nicht "The Who: Tommy - eine Rock-Oper" anführen.. ;-) Was ist das dann?


    Rockmusik: Ja
    Oper: So nennt sie sich, und hat sicherlich auch Elemente einer solchen.


    Es muß also doch noch mehr "ausschliessende Kriterien" geben, um das, was wir als "klassische Musik" bezeichnen, beschreiben zu können...


    Schade finde ich es, daß wir (ich?) hier anfange mit "Ausschlußkriterien" zu arbeiten, anstatt es "positiv" zu definieren...


    Matthias

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  • Ein Problem scheint hier folgendes zu sein. Wir alle haben eine vage Vorstellung vom Begriffsumfang, also den Musikstücken, die unter "klassische Musik" fallen. Die beliebte (und oft etwas wohlfeile) Destruktion der Versuche, den Begriffsinhalt durch eine Definition zu umreißen, läuft bisher meist nur darauf hinaus, daß ein Fall (oder mehrere) angeführt werden, die der Definition nicht entsprechen, aber nach der vagen Vorstellung "eigentlich" doch zur Klassik gehören sollten. Jede Revision führt dann zu einer weiteren, damit beinahe zwangsläufig weniger präzisen Bestimmung. Danach wird dann gemeckert, daß das nun aber zu unscharf sei. ;)


    Damit abfinden, daß die Definition ihrerseits problematische (undefinierte) Begriffe enthält, muß man sich ohnehin. Der Regreß wäre hier sonst vorprogrammiert (aber m.E gutartig und uninteressant).
    Dennoch ist das Vorgehen nicht verkehrt, die Definition entsprechend zu revidieren. Man kann allerdings auch darauf kommen, daß es vielleicht sinnvoller sein könnte, einige Musikstücke, die "vorreflexiv" klassische Musik hätten sein können, auszuschließen, weil sie nicht der Bestimmung entsprechen. Vor allem aber ist es m.E. kontraproduktiv (gleichwohl extrem beliebt) aus der Existenz eines mehr oder weniger diffusen Randes des Begriffsumfangs zu schließen, daß jegliches Bemühen um eine Bestimmung müßig sei.


    Schon Kant hat darauf hingewiesen, daß in der Philosophie, anders als in der Mathematik, die Definitionen eher am Ende stehen, nicht am Anfang. Das ist gut nachvollziehbar, denn wir haben es hier ja mit Dingen zu tun, die nicht einfach gesetzt werden können (wie mathematische Gegenstände), sondern schon vor unseren Definitionen da sind. (Daher halte ich es auch für zu stark zu fordern, daß Kunst immer Gegenstand eines zeitgenössischen Diskurses über Kunst sein müsse. Das wird i.A. der Fall sein, aber Kunst kann auch ohne die Existenz einer Reflexion über Kunst Kunst sein. Mal von dem Henne-Ei-Problem abgesehen, daß man sich sonst einhandelte...)


    In der Klawirrschen Definition halte ich das "europäisch" aus den schon genannten Gründen für ziemlich unproblematisch. Wenn ein indischer Komponist Ragas musiziert, befindet er sich in der indischen Tradition, wenn er ein Stück für Orchester mit Namen "Sinfonie" schreibt, in der europäischen, auch wenn er indische Skalen und Instrumente verwendet.
    Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, daß die Musik außereuropäischer Traditionen nicht häufig auch Kunstmusik sei.
    Und auch nicht, daß es einzelne Fälle geben mag, in denen unklar ist, welcher Tradition sie zuzuordnen sind. Ich glaube aber, daß es weniger Streitfälle gibt, als man meinen könnte und daß sie, wenn nicht eindeutig, doch gut begründet so oder so eingeordnet werden können. Jazz zB steht m.E. überwiegend nicht in dieser Tradition, sondern entstand aus volkstümlichen Traditionen, begründete dann eine eigene Tradition und aller Zuwachs an Komplexität führt nicht automatisch zu einen Ausbruch daraus.


    Schwierig ist sicher "Kunstmusik", aber das sei aus o.g. Gründen geschenkt. Irgendwas muß man voraussetzen.


    "produktiv" ist ebenfalls nicht ganz einfach. Es wird zum einen diffus, wenn jede Art "dialektisch negativer" Umgang mit der Tradition zugelassen wird. (Andererseits: in welcher Tradition sollte z.B. Cage sonst stehen, als in der der abendländischen Kunstmusik?). Zum andern, auch darauf wurde wohl gezielt, soll ein Umgang, der zwecks Muzak u.ä. Versatzstücke der Tradition unkreativ und zweckentfremdend kombiniert, ausgeschlossen werden. (Wobei man die auch mit Verweis auf den fehlenden Kunstcharakter rauswerfen könnte) Schwierig abzugrenzen, aber ich teile jedenfalls die Intuition dahinter.


    (Das einzige, was mich an der Definition stört, ist das gewundene, defensive, aber im Grunde bedeutungslose "zu nennen" :D)

    Als ich die Überschrift sah, wollte ich eigentlich auch gleich mit der Anekdote des amerikanischen Richters antworten, denn die ist mir auch sofort eingefallen.
    Die Episode ist gar nicht fehl am Platze, sie bringt uns nämlich darauf, daß unsere o.g. vage Vorstellung, was unter Klassik fällt, an "Prototypen" gekoppelt ist. Für die meisten von uns ist z.B. die Musik von Mozart, Beethoven, Brahms oder Wagner prototypisch klassisch. Je weniger Merkmale eine Musik mit dem Prototyp teilt, desto schwieriger scheint es uns, sie spontan als "Klassik" zu erfassen. Deswegen neigen wir vielleicht beim ersten Hören dazu, eher ein für Orchester arrangiertes Popstück als "Klassik" einzuordnen als eine Motette aus dem 14. Jhd. Der Prototyp kann daher in die Irre führen, wenn er zu oberflächlich gefaßt ist (und wie im Beispiel der bloßen Tatsache des Orchesterklangs zuviel Gewicht beigemessen wird).
    Selbst bei einem raffinierten und verfeinerten Prototyp wird es Fälle geben, bei denen der uns kaum weiterbringt. (Sagen wir bei so einer elektronischen Gewittersimulation von Xenakis). Dann hilft nur ein explizites Aufzeigen der Traditionslinie, der Verknüpfung zu Werken, die wir ganz klar als zur Tradition gehörig erkennen, um den strittigen Fall entsprechend einzuordnen. Deswegen kann aber ein Prototyp (obwohl er uns näher liegt) eine Definition (oder so was ähnliches) nur ergänzen, nicht aber ersetzen.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Jacques Rideamus
    Ist das einfach nur schlechte klassische Musik oder sind nicht doch Stil- und Geschmacksfragen wenigstens als Ausschlusskriterien mit zu berückschtigen. Auch Rieu bearbeitet ja durchaus honorige Komponisten. Es gibt aber auch viele "klassische" Bearbeitungen von Beethoven bis Kagel, also ist die Reinheit des Originals auch kein absolutes Kriterium.


    Ich sagte ja schon: Quadratur des Kreises.


    Lieber Jacques Rideamus,


    Auf die "oder"-Frage gibt es die klassische Antwort: "ja!"


    Ich denke schon, dass man jenseits einer unsicheren Heuristik Bewertungskriterien formulieren kann, die bis zu einer bestimmten Grenze auch objektivierbar sind. Ich muss mir dabei nur gewiss sein, dass es keine letzte Verbindlichkeit für diese Kriterien gibt, das sie etwa von einer anderen Zeit, einer anderen gesellschaftlichen Gruppe usw. anders formuliert werden können. Die Geschichte ist ein gutes Beispiel von immer wieder wechselnden Qualitätskriterien, die sich u.U. gegenseitig ausschließen können, wie eine geforderte "Einfachheit, Natürlichkeit" (Musik der Aufklärung) gegen eine geforderte Dichte und Komplexität (Musik der "Spätromantik"). Entsprechend wurden eben zu der einen Zeit komplexe Werke als zu gelehrt (mit dem Problem hatte etwa Mozart zu kämpfen) angesehen, zwar bewundert, aber keinesweg als Standard angesehen, während andere Zeiten etwas auf eben diese Gelehrsamkeit sich etwas einbildeten.


    Arrangements zu verfertigen ist eben auch eine Kunst. Wenn man feststellt, wie Rieu bei seinen Arrangements gerade Kanten abfeilt, auf das Gefällige statt auf das Charakteristische, auf das Kleingliedrige schaut, auf den schnellen Effekt, auf das schnelle Einverständnis mit dem Publikum, das nicht durch Schärfen getrübt werden darf, so kann man ein Arrangement von Rieu doch eindeutig von einem von Schönberg oder BAZI unterscheiden (die "Rheinischen Kirmestänze" sind ein Genuss). Hier kann man von der Handwerklichkeit über die Intentionen des Arrangements schon zu einer Wertung kommen, meine ich.


    Liebe Grüße Peter

  • Zitat

    Original von Jacques Rideamus


    Eher nicht. Ich weigere mich jedenfalls, André Rieu als etwas anderes als ggf die Pornografie der klassischen Musik anzuerkennen, obwohl die Geigen da schluchzen, was sie können.


    Auch die Beatles, um nur ein bereits angeführtes Beispiel zu nennen, haben ja immer wieder auf ganze Orchester zurück gegriffen. "All You Need Is Love" mag aber zwar ein Klassiker seiner Gattung sein, klassische Musik ist es aber deswegen noch nicht.


    Würde ich auch sagen, dass ein solch oberflächliches Kriterium nicht Grundlage einer Definition sein kann. Aber die allgemeinere Version, die ich darunter nachgeliefert habe, könnte trotzdem Gültigkeit haben. Ein "Klassiker" ist kein Neuerer. Für jeden Künstler, der sich als Neuerer begreift (und das sollten eigentlich doch alle ambitionierten Künstler tun?) ist die Bezeichnung "Klassiker" doch ein Todesurteil, denn es impliziert, dass er "von gestern" ist.
    Dass zum Beispiel Brahms die Klassiker beerbe ist ja gerade auch von seinen Gegnern (z.B. Nietzsche) ins Feld geführt worden, um ihn in den Geruch des Altmodischen zu bringen, und genauso wirkt das Attribut "klassisch" in Bezug auf Musik auch heute auf die meisten Menschen.
    Natürlich liegt sowohl bei Brahms damals als auch bei Stockhausen oder wer weiß wem heute die Antwort auf die Frage, ob und wie stark man den jeweiligen Komponisten mit dem Begriff "Klassik" in Verbindung bringt, im Auge des Betrachters, die Grenzen sind am "Zeithorizont" und danach schwammig.


    Edit zum Edit: ;)

    Zitat


    EDIT: Dennoch sollte man den Ausgangspunkt nicht vergessen: wie befinden uns in einem "Klassikforum" und haben eine mindestens im Kern konsensfähige Auffassung, was dazu gehört und was nicht. Haben wir nur alle das gleiche Bauchgefühl oder lässt sich das nicht doch näher bestimmen?


    Wer von uns interessiert sich denn überhaupt für "Klassik", und eben nicht nur für ein mehr oder weniger kleines Segment daraus? Dieses Segment für sich selbst zu definieren, könnte den einzelnen erheblich einfacher fallen. Wenn bei mir z.B. das Interesse für Tanzmusik, Ballett, Operette gering ist, komme ich für mich näher an eine "E-Musik"-Definition; das hilft aber noch lange nicht bei der Definition von klassischer Musik im Allgemeinen.



    Gruß,
    Spradow.

  • Zitat

    Original von Ulrica
    Vorweg: Eine Beschränkung des Klassischen in der Musik auf Europa halte ich für unzulässig. Um zu dokumentieren, was ich damit meine, nenne ich die Peking - Oper, die auf jeden Fall klassisch zu nennen ist.


    Liebe Ulrica,


    die Peking-Oper ist allerdings in einem anderen Sinne "klassisch" wie eben Ragas auch "klassisch" sind. Wenn man die beiden Begriffe auseinanderhält, habe ich mit Deiner Feststellung keine Schwierigkeiten. Das ist eigentlich der Grundbegriff des Klassischen: Das Vorbildhafte, das Ausgereifte, das Vollendete. Dass ich diesen Begriff auch auf die Klassiker der Rockmusik, des Blues wie auch des Pop anwenden kann, versteht sich.


    Zitat

    Manche Werke der Jazz-, Pop-, und Bandmusik haben dies bereits geschafft und werden es künftig schaffen. Vielleicht sind wir in hundert Jahren soweit, mehrere "Klassiken" nebeneinander her zu besitzen.


    Nur eine kleine Annäherung…..


    Ich halte das für durchaus nicht unwahrscheinlich, ist uns doch auch so mancher Hit durch die Jahrhunderte erhalten geblieben - er hat für uns nur seinen Charakter verändert. Während L'homme armé für die Renaissance noch ein Gasserhauer war, ist für uns dieser Charakter nicht mehr nachvollziehbar. Es sind da also keine zwei Klassiken entstanden, sondern "L'homme armé" wurde eingegliedert, aus der Entfernung sind die Unterschiede für uns geschwunden.


    Wenn wir uns Unterhaltungsmusik des 19. Jahrhunderts ansehen, können wir eigentlich die beiden möglichen Prozesse erkennen: die Strauß-Walzer, die Unterhaltungsmusik waren, gehören jetzt ohne Zweifel zur "Klassischen Musik", das "Gebet einer Jungfrau" ist für uns in seinem Ausdruck eine Lächerlichkeit geworden. So denke ich, dass die Beatles einmal zur Klassischen Musik, und Dieter Bohlen ...


    Liebe Grüße Peter

  • Zitat

    Original von pbrixius


    Ich denke schon, dass man jenseits einer unsicheren Heuristik Bewertungskriterien formulieren kann, die bis zu einer bestimmten Grenze auch objektivierbar sind. Ich muss mir dabei nur gewiss sein, dass es keine letzte Verbindlichkeit für diese Kriterien gibt, das sie etwa von einer anderen Zeit, einer anderen gesellschaftlichen Gruppe usw. anders formuliert werden können. Die Geschichte ist ein gutes Beispiel von immer wieder wechselnden Qualitätskriterien, die sich u.U. gegenseitig ausschließen können, wie eine geforderte "Einfachheit, Natürlichkeit" (Musik der Aufklärung) gegen eine geforderte Dichte und Komplexität (Musik der "Spätromantik"). Entsprechend wurden eben zu der einen Zeit komplexe Werke als zu gelehrt (mit dem Problem hatte etwa Mozart zu kämpfen) angesehen, zwar bewundert, aber keinesweg als Standard angesehen, während andere Zeiten etwas auf eben diese Gelehrsamkeit sich etwas einbildeten.


    Das sind jetzt aber Bewertungskriterien innerhalb der "Klassik". Die Empfindsamen meinten ja nicht, daß komplizierte Kontrapunktik keine Kunstmusik sei, aber eben zu "künstlich" usw. Interessanter wäre zu sehen, wie etwa "ernste Komponisten" im 19. Jhd. zu Opernparaphrasen u.ä. standen. Auch wenn die vermutlich weitgehend als Bestandteil des Musiklebens akzeptiert waren, so hätten wohl die wenigsten vertreten, daß eine Klaviersonate in der Beethoven-Nachfolge nicht in irgendeinem Sinne künstlerisch höher zu bewerten sei als ein virtuoses Arrangement von La Donn'e mobile. Und ich halte es für eher unwahrscheinlich, daß irgendein als Komponist ernstgenommener Musiker sich hauptsächlich auf Bearbeitungen beschränkt hätte.


    Zitat


    Arrangements zu verfertigen ist eben auch eine Kunst. Wenn man feststellt, wie Rieu bei seinen Arrangements gerade Kanten abfeilt, auf das Gefällige statt auf das Charakteristische, auf das Kleingliedrige schaut, auf den schnellen Effekt, auf das schnelle Einverständnis mit dem Publikum, das nicht durch Schärfen getrübt werden darf, so kann man ein Arrangement von Rieu doch eindeutig von einem von Schönberg oder BAZI unterscheiden (die "Rheinischen Kirmestänze" sind ein Genuss). Hier kann man von der Handwerklichkeit über die Intentionen des Arrangements schon zu einer Wertung kommen, meine ich.


    Ja klar. Aber er steht fraglos in der Tradition der abendländischen Kunstmusik. Es könnte also erstmal höchstens sehr schlechte Klassik sein. Um ihn ganz rauszuwerfen, muß man ihm nach Klawirr entweder die Produktivität der Auseinandersetzung mit der Tradition ankreiden oder den Kunstcharakter absprechen. Kann man sicher beides.


    Ein interessanterer Grenzfall (wenn überhaupt einer) sind vielleicht die Originale der Strauß-Familie


    :hello:


    JR

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