Wann ist ein Komponist bedeutend?

  • Zitat

    Original von pbrixius
    Wie nun kann man solche Solitäre und Kleinode finden, wie ihre Bedeutung auch für uns heute begründen?


    Ein Weg ist sicherlich der, dass man ihre Bedeutung für ihre Zeit nachweist. Für jeden, der dieser Epoche aufgeschlossen ist, wird dies ein entscheidender Fingerzeig sein, sich ernsthaft mit dem Werk zu beschäftigen. Wenn man von Pergolesi weiß, wie sehr er von seinen Zeitgenossen und den nachfolgenden Generationen geschätzt wurde, bevor er über Jahrhunderte wieder einen Schönheitsschlaf in den Archiven hielt, so weiß man, dass sich eine Beschäftigung mit ihm lohnt.


    Diesen Textabschnitt finde ich ungemein interessant. Denn Peter redet hier über etwas, daß m.E. sehr wichtig ist.


    Erstens muß man natürlich unterscheiden zwischen die Schätzung von Kollegen und vom Publikum.
    Zweitens ist die Schätzung von Kollegen auch nicht zuverlässig.
    Drittens gilt die Frage "Ist "bedeutend" gleichzusetzen mit "(sehr) gut"?


    Betrachtet man ein Werk bzw. einen Komponisten mit den Augen von Zeitgenossen, dann bekommt man eben ein "subjektiveres" Urteil als wenn das heute geschehen würde.
    Muß ich mich halten an das Urteil Goethes, dann wäre Zelter ein größer Komponist als Schubert.
    Ich gebe sofort zu: Goethe war kein Musiker. Aber... was hilft es, wein ein Genie bei den Kollegen bekannt bleibt, aber keine Achtung genießt vom Publikum. Das ihn überhaupt nicht kennt. Ist er dann "bedeutend"?


    Was also ist das Kriterium, um sagen zu können "Er war ein (sehr) guter bzw. bedeutender Komponist".
    Die Anerkennung von sowohl Musiker als Publikum?


    Das schönste Beispiel ist vermutlich der Leipziger Thomaskantor. Bach war bei "Insider" bekannt, aber da draußen... Erst Mendelssohn machte ihn bekannt, und sogar berühmt.
    War Bach dann ein schlechter Komponist, bevor er aus der Vergessenheit hervorgehoben wurde? Nein, natürlich nicht. Aber die Maßstäbe änderten sich.


    Und da denke ich, daß ich sagen kann: "Wir können Abstand nehmen von den damaligen, durch den Zeitgeist getrübten Urteile. Eine objektivere Meinung geben." Aber die endgültige Antwort geben, bleibt mir/uns versagt.
    Oder sehe ich das falsch?


    LG, Paul

  • Zitat

    Original von musicophil
    Das schönste Beispiel ist vermutlich der Leipziger Thomaskantor. Bach war bei "Insider" bekannt, aber da draußen... Erst Mendelssohn machte ihn bekannt, und sogar berühmt.


    Das stimmt ja so nicht. Denn "bereits" Mozart studierte Bach, dessen Musik in Wien Mitte des 18. JHs sehr gepflegt wurde - und Beethoven lernte anhand von Bachs WTC.


    Zitat

    Original von PBrixius
    Wenn man von Pergolesi weiß, wie sehr er von seinen Zeitgenossen und den nachfolgenden Generationen geschätzt wurde, bevor er über Jahrhunderte wieder einen Schönheitsschlaf in den Archiven hielt, so weiß man, dass sich eine Beschäftigung mit ihm lohnt.


    Wenn man nicht das Falsche zuerst liest:


    Pergolesi. Mir ist er kein Nierenprüfer. Sein Stabat Mater ist fehlerhaft und durch und durch der Text zum Ausdrucke genotzüchtigt.


    [Joseph Martin Kraus: Etwas von und über Musik fürs Jahr 1777, Frankfurt am Mayn, bey den Eichenbergschen Erben, 1778]


    :hello:


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Zitat

    Original von musicophil


    Diesen Textabschnitt finde ich ungemein interessant. Denn Peter redet hier über etwas, daß m.E. sehr wichtig ist.


    Erstens muß man natürlich unterscheiden zwischen die Schätzung von Kollegen und vom Publikum.
    Zweitens ist die Schätzung von Kollegen auch nicht zuverlässig.
    Drittens gilt die Frage "Ist "bedeutend" gleichzusetzen mit "(sehr) gut"?


    Lieber Paul,


    ich abstrahiere gern von dem Gegenstand, der Ausgangspunkt meiner Frage war, wie Du es mit Deiner Threaderöffnung nahelegst, auch wenn Schuster ein gutes Beispiel ist. So nehmen wir die unabgeschlossene "Kleinmeister"-Debatte an diesem Punkt wieder auf :)


    Wichtig ist mE, dass man, wie Du es tust, unterscheidet zwischen der [Wert-]Schätzung von jemandem.


    Das beginnt (und endet nach einem entsprechendem Spannungsbogen) mit der eigenen Wertschätzung. Wenn mir eine Musik gefällt oder missfällt, so erhält sie aus diesem Erlebnis eine Bedeutung für mich, die sich in dem einen Fall in Zustimmung, im anderen in Ablehnung äußert. Über diese kann ich mit niemandem diskutieren, sie ist mein Eigentum. Sie kann auch jemandem anderen nichts sagen, sondern der wird ebenso ein Musikstück mögen oder ablehnen. Der eine wird sagen: "Ich mag die Kleine Nachtmusik", der andere "Ich hasse die Kleine Nachtmusik" - und kein Fachurteil und keine musikgeschichtliche Erkenntnis kann das ändern.


    Wenn ich aber beginne, meinen Geschmack zu entwickeln, ändert sich das behutsam. Wie es eine Erziehung der Gefühle gibt, so auch eine Erziehung des Hörens, eine ästhetische Erziehung. Bei vielen Musikfreunden hat sie früh angefangen, sei es über den Instrumentalunterricht, sei es über autodidaktische Lektüre. Als Kind begann ich Konzertführer zu lesen, als Heranwachsender waren Konzertführer mein Leitfaden in der Suche nach mir unbekannter Musik. Und irgendwann sprang es dann in musikhistorische Literatur um, erst populärere (wie etwa Huchs "Beethovens Vollendung"), musikjournalistische und dann musikwissenschaftliche. Dabei maß und entwickelte ich meine Urteilsfähigkeit an den Besten, achtete darauf, wo ich vorschnell geurteilt habe, gewöhnte mir an, aufmerksamer zuzuhören, am Ende in das einzutreten, was für mich ästhetische Kommunikation ist: die Sprache des Kunstwerks zu verstehen.


    Um es anders zu sagen, in Hinsicht auf Deine Anfangsfrage: bedeutend wurden Kunstwerke für mich zunächst dadurch, dass bedeutende und erfahrene Menschen sie als bedeutend bezeichneten. Als Schüler habe ich unselbständige und schülerhafte, naseweise Urteile gefällt, als Lernender gelernt, andere Urteile zu verstehen und zu beurteilen, als Erwachsener habe ich meine eigene Urteilsfähigkeit auf der Grundlage einer jahrhundertelangen Erfahrung erworben, die ich mir durch mein Studium angeeignet habe.


    Aber nun stehe ich vor einem neuen, unbekannten Werk - da zeigt es sich, was Übung und Studium wert ist, kritisches Hören aber auch selbstkritisches Sichbefragen. Ein Unerfahrener wird sich an anderen Urteilen (wie die bei amazon, einer wissenschaftlich sehr zuverlässigen Institution) und an oberflächlichen Phänomenen orientieren. Bei mangelnder Erfahrung wird er, wie Liebestraum, einfach das Urteil eines anderen übernehmen, von dem er glaubt, dass es seinen Eindrücken entspricht. Es hat dann wenig Sinn, sich mit einem so naiven Urteil auseinanderzusetzen, man hakt es, wie es der Lullist zu Recht tat, unter persönlicher Meinung ab, die eben so bedeutend ist, wie der, der sie äußerte.


    Diskriminierung im Sinne einer Unterscheidungsfähigkeit ist der Beginn jeden verständigen Urteils. Wenn ich keinen oder nur einen geringen "Wiedererkennungswert" feststelle, dann habe ich mich nicht bemüht, die Sprache eines Komponisten und seines Werkes zu verstehen. Je mehr ich mich mit der Zeit und der Musik dieser Zeit beschäftigt habe, je mehr Kennerschaft ich habe, umso mehr werde ich hören. Wenn ich allerdings Hasse und Schuster nicht auseinander halten kann, dann fehlt mir diese Kennerschaft. Diese Kennerschaft, um dort noch einmal nachzusetzen, ist Voraussetzung, wenn ich anderen etwas über Musik mitteilen will, das nicht ein müder Aufguss von Vorurteilen ist, sondern das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit dem Werk, das auch für andere dieses Werk zugänglich macht.


    Denn: Jedes Kunstwerk verdient eine Wertschätzung, verdient, dass man es kennen lernt. Wo wir uns bescheiden, weil einfach die Lebenszeit nicht ausreicht, hat dies nicht mit Werturteilen, sondern vor allem mit Vor-Urteilen zu tun. Etwa dem Vor-Urteil, dass uns eine bestimmte Epoche, ein bestimmter Komponist nicht so sehr gefällt. Nähmen wir uns die Zeit, gäben wir uns die Mühe, so würden wir unser Urteil revidieren. Deshalb zweifele ich etwa die Urteile bezüglich Massenet nicht an, ich kann sie nicht teilen, weil ich mich aus zeitökonomischen Gründen nicht ernsthaft mit Massenet beschäftigt haben. Es wäre aber schlechter Stil, ihn deshalb herabzuwürdigen oder abzulehnen.


    Als Historiker ist für mich nicht unbedeutend die Frage, welche Einschätzung, welchen Wirkung ein Komponist und sein Werk in seiner Zeit hat:


    Zitat

    Betrachtet man ein Werk bzw. einen Komponisten mit den Augen von Zeitgenossen, dann bekommt man eben ein "subjektiveres" Urteil als wenn das heute geschehen würde.


    Damit möchte ich mich dann in einem Folgebeitrag beschäftigen.


    Liebe Grüße Peter

  • Zitat

    Original von Ulli


    Das stimmt ja so nicht. Denn "bereits" Mozart studierte Bach, dessen Musik in Wien Mitte des 18. JHs sehr gepflegt wurde - und Beethoven lernte anhand von Bachs WTC.


    Lieber Ulli,


    Du bestätigst meine Äußerung. Denn Mozart und Beethoven waren eben "Insider". Sie hatten ja Musik studiert. Und bei ihrem Musikstudium beschäftigten sie sich auch mit Bach.
    Besser hätte ich darum schreiben können "Erst Mendelssohn machte ihn allgemein bekannt..."


    LG, Paul

  • Lieber Paul,


    Nur einige Gedankensplitter ohne Anspruch auf umfassende Wichtigkeit:


    Bedeutend im Sinn von überlegene Qualität wird sich immer nur begrenzt definieren lassen, da hier das persönliche Gefallen bzw. die Summe solcher Empfindungen von mehreren Leuten eine entscheidende Rolle spielt. Man kann aber natürlich immer die Frage stellen: Warum spricht mich dieses oder jenes Werk an, was sind die Ursachen dafür? Damit kommt man schon weiter. Es hat aber im Grund wenig Sinn, zu streiten, ob Rubens oder Rembrandt, Mozart oder Beethoven, Weber oder Lortzing die jeweils bedeutenderen Künstler sind. Jeder hat seine Vorzüge und Schwächen in bestimmten Bereichen. Pauschalurteile sind immer unbrauchbar.


    Bedeutend kann ferner auch im Hinblick auf einflußreich, weichenstellend, vorbildhaft, schulbildend usw. verstanden werden. Dafür ist freilich nicht immer "Qualität" nötig - schrecklicher Kitsch verbreitet sich oft virusartig - , jedenfalls aber bestimmte Qualitäten, die sich erklären lassen und mit Qualität in vorigem Sinn nicht deckungsgleich sind. Es gibt natürlich bedeutende Werke, die eigentlich wenig oder zumindest unmittelbar wenig Wirkung nach sich zogen (Beispiel aus der bildenden Kunst: Die Errungenschaften der van Eycks waren so modern, daß sie zum Teil gar nicht richtig erfaßt oder geschätzt wurden, im 15.Jahrhundert dominiert in der niederländischen Malerei bekanntlich die Flémalle-Rogier-Richtung, die in manchem eine Rückwendung zu traditionellen Idealen bedeutet). Deutliche Nachwirkung kann also ein Kriterium sein, muß es aber nicht.


    Um die Bedeutung eines Werks zu erfassen, muß man natürlich auch die Bedingungen feststellen, unter denen es entstanden ist, und kann daran auch etwas festmachen: Ob die uns ansprechende Qualität eigentlich die des großen Stroms ist, in dem die konkrete Schöpfung sozusagen mitgeschwommen ist, oder ob hier eine spezifisch individuelle Kreation vorliegt. Wie man so etwas bewertet, ist aber bis zu einem gewissen Grad auch wieder subjektiv. Man kann ein Werk klassifizieren, indem man untersucht, inwieweit es den Erfordernissen und Bedingungen seines Entstehungskreises gerecht wird (oder in bestimmter Weise davon abweicht), inwieweit es seinen Effekt durch individuelle Merkmale erzielt oder durch allgemein verwendete.


    LG


    Waldi

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  • Zitat

    Original von Ulli
    Wenn man nicht das Falsche zuerst liest:


    Pergolesi. Mir ist er kein Nierenprüfer. Sein Stabat Mater ist fehlerhaft und durch und durch der Text zum Ausdrucke genotzüchtigt.


    [Joseph Martin Kraus: Etwas von und über Musik fürs Jahr 1777, Frankfurt am Mayn, bey den Eichenbergschen Erben, 1778]


    Lieber Ulli,


    ich denke, dass man als Komponist das Recht auf eine eigene Art von subjektiven Urteilen hat (seitenweise könnte man sie etwa von Strawinsky zitieren, der Pergolesi ja schätzte, nur dass das, was er von Pergolesi schätzte, nicht von Pergolesi war :) ). Als Komponist muss ich ja meinen eigenen Stil finden und ihn gegen andere Stile absetzen und verteidigen. Da wird man natürlicherweise wesentlich rigoroser gerade an den Stellen urteilen, an denen man selbst empfindlich ist. Wie es unter den Komponisten eben auch solche wie Brahms gibt, die sich sehr sachkundig über Zeitgenossen und Vorgänger geäußert haben. Aber die Urteile von Beethoven oder Mozart (etwa zu Clementi oder Kozeluch) nehme ich nicht ganz Ernst - sie sind eindeutig Äußerungen über Konkurrenten.


    Liebe Grüße Peter

  • Zitat

    Original von musicophil
    Du bestätigst meine Äußerung. Denn Mozart und Beethoven waren eben "Insider". Sie hatten ja Musik studiert. Und bei ihrem Musikstudium beschäftigten sie sich auch mit Bach.
    Besser hätte ich darum schreiben können "Erst Mendelssohn machte ihn allgemein bekannt..."


    Lieber Paul,


    Ulli weist zu Recht zur Legendenhaftigkeit des "vergessenen" Bach hin. Mit seinem Tod hat im Gegenteil durch C.P.E. Bach eine sehr bewusst gesteuerte Kampagne eingesetzt, ihn in der aktuellen Diskussion zu halten. In der Kirchenmusik war er immer präsent, was Mendelssohn "wiederentdeckte" - denn "entdeckt" hatte ihn eigentlich Zelter - war der Bach der großen Oratorien, für den seine Zeit eben in der Romantik mit den großen Chorfesten kam. Damit hat Mendelssohn Bach nicht wiederentdeckt, sondern aus der Kirche in den Konzertsaal gebracht.


    Liebe Grüße Peter

  • Meine Lieben,


    Eigentlich müßte die Frage stets präzisiert werden: Bedeutend im Hinblick worauf? Bedeutend in welcher Hinsicht?


    Nur dann lassen sich Antworten finden, die über den subjektiven Wahrnehmungsbereich hinaus Geltung beanspruchen dürfen.


    LG


    Waldi

  • Zitat

    Original von pbrixius
    Dabei maß und entwickelte ich meine Urteilsfähigkeit an den Besten...


    Um es anders zu sagen, in Hinsicht auf Deine Anfangsfrage: bedeutend wurden Kunstwerke für mich zunächst dadurch, dass bedeutende und erfahrene Menschen sie als bedeutend bezeichneten.


    Lieber Peter,


    Auch die Einschätzung als "Beste" ist natürlich arbiträr. Denn auch der Beste macht Fehler.


    Ich erinnere an Herrn Kesting, der ein Buch über SängerInnen geschrieben hat. Vieles wird ohne ein weiteres Kommentar zitiert. Er soll und muß es ja wissen. Denn gilt als Koryphäe.
    Aber ebenso leicht wird von ihm gesagt "Da irrt er sich aber sehr". Und das sagen dann manchmal dieselben Menschen, die zuerst seine Worte fast apodiktisch zitierten.
    Sie können über solche Stimmen noch selbst urteilen, weil sie eben Tonaufnahmen kennen. Oder die Artisten (noch) selbst erlebten.


    Damit will ich nur andeuten, daß Zeitgenossen hier und da doch eine andere Meinung haben. Wenn wir aber ein Jahrhundert später Herrn Kestings Buch lesen würden, fehlte uns vermutlich das Wissen über die von ihm beschrieben Stimmen, daß heute doch ziemlich bekannt sein könnte. Wenn man sich darum bemühen wolle.


    LG, Paul

  • Zitat

    Original von Walter Krause
    Um die Bedeutung eines Werks zu erfassen, muß man natürlich auch die Bedingungen feststellen, unter denen es entstanden ist, und kann daran auch etwas festmachen: Ob die uns ansprechende Qualität eigentlich die des großen Stroms ist, in dem die konkrete Schöpfung sozusagen mitgeschwommen ist, oder ob hier eine spezifisch individuelle Kreation vorliegt. Wie man so etwas bewertet, ist aber bis zu einem gewissen Grad auch wieder subjektiv.


    Lieber Waldi,


    Auch wenn ich Deine Meinung sehr gut folgen kann und größtenteils teile, sehe ich doch ein Punkt, daß Du nur implizit erwähntest.
    Später ist es leichter "objektiver" zu urteilen, als im Zeitalter der Schöpfung eines Werkes.


    LG, Paul

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  • Zitat

    Original von musicophil
    Auch die Einschätzung als "Beste" ist natürlich arbiträr. Denn auch der Beste macht Fehler.


    Lieber Paul,


    wir alle machen sie, wir machen sie nur aus unterschiedlichen Gründen und auf unterschiedlichem Niveau.


    Zitat

    Ich erinnere an Herrn Kesting, der ein Buch über SängerInnen geschrieben hat. Vieles wird ohne ein weiteres Kommentar zitiert. Er soll und muß es ja wissen. Denn gilt als Koryphäe.
    Aber ebenso leicht wird von ihm gesagt "Da irrt er sich aber sehr". Und das sagen dann manchmal dieselben Menschen, die zuerst seine Worte fast apodiktisch zitierten.
    Sie können über solche Stimmen noch selbst urteilen, weil sie eben Tonaufnahmen kennen. Oder die Artisten (noch) selbst erlebten.


    Herr Kesting gehört zwar in bestimmten Bereichen für mich zu den zu befragenden Autoritäten, aber weißGott nicht zu den "Besten". Das würde hier deutlich ins OT führen, wenn ich ausführte, wo und warum ich auch Kesting befrage ... und warum das nur wenige Male im Verlauf eines Jahres ist, obwohl ich nie in der Wohnung ohne eine Anzahl von aufgeschlagenen Büchern bin :)



    Zitat

    Damit will ich nur andeuten, daß Zeitgenossen hier und da doch eine andere Meinung haben. Wenn wir aber ein Jahrhundert später Herrn Kestings Buch lesen würden, fehlte uns vermutlich das Wissen über die von ihm beschrieben Stimmen, daß heute doch ziemlich bekannt sein könnte. Wenn man sich darum bemühen wolle.


    Deshalb ist eben Kesting hier die falsche "Tankstelle". Bei ihm geht es im weitesten Sinne um Aspekte der Interpretion von Kunstwerken, weniger bis gar nicht um eine Analyse von Kunstwerken, es geht um Künstlerkritik und nicht um Kunstkritik. Mit der Frage, welche Bedeutung ein Komponist hat, scheint mir das wenig zu tun zu haben.


    Liebe Grüße Peter


  • Cher Paul,


    Peter hat es bereits mit anderen Worten dargestellt: J. S. Bach war eigentlich nach seinem Ableben niemals unbedeutend gewesen bzw. geworden.


    In Otto Bibas Bericht Mozart und die 'Alte-Musik'-Szene in Wien [veröffentlicht im Essayband "Experiment Aufklärung" im Wien des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern, 2006, S. 457ff.] liest man im Absatz Die Bach-Kenntnis in Wien u.a. von umfangreichen, nein bedeutende[n] Sammlungen alter Musik mit beeindruckenden Bachbeständen, darunter die Messe h-moll, das Weihnachtsoratorium und etliche Kantaten. Biba schreibt: All das war also zu Mozarts Zeit in Wien präsent. Und schlußendlich: Ganz unabhängig von diesen Sammlungen waren auch viele Bach'sche Klavierwerke in Wien in den 1780er Jahren in Abschriften vielerorts präsent [...]. Biba zitiert sich hier selbst [Biba: Von der Bach-Tradition, S. 17, 28].


    :hello:


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Zitat

    Original von Walter Krause
    Nur einige Gedankensplitter ohne Anspruch auf umfassende Wichtigkeit:


    Lieber Waldi,


    ich darf hier auch gleich Deinen mE wichtigen Hinweis hereinkopieren:


    Zitat

    Eigentlich müßte die Frage stets präzisiert werden: Bedeutend im Hinblick worauf? Bedeutend in welcher Hinsicht?


    Eine Ebene wäre meiner Meinung nach der Doppelcharakter eines Kunstwerks als ästhetisches Gebilde und als historisches Dokument. Selbst wenn Beethovens Schlachtmusik "Wellingtons Sieg" seinen Kunstcharakter aufgezehrt haben könnte, so ist sie immer noch ein bedeutendes kulturhistorisches Dokument.


    Ich nehme aber dankbar auf, dass meine Frage für wen? um die historische Dimension erweitert wird.


    Zitat

    Bedeutend im Sinn von überlegene Qualität wird sich immer nur begrenzt definieren


    Da sind wir uns einig, man kann in der Beurteilung von Strukturen durchaus unterschiedlich Gewichtungen feststellen, etwa die symphonische Behandlung von Opern gegenüber einer von der Gesangslinie her bestimmten, ohne dass man deshalb von einer Überlegenheit von Wagner gegenüber Donizetti sprechen könnte. Es sind unterschiedliche ästhetische Entscheidungen getroffen worden. Man tut gut daran, diese nicht zu diskutieren, sondern das Verständnis des Werkes aus den unterschiedlichen Perspektiven zu fördern.


    Zitat

    Bedeutend kann ferner auch im Hinblick auf einflußreich, weichenstellend, vorbildhaft, schulbildend usw. verstanden werden.


    Da ich mich gerade mit der Opernsinfonie zu Beginn des 18. Jahrhunderts beschäftige, könnte ich auch mit Beispielen dienen, wie aus späterer Sicht Werke als "bedeutend" charakterisiert wurden, nur weil sie zufällig in der Breite, die es damals gab, bestimmte Strukturen erkennen ließen, die es später bei der Sonatenform (allerdings aus anderen Gründen!) auch gab. Diese teleologische (Kunze ist noch rigoroser und spricht von einem biologischen Determinismus) Sichtweise behindert deutlich, die Werke in dem Umfeld, dem sie entstammen, wahrzunehmen und mit den Wirkungen, die sie beabsichtigen.


    Gerade da muss man darauf achten, dass man nicht durch die Scheuklappen der letzten Generationen blickt. Umso wichtiger ist es, das eigene Erkenntnisinteresse zu definieren (und kritisch zu befragen), wie das Erkenntnisinteresse der verehrten Vorgänger wahrzunehmen.


    Zitat

    Deutliche Nachwirkung kann also ein Kriterium sein, muß es aber nicht.


    Es ist zumindest im Sinne der kulturhistorischen Bedeutung ein gültiges Kriterium.


    Zitat

    Um die Bedeutung eines Werks zu erfassen, muß man natürlich auch die Bedingungen feststellen, unter denen es entstanden ist, und kann daran auch etwas festmachen: Ob die uns ansprechende Qualität eigentlich die des großen Stroms ist, in dem die konkrete Schöpfung sozusagen mitgeschwommen ist, oder ob hier eine spezifisch individuelle Kreation vorliegt. Wie man so etwas bewertet, ist aber bis zu einem gewissen Grad auch wieder subjektiv. Man kann ein Werk klassifizieren, indem man untersucht, inwieweit es den Erfordernissen und Bedingungen seines Entstehungskreises gerecht wird (oder in bestimmter Weise davon abweicht), inwieweit es seinen Effekt durch individuelle Merkmale erzielt oder durch allgemein verwendete.


    Das eben, lieber Waldi, hätte ich mir bei der Vorstellung eines hier unbekannten Komponisten erwartet. Wenn ich mich für eine bestimmte Zeit (die ich für mich als "Musik der Aufklärung" definiert habe) interessiere, werden es eben die von Dir erwähnten Überlegungen sein, ob man nun Schusters Demofoonte im Rahmen einer Verbürgerlichung der höfischen Seria sieht, ob man die neuen Lösungen in den Blick nimmt, die Schuster vorlegt, weil er von der Darstellung der Personen über austauschbare Affekte zu der unverwechselbaren Charakterisierung von Personen vordringt, welche Wirkungen die neuen Errungenschaften der Orchestermusik nun auf die ehrwürdige Gattung der Seria haben usw. usf.


    Liebe Grüße Peter


  • Naklar,


    ich habe das Zitierte auch nur etwas provokant aus dem Ärmel geschüttelt. Die Frage wäre aber, wer - also welche Personen - sind überhaupt je dafür verantwortlich gewesen, Komponisten [ob tot oder lebendig] bekannt sein zu lassen. Es gab ja damals keine Discographien, auf welche der musikalische Endverbraucher zurückgreifen konnte, es gab allenfalls - teure - Drucke oder mühevoll angefertigte Abschriften. Ich gehe davon aus, daß also die Musiker selbst tonangebend waren, was das musikalische Programm betraf. Ich glaube kaum, daß ein Endverbraucher, der Pergolesis Stabat einmal hörte, diesen zum Genie erklärte. Das waren m. E. doch eher die Musiker, die sich dafür entschieden und diese Musik folglich publik machten.


    Und natürlich müssen die "Neuerer", zu denen ich Kraus ebenfalls zähle, ihre Sache irgendwie vertreten. Ob allerdings die gewählte Art und Weise, nämlich das "Bessere" anhand eines angeblich schlechten Beispiels zu verkaufen, die bestmögliche ist, da bin ich mir nicht sicher...


    :hello:


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Zitat

    Original von musicophil
    Später ist es leichter "objektiver" zu urteilen, als im Zeitalter der Schöpfung eines Werkes.


    Lieber Paul,


    Ja und nein. Leichter, weil man Distanz hat und Phänomene im Blickwinkel, welche den Zeitgenossen vielleicht nicht bekannt waren.
    Schwerer, weil zuviele wichtige Informationen, die für die Zeitgenossen selbstverständlich waren, für uns verloren sind und meistens auch bleiben.


    Je mehr Informationen ich zusammentrage, desto näher bin ich theoretisch dem unerreichbaren Ziel der Objektivität.
    Allerdings muß ich meine Quellen erst kritisch sichten. Kann ich mich auf sie verlassen, oder suggerieren sie absichtlich/unabsichtlich etwas Falsches? Was kann ich aus ihnen ableiten? Was fehlt? Gibt es Anspielungen, die ich mangels Wissen nicht nachvollziehen kann? Nicht immer haben wir es so leicht wie im "Don Giovanni", wo sich Mozart selbst und andere so zitiert, daß wir sofort Bescheid wissen (oder das wenigstens glauben).


    Natürlich ergeben sich hinterdrein oft auch Aspekte, die seinerzeit unmöglich zu erkennen waren - wie z.B. verspätet einsetzende Resonanz.


    Über das Mittelalter objektiv zu urteilen, ist für uns so schwer, weil die Beurteilungsgrundlage so schmal oder oft überhaupt nicht vorhanden ist. Aber auch bei einer Epoche, die erst relativ kurze Zeit zurückliegt, wie das 19.Jahrhundert (oder auch das 20.) stelle ich oft erstaunliche Inkompetenz nicht nur bei Laien fest. Manchmal kann man sogar sagen, das war so und so, denn ich war dabei. Aber selbst als unmittelbarer Zeitzeuge nehme ich die Umwelt ja subjektiv wahr. Vergleiche historische Berichte von an sich glaubwürdigen Personen über denselben Vorgang: Da gibt es himmelweite Unterschiede, obwohl alle die Wahrheit sagen.


    Wenn eine große Leistung zur richtigen Zeit entsteht und bei den richtigen Empfängern ankommt, wird sie leicht als bedeutend erkannt. Entsteht sie zu einem ungünstigen Zeitpunkt und findet sie keinen direkten Adressaten, dann gerät sie womöglich in Vergessenheit und ihre Bedeutung wird, wenn überhaupt, erst viel später festgestellt.



    Manche Werke haben große Bedeutung für ihre unmittelbare Gegenwart, wenig später sind sie veraltet und gelten als Eintagsfliegen. Andere wieder lassen zunächst kalt und gewinnen erst ihre Attraktivität im Vergleich mit anderen Erfahrungen (viele Opern sind zunächst durchgefallen und haben sich erst mit Verzögerungen durchgesetzt). Auch diesbezüglich gibt es also verschiedene Arten von Bedeutung. Das ist ebenso kompliziert wie spannend und endlos.


    LG


    Waldi

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  • Lieber Peter,


    Hundertprozentige Zustimmung :yes: .


    Oder, um in der Diktion des Threads zu bleiben: Deine Meinung ist für mich höchst bedeutsam und ebenso für etliche Taminos samt Umkreis, für die Mehrzahl der Bevölkerung wird man dasselbe leider schwerlich behaupten können. Was sehr bedauerlich ist, aber von uns wohl hingenommen werden muß. Warten wir ab, was einmal die Chronisten dieses Forums in hundert Jahren davon halten. Wir können uns dann ja auf der Wolke (oder allenfalls im Kessel :( ) darüber weiter unterhalten, wie es mit der Relevanz steht. :D


    LG


    Waldi

  • Zitat

    Original von Ulli
    J. S. Bach war eigentlich nach seinem Ableben niemals unbedeutend gewesen bzw. geworden...


    Nur kurz ergänzend zum Nebenthema Bach:


    1807 erschien eine Neuauflage der Bachschen Clavierwerke – es muss also bereits eine davor gegeben haben.
    Auch zu Beginn des 19. Jh. unternahm kein Verleger so etwas, wenn er sich nicht wirtschaftlichen Gewinn erhoffte, sprich: der Meinung war, es auch verkaufen zu können.


    Vielleicht lohnte sich ein Thread "Die hartnäckigsten Legenden zu JSB".

  • Zitat

    Original von Ulli
    Nicht unähnlich ist ja auch dieser Thread:


    Warum wurden Komponisten "vergessen" ?


    :hello:


    Lieber Ulli,


    vielen Dank für den Hinweis. Einige der Antworten kann man ja hierhin übernehmen und kommentieren, vieles in dem Thread geht ja in eine andere Richtung.


    Es hat mit der Verbürgerlichung offenbar eine Zeitenwende gegeben. Zwei der angesprochenen Phänomene möchte ich nennen


    1) der Verfall der höfischen Musik und ihrer Tradition. Das könnte man an der Geschichte der Opera seria zeigen, die mit der historischen Wende ihren Lebensraum verloren hat.


    2) vor allem im deutschen Raum die Fokussierung auf Person und Werk Beethovens, um mal Alfreds schöne Feststellung zu zitieren:


    Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Kurz nach Beethovens Tod gab es für Komponisten zwei Kardinalfehler um negiert zu werden:


    1) sie waren ähnlich wie Beethoven
    2)sie waren anders als Beethoven


    Das galt eben nicht nur kurz nach Beethovens Tod, schon die seltsame Periodisierung "Vorklassik" zeigt, wie frühere Musik unter dem Aspekt der Wiener Klassik gesehen wurde. Wenn man in ihr nur nach Strukturen schaut, die man in der Wiener Klassik wiederfindet, funktionalisiert man die Musik und nimmt ihr ihre Bedeutung in jedem Sinne des Wortes.


    Mit der historistischen Sichtweise ist man zu einer relativierenden Sicht zurückgekehrt, die sich auch mehr und mehr (u.a. dank HIP-Musiker) im Musikleben durchsetzt. Wenn auch die Schwerpunkte noch immer im 19. Jahrhundert liegen, so haben sich doch die Ohren wieder früherer Musik geöffnet. Händel wird ja nicht nur aufgeführt, weil er für seine Zeitgenossen bedeutend war, sondern weil er über die heutige Rezeption auch Bedeutung für uns heute gewonnen hat.


    Da ich IHN mal wieder lese und höre:


    Was ich besitze, seh ich wie im Weiten,
    Und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten.


    Wie könnte man besser den Historismus charakterisieren? :)


    Liebe Grüße Peter

  • Man könnte die Ausgangsfrage zynisch in etwa so beantworten:


    1) muß er zumindest 100 Jahre tot sein.
    2) darf er dann noch immer nicht vergessen sein


    aber das wäre natürlich zu billig - wenngleich ein wahrer Kern in dieser Definition vorhanden ist.


    Eine Andere Antwortmöglichkeit wäre:


    Gar nicht:


    Komponisten schreiben Werke, sie werden anerkannt - oder nicht. Und WENN sie anerkannt werden, dann zumeist in einer bestimmten Epoche.
    Wir neigen DERZEIT (oder besser gesagt: unserem Zeitgeist entsprechend neigt MAN derzeit) eher dazu Komponisten als "bedeutend" einzustufen, die zu Lebzeiten (meist - aber nicht immer)
    eher verkannt waren, weil sie sich dem damals vorherrschenden Zeitgeist widersetzten - und deshalb oft (in Bezug auf ihre Präsenz in der Öffentlichkeit) scheiterten, besonders also Komponisten die "ihrer Zeit voraus" waren - Neutöner jeglicher Art und jeglichen Kalibers.


    Ob ein Komponist jedoch zu Lebzeiten anerkannt wurde oder nicht sagt nichts über seine BEDEUTUNG aus - allenfalls über seine Beliebtheit. - und das sind zwei paar Schuhe. Ich gehe sogar soweit, zu behaupten, daß auch die Wert- oder Geringschätzung durch Komponistenkollegen oder Kritiker über die BEDEUTUNG eines Komponisten wenig bis nichts aussagt. Allenfalls über den Geschmack des Kritikers oder das Verhältnis des Kollegen zum Werk des Komponisten. Hanslick- er wird heute fälschlicherweise gerne ironisch als "Meister des Fehlurteils" bezeichnet - war alles andere als das. Er war lediglich der Fahnenträger einer konservativen Ästhetik des 19. Jahrhunderts. Dadurch stehen seine Kritiken in eigenartigem Widerspruch zu den späteren Entwicklungen der Musikgeschichte.


    MEINE Definition wäre folgende:
    BEDEUTEND sind jene Komnponisten, die ENTWEDER einen Einfluß auf ihre Nachfolger hatten, sozusagen die musikalische Entwicklung der Zukunft prägten - unabhängig davon ab sich die als Sackgasse herausstellte oder nicht. Auch Sackassen können Marksteine der Geschichte sein. Ferner würde ich jene Komponisten als BEDEUTEND bezeichnen, welche Quasi Aushängeschilder einer Epoche sind - hiebei ist es aus meiner Sicht unbedeutend ob sie das - sachlich gesehen - zu recht - oder zu unrecht - geworden sind. Sie stehen quasi als Symbol für eine Epoche. Die Geschichte hat sie zu BEDEUTENDEN Figuren hochstilisiert. Sowas kann durchaus hinterfragt werden - aber zumeist erfolglos. Ich werde versuchen das Thema heute am Beispiel von FIDELIO anders aufzurollen (muß aber bevor ich mich dazu entschließe - recherchieren inwieweit das nicht schon in bestehenden Fidelio Threads geschehen ist) Man kann sich nämlich bei diesem Werk die Frage stellen - ob es sich um "die" Freiheitsoper schlechthin handelt - oder ein eher mittelmäßiges Libretto mit eklatanter Neigung zum Kitsch, welches lediglich durch Beethovens Musik erträglich gemacht wurde - egal wie auch immer - ein BEDEUTENDES Werk der Operngeschichte. So oder ähnlich kann man auch Komponisten sehen. Es mag VORZÜGLICHE Komponisten geben, die zu Lebzeiten hochberühmt uind beliebt waren - BEDEUTEND hingegen waren sie nicht - und sind es heute nur in Ausnahmefällen - wobei BEDEUTUNG bei Künstlern (im Gegensatz zu Naturwissenschaftern) immer eine Frage des Zeitgeschmacks ist. Sprach doch bereits Schumann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Haydn jegliche BEDEUTUNG ab. IHM hatte Haydn nichts mehr zu sagen....


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Man könnte die Ausgangsfrage zynisch in etwa so beantworten:


    1) muß er zumindest 100 Jahre tot sein.
    2) darf er dann noch immer nicht vergessen sein


    Lieber Alfred,


    das mit dem 100 Jahre-Totsein ist ja noch einfach nachweisbar (obwohl die Bedeutung von Bach oder Beethoven auch lange vor dieser Frist erkannt war), das zweite bringt mich auf die Frage: Von wem darf er noch immer vergessen sein?


    Wenn man das musikinteressierte Publikum als Träger des Bekanntheitsgrades nimmt, so ist dieses eben auch nur soweit informiert, wie es von Multiplikatoren informiert wird. Zugrunde liegen ein allgemeines Erkenntnisinteresse und der Rückgriff auf musikhistorisches Wissen. Zumindest kann man seit dem Vordringen des Historismus in die Konzertsäle so sehen.


    Deshalb meine ich, dass das Koppeln von Bedeutung und Bekanntheitsgrad wenig weiter bringt. Der Bekanntheitsgrad ist eine Sache der Popularität, von der Propagierung bestimmter Wertungen, von Kulturpolitik, auch von regionalen Traditionen (wie bei vielen britischen Komponisten), die mit der Bedeutung eines Komponisten nur wenig zu haben braucht.


    Also kommt man mE mit Deinen griffigen zwei Hypothesen nicht so recht weiter (wie übrigens auch der Vergessens-Thread zeigt).



    Zitat

    Eine Andere Antwortmöglichkeit wäre:


    Gar nicht:


    Das ist die pessimistische Gegenrede zu meinem: Jedes Kunstwerk ist bedeutend. In der Summe bedeutet es dasselbe :) - Es hängt eben von der Definition von "Bedeutung" ab.


    Zitat

    Komponisten schreiben Werke, sie werden anerkannt - oder nicht.


    Auch hier wieder die Frage: von wem anerkannt? Zumindest kann man als Regel annehmen, dass geschriebene Werke, erst recht aufgeführte, anerkannt. Schon dass sie geschrieben werden, verleiht ihnen Bedeutung, wenn sie aufgeführt werden, kommt Bedeutung im zweiten Sinne noch dazu. Anerkennung in mit Bedeutung nicht kongruent.


    Zitat

    Und WENN sie anerkannt werden, dann zumeist in einer bestimmten Epoche.


    Nun, das ist die Frage, ob wir nun die historische Variante vor Beethoven betrachten oder die mit dem Vordringen des Historismus. Durch das seit Mendelssohn mehr und mehr zunehmende Interesse an der Musik der Vergangenheit, erst recht im Zeitalter der Reproduzierbarkeit, stellt sich die Frage anders. Auch Werke, die allenfalls einen regionalen Bekanntheitsgrad erreicht haben, gewinnen heute eine globale Beachtung. Durch die Breite des musikalischen Lebens werden heute auch Werke in einer Breite für das Publikum wiederentdeckt (denn die Musikwissenschaft kannte sie schon eh), wie es zu keinem früheren Zeitpunkt möglich war.


    Zitat

    Wir neigen DERZEIT (oder besser gesagt: unserem Zeitgeist entsprechend neigt MAN derzeit) eher dazu Komponisten als "bedeutend" einzustufen, die zu Lebzeiten (meist - aber nicht immer)
    eher verkannt waren, weil sie sich dem damals vorherrschenden Zeitgeist widersetzten - und deshalb oft (in Bezug auf ihre Präsenz in der Öffentlichkeit) scheiterten, besonders also Komponisten die "ihrer Zeit voraus" waren - Neutöner jeglicher Art und jeglichen Kalibers.


    Diese Behauptung möchte ich gerne belegt haben, mein Eindruck ist ein anderer. Nehmen wir als Beispiel Joseph Haydn, der ja nur unter größer Mühe u.a. dank der unermüdlichen Werbetätigkeit von Robbins Landon nun auch im breiteren Bewusstsein sukzessive die Rolle einnimmt, die ihm zukommt. Haydn hat sich wohl zu keiner Zeit dem "damals vorherrschenden Zeitgeist" widersetzt, im Gegenteil hat er ihn hochsensibel wahrgenommen und ihn rezipiert, hin und wieder beflügelt, dann auch wieder weitergebracht, aber widersetzt hat er sich nun nicht gerade.


    Der Provokateur Beethoven war auf jeden Fall jemand, den wir nicht erst heute entdecken mussten - und das gleiche gilt für Berlioz oder für Wagner. Im Gegenteil würde ich sagen, dass wir eher die Komponisten wieder entdecken, die gerade nicht so viele "Schlagzeilen" machten.


    Zitat

    MEINE Definition wäre folgende:
    BEDEUTEND sind jene Komponisten, die ENTWEDER einen Einfluß auf ihre Nachfolger hatten, sozusagen die musikalische Entwicklung der Zukunft prägten - unabhängig davon ab sich die als Sackgasse herausstellte oder nicht.


    Das finde ich eine durchaus akzeptable Definition.


    Zitat

    Auch Sackgassen können Marksteine der Geschichte sein. Ferner würde ich jene Komponisten als BEDEUTEND bezeichnen, welche Quasi Aushängeschilder einer Epoche sind - hierbei ist es aus meiner Sicht unbedeutend ob sie das - sachlich gesehen - zu recht - oder zu unrecht - geworden sind. Sie stehen quasi als Symbol für eine Epoche. Die Geschichte hat sie zu BEDEUTENDEN Figuren hochstilisiert.


    Das hilft uns mE nicht weiter. Da sind wir wieder bei einer Form der Rezeption, die zufällig ist, aber auch durchaus ihre Objekte der Begierde wechselt. Was eine Epoche ist, bleibt dabei ohnedies umstritten. Abgesehen davon: für welche Epoche ist Mozart Aushängeschild, für welche Haydn, für welche Beethoven - um die Sache einmal umzudrehen.



    Zitat

    Es mag VORZÜGLICHE Komponisten geben, die zu Lebzeiten hochberühmt uind beliebt waren - BEDEUTEND hingegen waren sie nicht - und sind es heute nur in Ausnahmefällen - wobei BEDEUTUNG bei Künstlern (im Gegensatz zu Naturwissenschaftern) immer eine Frage des Zeitgeschmacks ist. Sprach doch bereits Schumann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Haydn jegliche BEDEUTUNG ab. IHM hatte Haydn nichts mehr zu sagen....


    Da verstehe ich jetzt allerdings nicht mehr, in welcher Bedeutung Du hier "Bedeutung" verwendest. Bedeutung ist selbstverständlich mE keine Sache des Zeitgeschmacks. Aber nehmen wir Schuster: Die einflussreichen Zeitgenossen wie Schubart und Gerber waren sich seiner Bedeutung durchaus bewusst, die 1. Auflage des MGG bringt einen 10seitigen Artikel, in dem man sich schon vor 40 Jahren ausreichend über Stil, Einfluss und Werk Schusters vergewissern konnte. Bestimmen da jetzt die Witzfiguren von "Kritikern", die z.T. bei Amazon schreiben, ob er bedeutend ist oder nicht? Die Bedeutung Schusters wurde, so weit ich es sehen konnte, nie angezweifelt, sie ist halt außerhalb der historisch-informierten Welt offensichtlich nicht so bekannt, was mE nichts zu sagen hat.


    Wenn ich von Bedeutung spreche, so spreche ich in der Regel von der Bedeutung, die Werken durch die Musikwissenschaft beigelegt wird, die Kenner Werken geben, nicht aber von den Verkaufzahlen der Konzerne. Aber die meinst Du ja auch nicht :)


    Liebe Grüße Peter

  • Zitat

    Original von musicophil
    Betrachtet man ein Werk bzw. einen Komponisten mit den Augen von Zeitgenossen, dann bekommt man eben ein "subjektiveres" Urteil als wenn das heute geschehen würde.


    Lieber Paul,


    wie versprochen die Fortsetzung. Die Bedeutung eines Komponisten für einen Musikhistoriker ist nicht zuletzt gerade, ihn mit den Augen der Zeitgenossen anzusehen. Gerade der Wert eines Kunstwerks als historisches Dokument ergibt sich daraus, dieses möglichst genau in das zeitgenössische Musikleben einordnen zu können, die Widersprüchlichkeiten von Schaffensprozess und Rezeption herauszuarbeiten, um ein vielfältiges Bild zu erhalten. Da wir heute auf die Werke mit der Erfahrung der Zeit dazwischen sehen, ist unser Urteil subjektiver als das der Zeitgenossen. Erst die Zeitgenossen informieren uns darüber, wie etwa die kühnen Modulationen Schusters aufgenommen wurden - für uns sind sie im Vergleich etwa zu Beethovens Modulationen nicht so kühn, und wir müssen uns erst einmal von unseren Scheuklappen freimachen.


    Mit der Rezeptionsgeschichte des Werkes ist uns allerdings eine neue Dimension gegeben, die man kritisch beleuchten kann und muss. Vieles an einem Kunstwerk realisiert sich eben nicht schon bei der Uraufführung, sondern im Laufe einer Rezeptionsgeschichte, in der immer wieder neue Aspekte des Werkes aufgedeckt werden. Heute sieht man gerne das Rebellische, darin hat Alfred schon Recht, bei Komponisten, die lange Zeit schon als klassisch-ausgeglichen vereinnahmt waren. Das verschärfte Klangbild historisch-orientierter Aufführungspraxis zerstört den gelblich gewordenen Firnis und legt das Werk wieder in einer anderen Weise frei, als es Richter bei Bach oder Karajan bei Beethoven taten. Das ist auch eine subjektive Sicht, wie die der Zeitgenossen es auch war. Dass Kunstwerke solchen Attacken nicht nur standhalten, sondern eben auch neue Bedeutungsschichten für uns freilegen, rechtfertigt die interpretatorischen Zugriffe.


    Wenn man hier die Bedeutung im Sinne der Wichtigkeit eines Komponisten von der eines anderen unterscheiden will (wie sinnvoll das ist, lasse ich mal offen), dann ist es sicher der, dass die einen jede Wendung der Mode "überstehen", ohne vorübergehend in die Abstellkammer gebracht zu werden, während andere immer wieder Zeiten der intensiven Rezeption und Zeiten eines relativ schwachen Interesses erleben. Aber um das wirklich einschätzen zu können, müsste man eine Zeitreise von 800 Jahren in die Zukunft unternehmen, um zu sehen, wie es denn etwa mit dem wiedererwachten Interesse an Monteverdi oder Haydn "ausgegangen" ist (ich schlage dann gleich unter G wie Gluck nach).


    Wir leben in einer für den Musikfreund herrlichen Zeit, in der der Zugriff auf so unterschiedliche Literatur aus so vielen Zeiten möglich ist. Da entscheidet nicht mehr ein Kantor, ob man nun Ockeghem in seinem Leben kennenlernen kann, kein Zerberus vor einer nur wenigen zugänglichen Bibliothek. Damit kann sich uns die (unterschiedliche) Bedeutung von vielen (unterschiedlichen) Komponisten und ihrer Werke erschließen. Wir entdecken unser Spiegelbild eben auch in der Musik der Aufklärung, der Musik Glucks und eben auch der Schusters. Wie immer kommt es darauf an, wie man in den Spiegel schaut, der Spiegel kann nichts für unsere Augenfehler.


    Aber Musik der Vergangenheit zu begegnen heißt auch zu akzeptieren:


    Oft, wenn es erst durch Jahre durchgedrungen,
    Erscheint es in vollendeter Gestalt.
    Was glänzt, ist für den Augenblick geboren,
    Das Echte bleibt der Nachwelt unverloren.


    Zitat

    Muß ich mich halten an das Urteil Goethes, dann wäre Zelter ein größer Komponist als Schubert.
    Ich gebe sofort zu: Goethe war kein Musiker. Aber... was hilft es, wein ein Genie bei den Kollegen bekannt bleibt, aber keine Achtung genießt vom Publikum. Das ihn überhaupt nicht kennt. Ist er dann "bedeutend"?


    Nun hatte Goethe nicht nur ein Problem mit Schubert (der über Wien hinaus durchaus als Liederkomponist bekannt und geachtet war), sondern auch mit Beethoven. Goethe hat Zelter nicht als den größeren Komponisten gesehen, da verstand der Alte aus Weimar doch noch mehr von der Musik, als man ihm unterstellt. Nur wollte er seine Gedichte dezent begleitet, in strophischer Vertonung komponiert haben, weil es ihm mehr darum ging, den literarischen Text in den Mittelpunkt zu stellen. Diese fürchterlichen Neuerer wie Beethoven und Schubert haben aber ein veritables Gegengewicht zum literarischen in ihrem musikalischen Text geschaffen. Das mochte er nicht - nicht mehr, nicht weniger.


    Zum Rest auf ein Drittes :)


    Liebe Grüße Peter

  • Zitat

    Original von pbrixius
    Da wir heute auf die Werke mit der Erfahrung der Zeit dazwischen sehen, ist unser Urteil subjektiver als das der Zeitgenossen. Erst die Zeitgenossen informieren uns darüber, wie etwa die kühnen Modulationen Schusters aufgenommen wurden - für uns sind sie im Vergleich etwa zu Beethovens Modulationen nicht so kühn, und wir müssen uns erst einmal von unseren Scheuklappen freimachen.


    Lieber Peter,


    Ich denke, daß Deine Behauptung doch irgendwie sowas wie eine "contradictio in terminis" innehat. Denn etwas höher schreibst Du


    Zitat

    Original von pbrixius
    Aber die Urteile von Beethoven oder Mozart (etwa zu Clementi oder Kozeluch) nehme ich nicht ganz Ernst - sie sind eindeutig Äußerungen über Konkurrenten.


    Diese Komponisten waren letztlich doch Zeitgenossen.
    Einerseits sagst Du, daß "sie" (pars pro toto) Konkurrenz fürch(te)ten. Andererseits geben sie plötzlich ein wertvolles Urteil ab.
    Wenn ich denke an Mozarts Urteil über Carl + Anton Stamitz (ich zitiere aus dem Gedächtnis; Ulli wird mich sonst verbessern), die Notenschmierer sein würden, dann reist sofort die Frage "Ist dieses Urteil gerecht? Oder waren die Gebrüder soo gut, daß Mozart Konkurrenz fürchtete. Oder... ist es möglich, daß das Urteil getrübt war, weil eine Vergleichsmöglichkeit (ihm) damals fehlte?"


    In unserer Gesellschaft, mit TV, Radio, Telefonie und Internet ist fast jede wichtige Erneuerung oder jeder Fortschritt sofort bekannt. Das war damals nicht den Fall.
    Schon deshalb fehlte eine gute Vergleichsmöglichkeit.


    Darum denke ich, daß mehr Distanz Objektivität nicht schadet. Und da rede ich nicht einmal von den Bäumen und dem Wald. Denn auch das galt damals für die Zeitgenossen. Sie sahen eher die Bäume. Wir sehen in Retrospektive den Wald.


    LG, Paul


  • Lieber Paul,


    das verstehst Du falsch. Zunächst einmal ist es doch ein Unterschied, ob ich über einzelne Urteile spreche (und mir überlege, wie diese zustande gekommen sind) und auf der anderen Seite über den Wert von Urteilen durch Zeitgenossen spreche. Dieser Wert besteht für den Historiker ja nicht unbedingt darin, dass sie richtig oder falsch sind, sondern z.B. dass man ihnen den Maßstab entnehmen kann, nach dem geurteilt wurde. Es gilt eben das Erkenntnisinteresse zu ermitteln und die Urteile zu verstehen, was doch nicht heißt, dass man sie teilen muss. Ich wiederhole mich gerne, wenn es Dir hilft: Jedes Werk und jeder Komponist ist bedeutend. Die Frage ist nur jeweils, was seine Bedeutung ausmacht. Und wieder darf ich Dich an Dich selbst erinnern: seine Bedeutung für wen. Wenn Du jetzt plötzlich pauschalisierst, wo ich differenziere, da mag es zu Widersprüchlichkeiten kommen, an anderer Stelle habe ich auch schon festgestellt, dass mich gerade diese Widersprüchlichkeiten interessieren. Aber wenn wir auf der Ebene der von Dir zur Hilfe gerufenen Logik bleiben: Es ergeben sich dann unbrauchbare Ergebnisse, wenn die Ebenen verwechselt werden, auf denen logische Aussagen getätigt werden. Das eben hast Du gemacht.


    Ein Musiker, ein Komponist spricht ja auch gerne als Betroffener (mein Cellolehrer hasste Richard Strauss, weil er sich als Orchestermusiker über die dauernden Lagenwechsel beschwerte, die ihm seine Noten vorschrieben), er ist ja auch weder Musikwissenschaftler noch Musikkritiker. Wenn wir die Urteile von SängerInnen untereinander nehmen, so sagen sie mehr über die KritikerInnen selbst als über den Gegenstand ihrer Kritik aus.


    Du wirst ja auch auf der anderen Seite kaum jemanden um ein Urteil über Barockmusik bitten, der eigentlich nur HipHop kennt ... Das steht aber alles schon in meinen, zugegeben langen Beiträgen.


    Zitat

    Wenn ich denke an Mozarts Urteil über Carl + Anton Stamitz (ich zitiere aus dem Gedächtnis; Ulli wird mich sonst verbessern), die Notenschmierer sein würden, dann reist sofort die Frage "Ist dieses Urteil gerecht? Oder waren die Gebrüder soo gut, daß Mozart Konkurrenz fürchtete. Oder... ist es möglich, daß das Urteil getrübt war, weil eine Vergleichsmöglichkeit (ihm) damals fehlte?"


    Das habe ich schon damals dem guten Padre ins Poesiealbum geschrieben: bei diesen Äußerungen möchte ich wissen, wann, wo, in welchem Zusammenhang, wem gegenüber diese Äußerungen gemacht worden sind, sonst taugen mir solche Trouvaillen nichts.


    Wenn ich mich nach Urteilen von Zeitgenossen umschaue, werde ich eine Menge unterschiedlicher Stellungnahmen vorfinden, aber ich kann dann schon unterscheiden, ob es eine dem Augenblick geschuldete Malice oder ein fundiertes Urteil ist. Mozart war kein Musikkritiker, er sah alles aus seiner Sichtweise, von seiner Interessenlage aus. Ihn interessierten auch kaum Vergleiche, er fürchtete auch keine Konkurrenz. Nur hin und wieder ging es ihm über die Hutschnur, dass jemand hoch geachtet wurde, dem er sich meilenweit überlegen fühlte. Dass man aber, wenn man die Mannheimer "Vorklassik" mit der Wiener Klassik wertenderweise gleich- und damit heruntersetzte, Äpfel mit Birnen verglich, liegt auf der Hand. Dafür gibt es viel zu viele Noten bei Mozart, bei denen er dankbar vor den Mannheimer den Hut ziehen konnte, weil er sie ihnen verdankte.


    Nur: In diesem Zusammenhang finde ich die Betrachtung von solchen individuell begründbaren, aber von den Zeitgenossen nicht geteilten Urteilen wenig hilfreich.


    Zitat

    In unserer Gesellschaft, mit TV, Radio, Telefonie und Internet ist fast jede wichtige Erneuerung oder jeder Fortschritt sofort bekannt. Das war damals nicht den Fall.
    Schon deshalb fehlte eine gute Vergleichsmöglichkeit.


    Ich bezweifele, dass jeder bei aller Informationsflut auch heute unbedingt gut informiert ist. Ich kann Dich ja mal in Sachen Gegenwartsmusik examinieren, da werde ich feststellen, wie weit dir wichtige Erneuerungen und Fortschritte in der heutigen Musik bekannt sind - mit TV, Radio, Telefonie und Internet :pfeif:


    Man kann für die Mozartzeit (und auch für frühere Zeiten) nicht sagen, dass ihnen gute Vergleichsmöglichkeiten fehlten. Es bestand schon ein großer europäischer Austausch in Noten. Wie z.B. wäre der junge Mozart an die "Finta" von Anfossi gekommen, wenn nicht Noten in beiden Richtungen über die Alpen gegangen wären. Es gab auch eine lebhafte Reisetätigkeit, die immer auch Austausch von Informationen bedeutete. Wenn man selbst im Hochmittelalter gut informiert war über die Entwicklungen des Minnesangs an nord- und südfranzösischen Höfen, war die Lage nach der Erfindung des Buchdrucks eine noch wesentlich bessere.


    Zitat

    Darum denke ich, daß mehr Distanz Objektivität nicht schadet.


    Um es an dieser Stelle auf den Punkt zu bringen: Objektivität strebt man als Wissenschaftler an, die erreicht man nicht nur durch eine zeitliche Distanz, sondern durch selbstkritisches Hinterfragen und Infragestellen. Distanz kann eben auch bedeuten, dass am durch das verkehrte Ende des Fernglases schaut, da kommt einem vieles gleich vor, das doch individuell und sehr unterschiedlich ist. Dem einen schrieb Vivaldi ein Konzert 400 bzw. 800mal, der andere nimmt in jedem der Vivaldikonzerte ein Besonderes wahr. Kennerschaft ist erst einmal wichtiger als Distanz, fundiertes Wissen wichtiger als Verallgemeinerung. Ich kann mich kritisch differenziert nur mit Wissen auseinandersetzen, das ich habe. Und wir schauen noch immer durch unsere Brillen, durch die Brille unserer Interessen auf die Welt



    Wagner:


    Verzeiht! es ist ein groß Ergetzen,
    Sich in den Geist der Zeiten zu versetzen;
    Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht,
    Und wie wir's dann zuletzt so herrlich weit gebracht.


    Faust:


    O ja, bis an die Sterne weit!
    Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit
    Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.
    Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
    Das ist im Grund der Herren eigner Geist,
    In dem die Zeiten sich bespiegeln.


    Damit es nicht unserer eigener Geist ist, dem wir der Betrachtung der Zeiten überstülpen, bedarf es vor allem der kritischen Distanz zu uns selbst. Wenn man etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ganze Musikgeschichte mit dem Achsenpunkt Beethoven sah und beurteilte, hat da die historische Distanz nicht unbedingt geholfen.


    Zitat

    Und da rede ich noch nicht einmal von den Bäumen und dem Wald. Denn auch das galt damals für die Zeitgenossen. Sie sahen eher die Bäume. Wir sehen in Retrospektive das Wald.


    Nun, wir sehen oft vor lauter Wald die Bäume nicht, d.h. weil ein Baum in einem bestimmten Wald steht, meinen wir, damit hätten wir schon genug über ihn ausgesagt.


    Liebe Grüße Peter

  • Zitat

    Original von pbrixius
    Wenn man selbst im Hochmittelalter gut informiert war über die Entwicklungen des Minnesangs an nord- und südfranzösischen Höfen, war die Lage nach der Erfindung des Buchdrucks eine noch wesentlich bessere.


    Nun ja, Noten wurden bis gegen Ende des 20 Jh. gestochen und nicht mit beweglichen Lettern gesetzt. SCNR :D


    Aber Du hast schon Recht, der Austausch funktionierte immer recht gut, und man wundert sich oft, wie schnell Zeitgenossen die Werke ihrer Kollegen aus ziemlich fernen Ländern in Händen hielten.
    :hello:

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  • Lieber Paul,


    Außerdem glauben wir dort Wälder zu sehen, wo eigentlich gar keine sind oder vielmehr höchstens ein einziger Wald. Die Grenzen zwischen den Wäldern ziehen wir nämlich künstlich. Gegen unsere historischen Einteilungen lassen sich jede Menge Argumente vorbringen und man kann sie durch andere ersetzen, ohne das Problem zu lösen.
    Man hat die Vergangenheit mit einem Meer verglichen, das voller Wellen ist, die alle ununterbrochen in Bewegung sind und ineinander übergehen. Und wir maßen uns an, die Wellen zu ordnen und zu gliedern. Wir konstruieren jedoch Einheiten nicht um der Objektivität willen, sondern weil die Vergangenheit eigentlich ein unüberschaubares Chaos darstellt, und wir irgendwie uns Hilfsmittel schaffen müssen, um ein wenig durchzublicken. Aber damit manipulieren wir schon die Wahrheit, denn nur das Chaos ist sozusagen objektiv.


    Wie der Herr X seinerzeit über den Herrn Y geurteilt hat, sagt das zunächst nur etwas über den X aus. Erst im Vergleich mit anderen Meinungen gewinnt sein Statement vielleicht an Profil. Aber auch wenn tausend andere die gleiche Meinung geäußert haben, heißt das noch nicht, das sie stimmen muß. Sie könnten sich sogar verschworen haben, die Nachwelt bewußt zu täuschen. Du glaubst nicht, wie leicht Wissenschaftler auf etwas hereinfallen, nur weil es so schön in ihre Idealvorstellungen paßt! Und wenn sie dann ihre Auffassung noch in griffig formulierte, schön aufgemachte Buchform bringen, glauben ihnen die Leser womöglich auch noch.


    Mit der Objektivität ist es wie mit dem Hund, der bellend hinter dem Auto herläuft, das er nie einholen kann. Allerdings hält ihn das Laufen frisch und fit, und er verhindert wenigstens, daß der Abstand zu groß wird.


    Ich überspitze es absichtlich, damit das Grundproblem klar wird. Alle unsere Erkenntnis ist relativ und nur im Beziehungsgeflecht gültig. Für Dich und mich sind Mozart, Beethoven, Lehár und was weiß ich wer Künstler von höchster Bedeutung, für einen Urwaldmenschen in Neu-Guinea ist deren Bedeutung gleich null, und von seinem Standpunkt aus ist das völlig richtig. Für unsere Vorstellung von musikalischer Entwicklung im 18.Jahrhundert ist Mozart enorm wichtig, nur: Vielleicht gab es irgendwo einen Komponisten, der genauso genial war, aber das Pech hatte, daß sich niemand für seine Ideen interessierte oder der keine Gelegenheit fand, sie entsprechend zu verbreiten. Objektiv gesehen würde er die gleiche Anerkennung verdienen, subjektiv verlassen wir uns darauf, daß die Chance recht klein ist, daß es einen solchen gegeben hat und schreiben die Musikgeschichte des 18.Jahrhunderts, ohne groß nach ihm zu suchen. Andererseits wissen wir, daß Musik- und andere Geschichten immer wieder umgeschrieben werden müssen, weil sie sich als zu wenig objektiv herausstellen, weil man Wichtiges übersehen oder falsch interpretiert hat, weil vermeintlich unumstößliche Tatsachen sich als fiktiv entpuppen und so weiter. "Die" Bedeutung schlechthin gibt es also gar nicht.


    LG


    Waldi

  • Für mich ist ein Komponist bedeutend, wenn er neue Ausdrucksbereiche erschließt, die eine positive Wirkung auf den Zuhörer haben (wobei ich mir der Problematik dieser Einschränkung bewusst bin, aber ich hab ja extra "für mich" geschrieben ;) ).
    Richard Strauss z. B. hat keine Nachfolger. Er war kein großer Neuerer, das meiste hatten Wagner und Liszt schon getan. Harmonisch gesehen war Mahler der größerer Wegweiser in die Moderne.
    War Strauss jetzt unbedeutend? Nach meiner Defintion nicht. Er hat Musik geschrieben, die in mir (und wahrscheinlich nicht nur in mir) etwas auslöst, was kein anderer Komponist auszulösen vermag. Eine Bereicherung für die Musik.
    Wenn man Musik mit Drogen vergleicht, könnte man sagen, er hat eine neue Droge mit einer bis dato unbekannten Wirkung erfunden.
    Gleiches gilt natürlich für andere große Komponisten. Bei den "unbedeutenden" wäre dann die Droge eine Droge, die eine andere kopiert, aber mich schwächerer Wirkung.


    Mozart ist eigentlich auch ein glänzendes Beispiel. Sicher, er hat auch "handfeste" Neuerungen gebracht, im Bereich der Oper z. B. oder in der Instrumentation. Aber das wichtige ist doch das unverwechselbare Gefühl, das nur Mozart in einem auslösen kann. Ohne dieses würde zumindest mir viel fehlen. Es ist eine große Bereicherung für unsere Musik, und genau deswegen ist Mozart für mich bedeutend, und da ist es mir egal, ob er revolutionäre Opern geschrieben hat, auch wenn das seine Bedeutung sicherlich noch steigert.
    Meine Definition ist natürlich äußerst subjektiv und vielleicht deswegen auch nicht sehr brauchbar.

    "Das Große an der Musik von Richard Strauss ist, daß sie ein Argument darstellt und untermauert, das über alle Dogmen der Kunst - alle Fragen von Stil und Geschmack und Idiom -, über alle nichtigen, unfruchtbaren Voreingenommenheiten des Chronisten hinausgeht.Sie bietet uns das Beispiel eines Menschen, der seine eigene Zeit bereichert, indem er keiner angehört." - Glenn Gould

  • Zitat

    Original von rappy
    Für mich ist ein Komponist bedeutend, wenn er neue Ausdrucksbereiche erschließt, die eine positive Wirkung auf den Zuhörer haben (wobei ich mir der Problematik dieser Einschränkung bewusst bin, aber ich hab ja extra "für mich" geschrieben ;) ).


    Lieber Rappy,


    Bedeutung kann man ja verschieden verstehen. Zum einen heißt es: ein Werk/ein Komponist vermittelt Inhalte, bzw. Gehalte, er teilt mir etwas mit, zum zweiten wertet man das, was er mitteilt. Beide Bedeutungen von "Bedeutung" durchdringen einander. Wenn wir von dem problematischeren, dem zweiten Begriff ausgehen, so ist klar, dass man den vermittelten Gehalt von Individuum zu Individuum, von Gruppe zu Gruppe, von Zeit zu Zeit anders sieht. Diese Wertungen sagen meist mehr aus über den, der wertet, als über das Werk, das gewertet wird.


    Zu sagen, welcher Komponist einem selbst sehr viel sagt, also für einen selbst bedeutend ist, halte ich für legitim, allerdings kann man darüber schon nicht mehr diskutieren :)


    Zitat


    Meine Definition ist natürlich äußerst subjektiv und vielleicht deswegen auch nicht sehr brauchbar.


    Als Selbstreflexion und als Anstoß zu einer Reflexion bei anderen finde ich durchaus nützlich.


    Liebe Grüße Peter