musikalische (und aussermusikalische) Scherze bei Haydn und ihre Realisierung

  • Jeder kennt den berühmten Scherz der "Abschiedssinfonie" (Nr. 45) :


    Im Schlußsatz verlassen die Musiker nach und nach die Bühne und der Satz wird immer ausgedünnter. Der rein musikalische Scherz daran ist der Verstoß gegen die Hörerwartung: erstens ist der ganze Satz ein Unikum, weil an das kuze Presto wieder ein Adagio anschliesst und zweitens ist eben diese Ausdünnung dann das Gegenteil von dem, was normalerweise in so einem Adagio getan werden würde: es würde mit dem Thema in keiner Besetzung begonnen werden und dann würde das Thema nach und nach ausgeschmückt werden. Hier beginnt das ganze Orchester und durch das Ausfallen der Instrumente nach und nach wird der Satz immer ärmlicher und hilfloser. Auf einer CD ist das freilich auch nachvollziehbar, die aussermusikalische optische Komik, nämlich dass die Musiker abgehen, fällt auf CD normalerweise weg. Nicht so allerdings bei Scherchen/DG-Westminster: Er lässt seine Musiker auf wienerisch "Auf Wiedersehen" sagen, wenn sie mit ihrem Part fertig sind. So vereint Scherchen also in seiner Einspielung den musikalischen und den aussermusikalischen Witz dieser Sinfonie.


    Die Sinfonie Nr. 60, "Il Distratto / Der Verwirrte", kann man auch mit einem aussermusikalischen Geräusch aufpeppen: Im Schlußsatz (Prestissimo) inszeniert Haydn folgenden Scherz: Der Satz, der im vollen Orchestertutti beginnt, wird nach wenien Takten abgebrochen, man hört darauf, dass die Streiche ihre Instrumente nachstimmen und der satz beginnt von vorne. Bin gespannt, wie dieser Scherz in der Partitur notiert ist. In der Adam Fischer-Aufnahme hört man die Instrumente auch schön stimmen, Rattle (Birmingham/EMI) macht den Scherz aber noch fassbarer, in dem er hörbar mit dem Tacktstock auf dem Pult klopfend den Satz abschlägt, worauf dann ein noch schöner-schräges Nachstimmen erfolgt.


    Ist natürlich reine Geschmacksfrage, ob der letztere Scherz überhaupt komisch ist und ob man ihn mit aussermusikalischen Geräuschen auf Platte präsentiert bekommen möchte.


    Kennt Ihr weitere musikalisch-aussermusikalische Scherze bei Haydn, die dann vielleicht auch noch ganz unterschiedlich auf Tonträger inszeniert werden?


    Falls das Thema Haydn damit auch schon abgegrast sein sollte, können wir den thread auch gerne für vergleichbare Phänomene bei anderen Komponisten öffnen.

  • Zitat

    Original von ThomasBernhard
    Falls das Thema Haydn damit auch schon abgegrast sein sollte, können wir den thread auch gerne für vergleichbare Phänomene bei anderen Komponisten öffnen.


    Wäre sicher interessant, zu erfahren, wo z.B. Mozart oder Beethoven Gags in ihre Sinfonien eingebaut haben...


    Aber hier soll's ja um Haydn gehen. Mein Favorit-Scherz, auf den ich nach jeder längeren Hörpause auch immer wieder hereinfalle, ist der etwa 5-minütige Finalsatz der 90. Sinfonie in C-Dur, der nach etwa 3 3/4 Minuten überraschend zu Ende scheint - durch das überraschende Ende an sich bereits ist man gedanklich dazu verpflichtet, dem tosenden Allegro assai zu applaudieren: Hä? Schon zu Ende? Also gut: Applaus! Oder doch nicht? Irgendwie ist dieser Schluß nicht "richtig", aber nach dieser Feststellung hat man bereits geistig applaudiert...


    Denn dieser Fanfarenschluß ist nur eine Täuschung - nach dem Wechsel in eine entfernte Tonart, dreht Haydn nochmals kurz auf, um dann wirklich den Satz zu Ende zu bringen.


    :jubel: :jubel: :jubel:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Ich staune, dass hier nicht sofort auf das Andante der G-Dur Sinfonie Nr. 94 "mit dem Paukenschlag" verwiesen wurde, gehört es doch zu den klassischen Musikanekdoten, die wohl jeder (oder nur der "älteren" Generation?) aus dem Musikunterricht kennt, dass Haydn mit dem titelgebenden Schlag sein gerne eindösendes Publikum hochschrecken wollte. Meist gelingt das ja auch, selbst wenn der Dirigent nicht zu sehr übertreibt.


    Für mich ist der Gag allerdings - in bester Manier :yes: - verdorben, seit ich ihn im Rahmen der köstlichen Hoffnung-Musikfestivals in der Bearbeitung Donald Swanns gehört habe, der das Humorpotenzial dieses Andantes besser erfasst hat als irgend jemand sonst. Wer diese Fassung jemals gehört hat, ist wohl für den Witz von Haydns Original verloren. Das nicht nur wegen des - natürlich krachenden - Paukenschlags, sondern auch wegen der notorisch abschweifenden Solovioline im Andante. Fast schade, dass das ebenso wenig von Haydn ist wie das plötzlich einbrechende "Sonst ohne Gnade die Bastonade" des Osmin aus Mozarts ENTFÜHRUNG und den späteren Uminstrumentierungen zwischen Mozarts Glockenspiel und einem überdimensionierten Beethoven. Deshalb sollte man auf jeden Fall auch diese Fassung kennen, und sei es nur um einmal richtig ablachen zu können. :D


    :hello: Jacques Rideamus

  • Es kommt natürlich drauf an was man unter "Scherz" versteht. Wenn eine unerwartete und vielleicht auch nicht typische Wendung auch zählt, habe ich zwei Beispiele:


    Im Finale der 98. Symphonie das völlig überraschende Cembalo/Hammerklavier.


    Die 100. Symphonie "Militär" hat mich beim ersten Mal zu Tode erschreckt als im 2. Satz das Schlagwerk einsetzt. Das Finale wird dadurch ebenfalls in seiner Wirkung verstärkt. Ist zwar nicht unbedingt komisch, fällt aber unter meine obige Definition.


    Beides wird unter Harnoncourt köstlich dargeboten.

    Früher rasierte man sich wenn man Beethoven hören wollte. Heute hört man Beethoven wenn man sich rasiert. (Peter Bamm)

  • Zitat

    Original von georgius1988
    Es kommt natürlich drauf an was man unter "Scherz" versteht.


    Alejano Enrique Planchart:


    [...] Humor in der Musik ist und bleibt ein besonders schwieriges Thema. Daran vermochten auch die hervorragenden Arbeiten von Gürsching und Lister sowie Gretchen Wheelocks kenntnisreiche Studie über Haydns Gebrauch von Witz und Humor nichts u ändern. Natürlich sind Witz und Humor nicht dasselbe. In der Mehrzahl von Haydns Werken findet sich ein fortwährendes Spiel mit dem Witz, wobei formale, harmonische oder thematische Erwartungen geweckt werden, die dann in einer Art getäuscht werden,welche beim ersten Hören - und besonders in Haydns Zeit - skurril oder gar abwegig erscheinen konnten. Dies ist ein Zug, der ihm zu Beginn seiner Karriere, als seine Musik sich außerhalb der Kreise von Ersterházy und Wien zu verbreiten begann, die Feindschaft und die Verachtung vieler Kritiker einbrachte. Die Beispiele unverhohlenen Humors, eines 'Witzes' im modernen Sinne, der an Situationskomik grenzt, sind in seiner Musik recht selten.[...] In gewisser Weise kann den Spaß jeder verstehen, während der Witz in subtileren Regionen angesiedelt ist. [...]


    Aus: A. E. Planchart: Mozarts Ein Musikalischer Spaß, acta mozartiana, 55. Jahrgang, Heft 1/2, Juni 2008


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Bei reiner Orchestermusik bin ich ja nun alles andere als sattelfest und Haydns Sinfonien haben mich nie so wirklich interessiert - seine Musik empfand ich als gediegen-langweilig, so dass ich mich mit ihr auch hörenderweise nie so richtig beschäftigen mochte.


    Jetzt sind mir in den letzten Jahren immer wieder mal im Konzert Haydn-Sinfonien begegnet und manche haben mir im Live-Erlebnis richtig gut gefallen, was sicher auch an einer veränderten Aufführungspraxis liegt.


    Gestern nun hat Andrea Macon im "Hessischen Rundfunk" zwei Haydn-Sinfonien aufgeführt, u. a. eben die No. 60, "Il Distratto". Ich habe gestern schon mal geschaut, obs zu dieser Sinfonie hier einen Thread gibt, leider nein, aber dafür habe ich heute diesen hier gefunden.


    Das war schon Klasse als im letzten Satz "Prestissimo" plötzlich der Konzertmeister aufstand und abschlug und dann die Musiker/innen mit dem Stimmen begonnen haben, vor allem, weil ich das nicht kannte. Ich habe so Haydn von einer ganz anderen Seite mal kennengelernt und es würde mich auch interessieren, wo man bei Haydn noch vergleichbares hören kann.


    Vielleicht gibts ja auch im "Haydn-Sinfonien-Thread" bald mehr Infos zur No. 60

  • Zitat

    Original von Alviano
    Vielleicht gibts ja auch im "Haydn-Sinfonien-Thread" bald mehr Infos zur No. 60


    Lieber Alviano,


    nach Zeitplan werde ich den Thread zu Nr. 60 erst im April eröffnen, aber ein paar Infos gebe ich gerne schon jetzt :D.


    Es ist vielleicht kein Zufall, dass Dir diese Sinfonie besonders gut gefällt, denn sie ist gewissermaßen ein Extrakt aus einer verlorengegangenen Bühnenmusik Haydns - eben zu der Komödie Il distratto ("Der Zerstreute") von Jean-Francois Regnard. Auch einige andere Sinfonien Haydns beruhen wahrscheinlich auf Bühnenmusiken, aber Nr. 60 trägt den boulevardesken Charakter der Vorlage besonders deutlich zur Schau und unterscheidet sich ja schon in der sechssätzigen Anlage ganz deutlich vom "normalen" Sinfonietypus.


    Der Clou ist das Leitmotiv der Zerstreutheit, das sich immer wieder in der musikalischen Struktur niederschlägt: das Seitenthema des ersten Satzes, das sich auf einem Ton festbeißt und nicht mehr weiter weiß, unmotivierte Fanfaren im zweiten und vorletzten Satz, harmonische Verwirrtheiten im Presto des vierten Satzes - und natürlich der bereits von Thomas Bernhard im ersten Posting dieses Threads geschilderte Gag, bei dem nach dem Beginn des letzten Satzes erstmal das Stimmen der Instrumente nachgeholt werden muss. Hier kennen wir aufgrund einer Quelle sogar die entsprechende Szene der Komödie, die illustriert wird: Der Zerstreute feiert Hochzeit und macht sich einen Knoten ins Schnupftuch, um das nicht zu vergessen, fürchtet aber dann, den Knoten zu vergessen usw.


    Die Sinfonie scheint sich auch lange nach ihrer Entstehung (1774) einer gewissen Beliebtheit erfreut zu haben, denn 1803 wünschte Kaiserin Maria Theresia (nicht die berühmte, sondern die Ehefrau von Franz II.) das Werk zu hören, worauf Haydn erst die Noten anfordern musste - er schrieb: indem Ihro Majestät die Kayserin den alten schmarn zu hören ein verlangen trägt... :D


    Scherze der eher plakativen Art (was nicht abwertend gemeint ist) wie im Schlussatz von Nr. 60 gibt es ja einige (Abschiedssinfonie, Surprise-Paukenschlag, Fagott-Furz in Nr. 93 etc.) - oft spielen sich die Haydn'schen Scherze aber subtiler auf der Ebene der musikalischen Struktur ab.


    Einen besonders schönen Witz, der sowohl schenkelklopfend wie hintergründig die Mundwinkel hochziehend genossen werden kann, hat Ulli ja oben schon genannt: den vermeintlichen Schluss des Finalsatzes von Nr. 90, nach dem es dann doch weitergeht.


    Besonders schön hört man das in der auch sonst sehr empfehlenswerten Neuaufnahme mit Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern, weil es sich um einen Livemitschnitt handelt: das Publikum klatscht erwartungsgemäß an der falschen Stelle und ist recht verblüfft, wenn die Musik dann doch weitergeht. Bei der von Rattle korrekt ausgeführten Wiederholung von Durchführung/Reprise ist das Publikum an der gleichen falschen Stelle noch mehr überzeugt, dass es jetzt wirklich zu Ende ist und klatscht frenetisch - nur um abermals eines besseren belehrt zu werden... Der Satz ist übrigens anschließend nochmal im Studio eingespielt worden, um den Hörer auch die "störungsfreie" Variante bieten zu können.





    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Original von Zwielicht
    Scherze der eher plakativen Art (was nicht abwertend gemeint ist) wie im Schlussatz von Nr. 60 gibt es ja einige (Abschiedssinfonie, Surprise-Paukenschlag, Fagott-Furz in Nr. 93 etc.) - oft spielen sich die Haydn'schen Scherze aber subtiler auf der Ebene der musikalischen Struktur ab.


    Ich bin inzwischen der Ansicht, daß der Scherz der Abschiedsinfonie auf einem Mißverständnis beruhen könnte, vielleicht gar nicht als solcher gedacht ist, auch die Anekdote ist ja keineswegs besonders zuverlässig belegt. Angeregt hat mich dazu u.a. eine Bemerkung, die Paul Bartholomäi vom HR mal in einer An- oder Abmoderation gemacht hat: er höre hier keine Auflösung der Musik, sondern ein "Eindampfen", eine zunehmende Reduktion.
    Wie dem auch sei, m.E. paßt solch ein oberflächlicher Scherz ganz und gar nicht zu dem durchweg ernsthaften Charakter des Stücks. (Um den Fürsten umzustimmen würde man das eher am Ende einer der verbindlicheren Stücke der Zeit wie 42 oder 50 erwarten.) Wohl aber zu dessen experimenteller Haltung (vermutlich meint Finscher was ähnliches), die sich ja nicht zuletzt auch im ebenfalls sehr ungewöhnlichen Kopfsatz zeigt. Das sollte man dann vielleicht nochmal ausführlicher diskutieren, wenn die Sinfonie dran ist.


    Zitat


    Einen besonders schönen Witz, der sowohl schenkelklopfend wie hintergründig die Mundwinkel hochziehend genossen werden kann, hat Ulli ja oben schon genannt: den vermeintlichen Schluss des Finalsatzes von Nr. 90, nach dem es dann doch weitergeht.


    Der falsche/voreilige Schluß taucht nicht selten auf. Der Beiname des Quartetts op.33,2 ("The joke") rührt auch von solch einer Stelle. Allerdings ist es hier nur ein mehrmaliges Auftauchen des Rondothemas im Finale, nachdem man nach Generalpausen schon dachte, daß Schluß sei, keine ausführliche Coda.
    In der Nr. 90 scheint mir daher ebenfalls eine Spannung zwischen dem Gag und dem Inhalt der Musik, nämlich einem ungewöhnlich dichten und dramatischen Finalsatz, dazu eben mit einer ungewöhnlichen Balance der Satzteile, zu bestehen.


    Insgesamt können daher einige dieser Scherze den Blick auf die Musik eher verstellen als erhellen, selbst wenn man sie andererseits natürlich auch nicht wegdiskutieren sollte...


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Lieber Bernd,


    vielen Dank für Deine lesenswertem Hinweise, die mir schon ein wenig weiterhelfen. Ich habe bislang das Programmheft zum Konzert noch nicht gelesen, vielleicht finde ich auch da noch kleinere Informationen zum Werk.


    Auf alle Fälle möchte ich mir den Mitschnitt, der am 27.01.09 nochmals gesendet wird (während der Ur-Sendung sass ich live im Publikum), anhören oder das Konzert mitschneiden, um vor allem "Il Distratto" erneut hören zu können (die zweite Haydn-Sinfonie am vergangenen Freitag war übrigens die Nr. 46). Am Anfang kommt die Musik nicht so richtig in Schwung, dieses auf der Stelle treten, das habe ich auch beim Live-Hören so empfunden. Und die Hörner lässt Andrea Marcon richtig heftig auffahren - da erschrickt man förmlich etwas, weil sie tatsächlich eher plötzlich die Hör-Bühne betreten.


    Dankeschön auch für den Hinweis auf diese Rattle-CDs mit dem "Original" und den Scheinschlüssen, die das Publikum zum Beifall herausfordern, ich hab mir das notiert, das möchte ich mir gerne anhören.


    Jetzt bin ich auf die Besprechungen der Hadyn-Sinfonien gespannt - das sage noch einer, "Tamino" trage nix zur Erweiterung des musikalischen Horizontes bei...


    :hello:

  • "http://oe1.orf.at/highlights/138457.html"


    Hier gibt es eine Analyse der Symphonie Nr. 60, die ursprünglich als Bühnenmusik zum Lustspiel "Il distratto" ("Der Zerstreute") bestimmt war, mit einem kurzen Hörvergleich Rattle - Harnoncourt.

    Freundlicher Gruß
    Alexander

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose