Hallo!
Angeblich Komponierte Jean Gilles (1668-1705) sein Requiem um die Jahrhundertwende für zwei Mitglieder des Stadtrats von Toulouse, die aber dann die Zahlung und die Aufführung verweigerten. Gilles soll daraufhin gesagt haben: „Also gut! Dann wird es eben niemand aufführen, und ich selbst werde der erste sein, für den es erklingen wird!“
Und genau so kam es auch. Die Uraufführung fand bei der Totenfeier für Gilles Anfang des Jahres 1705 statt. Sein Freund Andre Campra dirigierte das Werk und nahm die Partitur mit nach Paris, wo das Werk bald große Verbreitung fand (und nicht nur dort):
Im Frankreich des 18. Jahrhunderts war Jean Gilles' „Messe des morts“ eines der berühmtesten und am häufigsten aufgeführten Werke, und zwar sowohl im Süden, wo Gilles lebte und wirkte, als auch im Norden. „Es gibt heute kaum ein von Musik begleitetes Seelenamt, bei dem nicht Gilles' Messe aufgeführt wird“, schrieb ein Beobachter Mitte des Jahrhunderts.
(kursive Texte sind aus dem booklet der Cohen-Aufnahme)
Das Gilles-Requiem wurde z.B. noch 1764 zur Trauerfeier für Rameau gespielt und auch 1774 für Ludwig XV. Danach gab es allerdings nur noch wenige Aufführungen, bis dann 1958 eine erste Aufnahme für Schallpaltte erfolgte (Dirigent: Louis Fremaux). Inzwischen gibt es mehrere, vornehmlich HIPpe Einspielungen des Werks, darunter auch zwei von Herreweghe.
Zur Musik selbst ist zu sagen, daß sie typisch ist für französische Requien, d.h. es ist eine eher friedvolle, tröstende Musik ohne große Dramatik. Es fehlt zudem die komplette Sequenz. Bemerkenswert ist die Bildhaftigkeit der Tonsprache Gille', beginnend mit dem Introitus, der in manchen Details einen Leichenzug nachempfindet.
An einer Stelle im Introit symbolisieren rasche ansteigende Achtelnoten das ewige Licht, wie inzahlreichen italienischen Madrigalen früherer Generationen. Später, im Offertorium, wird das Stürzen der Seele in die Finsternis dargestellt durch absteigende Noten in der tiefsten Männerstimme; die Angst vor dem „Rachen des Löwen“ deutet ein kleines, klagendes Flötenmotiv an. Das Agnus Dei, durchsetzt mit Motiven des Glockenspiels, bringt uns zurück zur „tour de ville“; in der Provence und auch anderswo war es Brauch, daß alle Kirchen- und Klosterglocken läuteten, wenn der Sarg eines angesehenen Bürgers vorbeizog.
Insgesamt finde ich das Gilles-Requiem sehr kennenlernenswert (allein schon wegen dessen historischen Bedeutung); es ist sicher eines der schönsten Requien der Barockzeit.
Die beiden mir vorliegenden Einspielungen unterscheiden sich stark im Aufbau. Während sich Herreweghe in seiner älteren Aufnahme (1981) an die von Gilles überlieferte Gestalt der Messe hält, fügt Cohen (1989) einige gregorianische Choräle ein, u.a. auch die Sequenz, wodurch das Werk einen ganz anderen Charakter und zahlreiche Umbrüche (zwischen barock und Gregorianik) erhält. Das ist für mich nicht nachvollziehbar. Oder war es im 18. Jahrhundert üblich, noch gregorisnische Sätze bei (Toten-)Messen zusätzlich einzufügen?
Fett sind die Nummern des Gilles-Requiem, normal die von Cohen eingefügten gregorianischen Abschnitte:
Requiem aeternam
Introitus
Kyrie
Graduale
Absolve Domine
Dies irae
Offertorium
Vere dignum
Sanctus
Qui lazarum
Agnus Dei
Communio
Viele Grüße,
Pius.