Künstler vs Publikum: Wer bestimmt den Kurs ?

  • Liebe Forianer,


    Gestern wurde mir wieder die ide zu einem Thread zugespielt, als nämlich ein Mitglied sinngemäß schrieb, Harnoncourts richtiger Inerpretationsansatz, jahrelang verschmäht, hätte nun glücklicherweiser gegenüber dem Publikumsgeschmack die Oberhand gewonnen, der Intrpret habe seine Sichtweise durchgesetzt.


    Ich konnte und kann dieser Sichtweise nicht ganz folgen, weil ich der Meinung bin, daß der Künstler fürs Publikum dazusein hat und nicht umgekehrt :D.


    Es gab ja schon vor Jahren Leute, die behaupteten, das Publikum wäre nicht berechtigt, dem Künstler Beschränkungen aufzuerlegen, der Künstler sei "frei" (Wohin das geführt hat kann man an der derzeitigen Situation gut kontrollieren.)


    Aber lassen wir meine persönliche Meinung mal ganz beiseite:


    Wer bestimmt Spielplan und "Drumherum", das zahlende Publikum oder der freie Künstler.?


    Unter "Publikum" ist hier jenes "Klassikpublikum" gemeint, das immer schon zu speziellen Klientel gehörte, nicht "Krethi und Plethi", also schon eine selektierte Gruppe


    Freundliche Grüße aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Sagitt meint:


    Das Publikum ist frei, zu Hause zu bleiben.


    Wieviele Kunstwerke wären nie entstanden, wenn das Publikum regieren würde. Wahrscheinlich die Mehrheit der Bach´schen Werke,z.B. wurde die Matthäus-Passion in Leipzig sehr schlecht aufgenommen. Selbst Mozart musste bei nicht so " wirksamen" Werken mit mangelndem Interesse des Publikums rechnen. Beethoven war davon sehr betroffen. Ich geb an Kreuzer, wanns nur aufhört ( meine entsetzliche Verdeutschung bitte ich zu entschuldigen). Schubert hörte nie eine seiner Opern, praktisch keine seiner Sinfonien, das Publikum hörte lieber Paganini und Rossini.
    Hätte- da der thread ja mit ausgelöst wurde - durch Harnoncourt diese Spielweise sich überhaupt behaupten können, wenn das Paradigma der fünfzigerJahre sich gehalten hätte ?


    Ich gehöre zu dem Publikum, aber ich gebe dem Künstler das Recht, sich nicht auf mich, sondern auf das Kunstwerk und seine Auffassung davon zu konzentrieren. Wenn mir das nicht gefällt, kann ich gehen oder ich schalte eben ab. Ich bezahle nicht dafür, dass es mir gefällt, sondern, dass diese Kunstverwirklichung, die ja mit viel Vorbereitung verbunden ist( Arbeit) von mir wahrgenommen werden kann. Die Dienstleistung ist erbracht, der Gegenwert wurde fällig- fertig.

  • Ich kann mich sagitts Meinung nur anschliessen: Der Künstler wird dafür bezahlt und damit beauftragt, seine Kunst zu machen, nicht die, die ich gerne hätte. Also, konkret, ein Interpret wird engagiert, um seine Interpretation vorzustellen - und nicht die, die ich gerne hören will. Tut er das, ist es eine Frage des Gefallens/Nichtgefallens eher als eine des Geldes, wie ich dazu stehe. Mit meiner Eintrittskarte oder dem Preis für eine CD kaufe ich jedenfalls nicht das Recht darauf, meine Ansichten und Sichten präsentiert zu bekommen.


    An sicht ganz einfach oder? Kunst ist, denke ich, auch immer ein Risiko.....


    Beste Grüsse,


    C.

    Die wirkliche Basis eines schöpferischen Werks ist Experimentieren - kühnes Experimentieren! (Edgar Varèse)

  • Einer der interessanten Aspekte dieses Forums besteht darin, daß man zuweilen solche Themen wie dieses entdeckt.


    Dehnt man nämlich die Ausgangsfragestellung ein wenig aus, wird für mich auch die Problematik des Verhältnisses zwischen Interpret und Publikum im Konzert aufgeworfen ("Künstler vs. Publikum").


    Debussy meinte hierzu:


    "Die Anziehungskraft, die der Virtuose für das Publikum hat, ist ähnlich der des Zirkusses für die Menge. Man hofft immer, das etwas Gefährliches passiere."


    Dies hat wohl auch zur Folge gehabt, daß sensible Künstlernaturen, wie Michelangeli, Horowitz, Gould sich zeitweise oder ganz vom öffentlichen Musikbetrieb zurückgezogen haben. Die Erwartungen des Publikums gegenüber den öffentlich auftretenden Künstlern sind in den letzten Jahrzehnten ja auch sehr stark angestiegen, schließlich zeichnen sich Studioaufnahmen durch einen technischen Grad der Perfektion aus, der im Live-Konzert naturgemäß kaum erreicht werden kann. Man stelle sich den Live-Interpreten vor, der, nachdem er eine Passage fehlerhaft gespielt hat, vor das Publikum tritt und um einen zweiten Versuch bittet. Glenn Gould sprach in diesem Zusammenhang von "non-take-twoness", d.h. von der Unmöglichkeit des zweiten Versuchs.


    Ich stimme daher Sagittarius' Auffassung


    Zitat

    Ich gehöre zu dem Publikum, aber ich gebe dem Künstler das Recht, sich nicht auf mich, sondern auf das Kunstwerk und seine Auffassung davon zu konzentrieren.


    zu, nur befürchte ich, daß es den Interpreten heutzutage sehr schwer gemacht wird.

  • hallo,


    eine schöne fragestellung. ich bin der ansicht, dass dem interpreten 'freie hand' gebührt. jedoch sollte es im programm vorangekündigt sein, so dass der zuhörer rechtzeitig weiß, worauf er sich einlässt. sicherlich, der zuhörer ist hoch erfreut, wenn er eines seiner lieblingswerke hört. dann ist er auch gerne gewillt, zusätzlich 'schwere kost' zu verdauen.


    arthur rubinstein war einer der ersten, welcher regelmäßig ravels valses nobles et sentimentales auf das programm setzte. einige dieser stücke 'beißen'. anfänglich war das publikum enttäuscht und machte dieses durch fehlenden applaus deutlich. rubinstein spielte als zugabe den ganzen zyklus nochmals !


    gruß, siamak

    Siamak

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  • Der war halt ein Querkopf... ich würde das auch so machen - frei nach dem Motto


    "Mal sehen, ob sie's jetzt peilen...".


    :hello:

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Meine Lieben,


    Auch ich sehe es so, daß der Künstler nicht nur machen soll, was das Publikum erwartet, besser gesagt, er darf sogar nicht nur auf dieser Schiene fahren. Andererseits ist das nicht so zu interpretieren, daß das Publikum konsequent nur Dinge vorgesetzt erhält, die ihm nicht unter die Haut gehen oder die unter einem traditionellen Titel angeboten werden, obwohl das Resultat ein ganz neues ist. Im geschickten Mix und auch einer gewissen Ehrlichkeit dürfte wohl das Heil liegen, das sich aber nie exakt definieren läßt, denn gerade einzelne Ausnahmen machen die Regeln erst sinnhaft. Ausnahmen sollten aber nicht zur Regel erhoben werden, damit vertreibt man viele Leute. An gutes Neues kann man sich auch gewöhnen, braucht aber unter Umständen Zeit - darauf nimmt ein kluger Künstler entsprechend Rücksicht. Schlimm ist es, wenn das Publikum sich bestimmte Dinge erwartet, auf die es schon hungrig war, und sich dann genau darum betrogen fühlt - also nicht heimgeht und sagt: Ich habe mir eigentlich etwas anderes erwartet, aber das Gebotene war auch interessant und hat mich angesprochen! Und so absolut waren die ja auch von vornherein nicht auf das festgelegt, was ich dachte.
    Wo die heikle Grenze zur zumutbaren Veränderung übertreten wird, hängt vom Empfinden des einzelnen Menschen und seiner momentanen Disposition ab. Da kann man nicht vom Publkum insgesamt ausgehen.
    Einfacher gesagt: L'art pour l'art darf nicht absolut und immer beansprucht werden, das geht in die Hose. Kunst ist letztlich immer - in unterschiedlicher Weise - abhängig von den kulturellen, wirtschaftlichen, sozialen etc. Umweltfaktoren. Auch Künstler können im ganz luftleeren Raum nicht existieren. Naive machen sich das vielleicht gerne vor, Kluge versuchen die Herkulesarbeit, ihre "Kundschaft" zu bilden.


    LG


    Waldi

  • Der Künstler hat eine Aufgabe, eine Bandbreite, er agiert zwischen Lachen und Weinen.
    Hier entfaltet er seine Möglichkeiten.
    Der Künstler sollte aber auch sein Ohr am Publikum haben und erkennen, wann die Schere zwischen Verständniss und Ablehnung zu weit klafft. Der einsame Stuhl auf der Bühne, als Symbol, was aber nichts anderes ist, als finanzielle Einsparung im Theaterbetrieb oder Vater Germont im Apfelbaum sitzend, als mahnendes Gewissen in einer La Traviata, was ist ertragbar und was ist nachvollziehbar? Theater muß gelernt werden, manchmal braucht man Zeit zum Verstehen.
    Unverschämt ist aber die Auffassung, "das Publikum ist zu blöde, die neuen Inszenierungen zu begreifen, deshalb halten sie an alten verstaubten Inszenierungen fest, in denen sie genau das sehen, was sie interpretiert sehen wollen".
    Das Publikum will mitdenken, es will aber nicht vor lauter Nachdenken über eine Szene oder ein Bild in einer Oper, sich in einem quasi "Sudoku-Fieber" verlieren und puzzeln, um zu begreifen, weshalb man jetzt an diesem Ort ist und was uns jetzt dieses Gleichnis sagen will.
    Entspannung pur ist passé, die Suche nach der Antwort läßt uns wohl schnell die anderen Eindrücke und Erlebnisse nicht mehr reflektieren, wir bleiben beim Puzzle stecken.


    LG rugero

    Die Stimme, das wohl vollkommenste Instrument.

  • hallo,


    Interessante Thematik. Ich sehe es so:


    Die Haltung des Publukims zu einem Werk bildet sich ja zwangsläufig erst dann, wenn ihm dieses ja erst einmal vorgestellt wurde; gemeit jetzt als Feststellung ganz am Anfang. Je älter ein Werk wird, desto mehr Interpretationen hat es hinter sich und je mehr davon aufgetaucht sind, desto deutlicher zeigt es sich, dass das Publikum ein Werk gerne hört und sieht, aber vielleicht nicht jede/r jede Interpretation.


    ich kann als Zuhörer natürlich gedanklich vorher ausfiltern, ob ich mir von einer Vorstellung, die angeboten wird, dieses oder jenes erwarte, aber es würde mir nicht einfallen, den Künstlern dreinzureden, sondern ich gehe einfach hin oder nicht bzw. empfehle oder nicht.


    Künstler sollten daher anbieten, was sie sich vorstellen und dabei weitestgehen unabhängig bleiben können, denn alle großen und beständigen Werke sind mit dem Risiko mehrheitlicher Ablehnung uraufgeführt worden. Oft genug ist diese Ablehnung bis nach dem Tod des Künstlers geblieben, um erst posthum ein Erfolg zu werden.


    Wenn im Rahmen der hier besprochenen Künste ein vorauseilender Gehorsam gegenüber einem - angeblichen - Publikumstrend umfassend einziehen würde (zuweilen ist das leider durchaus vorhanden), käme man bald auf die traurige Niveaustufe des Trash - Fernsehens mit seinem Quotengehabe hinunter.Es wäre durchaus interessant zu sehen, was herauskäme, wenn alle Fersehzuschauer abstimmen würden.


    DAS Publikum, denke ich, gibt es nicht, sondern es gibt Individuen mit verschiedenen Geschmäckern. Wenn ich ein Opern- und Liedprogramm mache, weiß ich, dass ich in der Regel kein Freunde der Instrumentalmusik anziehe, sondern - hoffentlich - möglichst viele Gesangsfreunde. Das ist völlig normal so.


    Künstler können zwar durchaus manche Voreinschätzungen treffen, aber was wirklich passiert, entscheidet sich am Konzertabend.



    LG


    Ulrica

  • Das Problem scheint mir in der Fragestellung zu liegen.


    GEGEN das Publikum hat noch ken Künstler sich durchsetzen können, auch solche nicht, die meinten, es ganz allgemein verachten zu können/sollen, auch wenn es das oft genug verdient. Trotzdem war auch denen aus schierem Überlebens- und rechtfertigungstrieb an dessen Gunst oder wenigstens der Gunst der Verständigeren darunter gelegen.


    Nachweislich das langfristig falscheste Mittel ist es, sich dem vermeintlichen Publikumsgeschmack anzubiedern - auch wenn noch so viele Veranstalter und Intendanten das woll(t)en.


    Dagegen hat sich immer wieder gezeigt, dass ein Künstler dem Verständnis seiner Zeit voraus sein kann. Dennoch hat er nicht gegen das Publikum gewonnen, sondern mit ihm, denn nur die dauernde Zuneigung des Publikums zu seinem Werk hat das Werk weit über den Tod seines Schöpfers hinaus am Leben erhalten.


    Wenn jetzt noch das Publikum insgesamt nicht so erzkonservativ wäre...


    Andererseits: der unschätzbare Wert dieser konservativen Haltung drückt sich schon in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes aus, die aber auch gar nichts mit Schlamperei aus vermeintlicher Tradition zu tun hat.


    :hello: Rideamus

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  • Hallo zusammen!


    Für mich ist die Anwort auf diese Frage ganz einfach. Der Künstler muss die Freiheit haben, seine Interpretation dem Publikum anbieten zu können, und ich als Publikum muss die Freiheit haben, diese Interpretation anzunehmen oder abzulehnen. Für mich bedeutet dies, dass niemand, weder Künstler noch Publikum alleine im Stande ist, den Kurs zu bestimmen, sondern nur beide zusammen.

  • Rein logisch betrachtet ist das doch recht einfach. Kunst kann ohne Publikum entstehen, aber nicht ohne Künstler. Also ist der Künstler, egal ob Autor oder Ausführender wichtiger und "bestimmt den Kurs". Ein Komponist muß (wenn er seine Stücke nicht allein aufführen kann) zunächst andere Musiker davon überzeugen, seinen Kram zu spielen, bevor er überhaupt daran gehen kann, sie einem Publikum zu präsentieren. Sie sind das wichtigste "Publikum", auch für das "Überleben" von Musikstücken, aber das ist hier wohl nicht gemeint)


    Ein zahlendes Publikum als relevanten Faktor gibt es erst seit ziemlich kurzer Zeit. Tausende von Jahren entstanden Kunst und Musik ohne die uns seit ca. 250 Jahren bekannten Strukturen von Oper- und Konzertbetrieb (und selbst in dieser Zeit war das "Publikum" meistens ein winziges von häufig selbst musizierenden "Kennern und Liebhabern, das eher selten in einem heutigen Sinne konservativ, sondern gierig nach Neuem (wenn auch nicht immer Neuartigem) war). Zwar sind Opern und andere großbesetzte Musik so teuer, dass sie nur durch ein zahlendes Publikum (oder außerordentliche finanzkräftige Sponsoren oder eine zentrale Institution wie die Kirche) umgesetzt werden können. Aber rein mengenmäßig dürfte die meiste Musik der Geschichte von 1-20 Musikern ausführbar sein.
    Und auch in dieser Zeit gab es immer Musik, die nur sekundär ein Publikum (im heutigen Sinne) im Blick hatte. Bachs Clavierwerke sind zum Selberspielen und zum Unterricht geschrieben, große Teile anderer Kammer- und Klaviermusik des 17.-19. Jhds. ebenfalls hauptsächlich für das Musizieren engagierter Amateure, wobei sekundär ist, ob die Hausmusik ein (kleines, privates) Publikum hatte oder nur zum eigenen Vergnügen musiziert wurde.


    Auf Anhieb fällt mir überhaupt kein eindeutiger Fall ein, wo das Publikum (i.S. eines breiten Publikums, nicht dem einzelner einflußreicher Kritiker oder Mäzene) einen wesentlichen Anteil an einer "inhaltlichen" musikgeschichtlichen Entwicklung hatte. Vielleicht wäre die Entstehung von Händels Oratorien so ein Fall. Aber, wie unlängst im Händel-Thread schon angesprochen, ist hier wieder ganz deutlich zu erkennen, wie die (historische und logische) Reihenfolge verstanden werden muß: Der Komponist paßt sich nicht dem Publikum an, sondern er schafft etwas *Neuartiges*, was zwar gewisse bereits vorhandene Bedürfnisse und Wünsche aufgreifen mag, aber eigentlich etwas Neues bietet, was dann vorhandenes Publikum mitreißt oder neues erschließt.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    ...
    Auf Anhieb fällt mir überhaupt kein eindeutiger Fall ein, wo das Publikum (i.S. eines breiten Publikums, nicht dem einzelner einflußreicher Kritiker oder Mäzene) einen wesentlichen Anteil an einer "inhaltlichen" musikgeschichtlichen Entwicklung hatte. Vielleicht wäre die Entstehung von Händels Oratorien so ein Fall. Aber, wie unlängst im Händel-Thread schon angesprochen, ist hier wieder ganz deutlich zu erkennen, wie die (historische und logische) Reihenfolge verstanden werden muß: Der Komponist paßt sich nicht dem Publikum an, sondern er schafft etwas *Neuartiges*, was zwar gewisse bereits vorhandene Bedürfnisse und Wünsche aufgreifen mag, aber eigentlich etwas Neues bietet, was dann vorhandenes Publikum mitreißt oder neues erschließt.


    Da müssten sich jetzt die Experten äußern. Aber was ich so nebenbei mitbekommen habe, läuft der gesamte Kulturbetrieb zumindest der letzten Jahrzehnte genau nach dem Prinzip. Es wird von irgendeinem Künstler ein Trend gesetzt, der vom Publikum zufällig aufgegriffen wird und dem es nachläuft. Das zahlungskräftige Publikum verlangt dann viele ähnliche Werke und eine ganze Reihe von Künstlern bedienen diesen Markt. Bis zum nächsten Trend, dann müssen wieder alle umlernen. Besonders auffällig ist dies in der bildenden Kunst und Malerei, wird aber in der Musik nicht wesentlich anders sein.


    Ich glaube, dass es auch in der Vergangenheit nicht so fundamental anders war. Wir sehen rückblickend ja überwiegend nur die herausragenden Trendsetter, die vielen "Mitläufer" sind vergessen oder werden eben wieder mühsam ausgegraben, beurteilt und teilweise wieder zugeschüttet...

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Zitat

    Original von Theophilus


    Da müssten sich jetzt die Experten äußern. Aber was ich so nebenbei mitbekommen habe, läuft der gesamte Kulturbetrieb zumindest der letzten Jahrzehnte genau nach dem Prinzip. Es wird von irgendeinem Künstler ein Trend gesetzt, der vom Publikum zufällig aufgegriffen wird und dem es nachläuft. Das zahlungskräftige Publikum verlangt dann viele ähnliche Werke und eine ganze Reihe von Künstlern bedienen diesen Markt. Bis zum nächsten Trend, dann müssen wieder alle umlernen. Besonders auffällig ist dies in der bildenden Kunst und Malerei, wird aber in der Musik nicht wesentlich anders sein.


    Man hat tatsächlich den Eindruck der Beliebigkeit, der Willkürlichkeit von Trends, wie in der Mode. Aber interessant wäre sicher zu untersuchen, wie "zufällig" dieses "zufällig" ist. ;) Natürlich ist die Wirksamkeit von prominenten Meinungsverstärkern heute wie damals groß. Aber hat man doch wenigstens manchmal den Eindruck, dass ein Künstler ein Bedürfnis oder Interesse im Publikum anspricht, dass latent vorhanden, aber unartikuliert und höchstens vage bewußt war. Das bringen jetzt die neuartigen Kunstwerke in den Focus und zum Bewußtsein, daher werden sie so beliebt.


    Bei Händel war die Wirkung der Publikumsgunst erstmal negativ: Die Opernunternehmen waren (u.a. aufgrund der exorbitanten Gagen von Diven und Kastraten) immer pleitenbedroht, dazu wurden zumindest Teile des Publikums der gesamten Gattung überdrüssig, was ja der Erfolg der parodistischen "Beggar's Opera" deutlich machte. Vermutlich konnten aufgrund dieses Bewußtseinswandels zwei der wesentlichen Attraktionen der Opera Seria, Primadonnen und primi uomi und "Prospekte und Maschinen", Wasserfälle, Zauberinnen mit fliegenden Wagen usw., ohne Risiko weggelassen werden. Natürlich waren weiterhin virtuose Solisten notwendig, aber nicht in diesem Ausmaß und sie standen nicht mehr derartig im Mittelpunkt.
    "Ersatz" für die Bühne wurde gleichsam die reichhaltigere Musik, besonders die Chöre (die noch für Haydn 40 Jahre später der Kernpunkt der Begeisterung waren). Da Choristen und Instrumentalisten vergleichsweise billig waren, dürfte die Sache von vornherein wirtschaftlich lukrativer, jedenfalls stabiler gewesen sein (es floppten meines Wissens auch einige der Oratorien).


    Sicher spielte auch die Verschiebung von den typischen Seria-Plots zu den biblischen Inhalten eine wichtige Rolle.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
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    (Bob Dylan)

  • An eine reine und absolute Zufälligkeit des Zufalls und die sich selbst setzende Innovationskraft des Künstlers, der nicht allein ein Publikum gewinnt, sondern sich eigentlich erst selbst ein Publikum schafft, glaube ich nicht so recht. Solche Prozesse sind doch vermutlich erheblich komplexer. Händel hat womöglich mit dem englischsprachigen Oratorium ein neues Genre initiiert, aber er hat es auch nicht einfach aus der Luft gegriffen, sondern auf Verschiebungen im Publikumsgeschmack und auch in der Struktur und Qualität von Öffentlichkeit produktiv und innovativ reagiert. Die nach den Opernpleiten entstanden Oratorien basieren wohl nicht zufällig auf englischen, also volkssprachlichen Libretti (und eben nicht auf italienischen Texten, wie es Händel noch bis 1720 oder so praktiziert hatte und es im Rest Europas - Frankreich mal ausgenommen - auch noch bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht unüblich war). Die »Bagger's Opera« hatte ihren Erfolg womöglich nicht allein dem Umstand zu verdanken, daß sie das »Genre« der Opera seria persiflierte, sondern daß sie dies in englischer Sprache tat und zudem zugleich eine sozio-kulturelle Trägerschicht in Frage stellte/lächerlich machte.


    Das heißt: Der Künstler kann sich IMO nur ein neues Publikum erschließen, wenn er - wie JR das treffend beschrieb - »ein Bedürfnis oder Interesse im Publikum anspricht, dass latent vorhanden, aber unartikuliert und höchstens vage bewußt war.«
    Das ist (Entschuldigung für das profane Beispiel) wie mit dem Brühwürfel: der Erfinder desselben schafft sich auch nicht einfach ein Publikum, sondern reagiert innovativ und produktiv auf latent vorhandene Bedürfnsse der Konsumenten (e.g. schnell zuzubereitende warme Mahlzeiten); auf Bedürfnisse, die wiederum mit spezifischen historischen und gesellschaftlichen Entwicklungen zusammenhängen (Beschleunigungsprozesse im Alltag) usw.


    Ganz herzlich,
    Medard

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  • Lieber Alfred, liebe ForianerInnen,


    A propos Künstler und Publikum ist es immer wieder einmal hilfreich über den Gartenzaun hinaus zu blicken:


    Wie ist es denn in der Popmusik:
    Ich wohne hier in Bern am Berner Hausberg, dem Gurten, der jeweils im Sommer eines der grössten Pop-Festivals in der Schweiz, das Gurten-Festival“ beherbergt. Tausende strömen jedes Jahr auf den Hoger (bernisch für Hügel), um die MusikerInnen und sich selbst zu feiern.
    Das ist zwar nicht Woodstock, aber durchaus eine verschworene Gemeinde, Menschen verschiedenster Herkunft und Hintergrund, die sich dank der gemeinsam erlebten, gemeinsam geliebten Musik gegenseitig Sicherheit und Dazugehörigkeit vermitteln.
    Das ist „das Dritte“, welches sich in der Interaktion zwischen Künstlern und Teilhabenden ereignet.


    Im Grundzug (weniger in der Erregungskurve), gilt diese Beobachtung auch für das Konzert-und Opernpublikum. (Es soll ja in Bayreuth ja auch einen Hügel geben...)


    Das Zusammensein einer Masse, die auf ein Geschehen fokussiert ist, generiert eine ganz spezifische Energie.
    Ich habe wiederholt darauf hingewiesen, dass ich immer wieder staune ob der Tatsache, dass tausend und mehr Menschen bereit sind, gemeinsam in einem Raum still auszuharren, aufmerksam und fokussiert auf ein Geschehen auf der Bühne. Kein Mensch würde solche Qualen des Eingesperrtseins ertragen, wenn nicht irgend eine Qualität des Zusammenseins spürbar würde, die über den gemeinsamen (Musik)-Konsum hinausgeht, die aber dank diesem ermöglicht wird. Man kann es „das Dritte“ nennen.


    Müssig zu fragen: Was ist ein Pfarrer ohne Gottesdienstgemeinde? Man mag sich streiten über die Relevanz von wortlastigen Gottesdiensten, aber Tatsache ist, dass in der Interaktion zwischen dem/der priesterlich Beauftragten und der sogenannten Gemeinde sich durchaus ein „Drittes“ ereignen kann.


    KünstlerInnen und Publikum agieren imo in einer Interaktion mit kultischem Charakter. Beide sind aufeinander angewiesen, beide werden im besten Fall beschenkt durch „das Dritte“. Das "Dritte" bestimmt den Kurs, um Alfreds Frage salomonisch ausweichend zu beantworten


    Mit guten Wünschen


    Walter

  • Ich denke, die gehören zusammen, der eine kann nicht ohne den anderen, der eine kann auch nicht gegen den anderen.


    In Bonn gab es einen Orchesterchef, der sein konservatives Publikum mit Uraufführungen traktierte. Mr. Dennis Russell Davies bekam dann mit der Stadt ein klreines Problem, da das zahlende Abo-Publikum sich verlief, die Gehälter des Orchesters aber weiterliefen. Das hat lange gedauert und dauert eigentlich bis heute an (Kofman und die Aufführung sämtlicher Shostakovich-Symphonien). Das Gegenteil ist H. Beissel, der wohl 1800 Abos verkauft hat und dem konservativen Publikum gibt, was es möchte, allerdings mit jungem Orchester und meist völlig unbekannten Solisten, die allerdings für mich noch nie eine Enttäuschung waren.


    Ich denke, man sollte auch unterscheiden zwischen Publikum, das sich eine Karte kauft, um den Künstler und das Programm zu hören und dem Publikum, das ohne besondere Erwartung seinen Abo-Platz einnimmt und hört, was im Programmheft steht.


    Egal, ob jede Kunstart, die es gibt, oder jeder sonstige Beruf, man kann nicht gegen das Interesse seines Kunden, seiner Klientel, seines Patienten, was auch immer arbeiten, es muß eine Kommunikation bestehen, ohne Anbiederung.
    Es gescheht in der Regel ja auch eine Gegenleistung in Form von Geld oder der Anwesenheit, die auch nicht unterschätzt werden darf.
    Wenn dann etwas Gutes sich durchsetzt, bekannt wird (die Medien soll man da als Macht nicht unterschätzen), um so besser. Es ist selten genug.


    Es ist nicht leicht, Zustimmung zu bekommen, alle die ihr geistiges Produkt angeboten haben in der Vergangenheit haben das gewußt und so oder so darauf reagiert.
    Bei Beethoven mündete das in der lapidaren Aussage "wird ihnen schon noch gefallen", aber wer von uns Menschen kann ein solches´Selbstbewußsein von der Qualität seines geistigen Produktes haben!


    Lieben Gruß aus Bonn :hello: :hello: :hello:

    Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem andern zu

  • @: Ja, liebe Stabia, Du hast recht: das Publikum erziehen zu wollen geht meistens schief. Das Dritte (die reine Freude) entsteht nur in Absichtslosigkeit: eine solche ist nicht gegeben, wenn von der Künstlerseite didaktische Absichten durchschimmern.


    Die Masse ist träge, und der Zeitgeist der Mehrheit ist problematisch (um nicht deftigere Worte zu verwenden), aber gegen den Massengeschmack anzukämpfen ist nahezu aussichtslos.


    Künstlertum ist das Eine, von der Kunst zu leben, das Andere. Letzteres ist letztlich das Resultat einer geglückten Dienstleistung, noch prosaischer: die Folge des Zufriedenstellens des Auftragsgebers (z.B. des bezahlenden Abonnenten)


    Grüsse aus Bern
    Walter

  • Ich greife das Thema nach Jahren des Schweigens wieder auf. Viele Mitglieder die diesen Thread bestritten haben sind nicht mehr bei uns, zumindest drei davon bereits verstorben.
    Da erhebt sich die Frage, ob man diesen Thread fortsetzen - oder das Thema neu aufgreifen soll. Ich habe mich für ersteres entschieden. Selbst habe ich mich bei diesem Thread bisher nicht beteiligt, obwohl ich ihn selbst gestartete habe.
    Vielleicht auch deshalb, weil ich mit meiner Meinung in starkem Kontrast zu den meisten Vorschreibenr stehe.
    Ein Künstler ist nicht dazu da, sich selbst zu verwirklichen, sondern den Wunsch seines Auftraggebers zu erfüllen - natürlich wird seine Persönlichkeit und sein persönlicher Geschmack mit einfließen - aber er darf nicht jenem des Auftraggebers diametral gegenüberstehen.
    Wenn ein Papst der Renaissance eine Portrait oder eine Statue für sein Grabmal bei einem der Künstler seiner Zeit bestellte, so war es selbstverständlich, daß die Ansprüche des Bestellers, als da wären "Ähnlichkeit" - "Betonung des gesellschaftlichen Status des Abgebildeten", "Schönheit" - dem Zeitgeschmack entsprechend etc etc. Wie sagte Ludwig XIV von Frankreich so pointiert, als man ihm Genrebilde des bäuerlichen Lebens vorlegte ? "Schafft diese Fratzen aus meinem Angesicht".


    Das gilt auch für Bauwerke wie Schlösser und Paläste, bzw Sakralbauten. Auch Mozart musste seinem Publikum gefallen - speziell als er keine fixe Anstellung mehr hatte.
    Im Falle von Musik, die für ein Publikum bestimmt ist, ist es unumgänglich, den Geschmack dieses Publikums zu bedienen.
    Allerdings kann sich der Künstler - bei ausreichender finanzieller Absicherung - bis zu einem gewissen Grade - sein Publikum aussuchen....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ein Künstler ist nicht dazu da, sich selbst zu verwirklichen, sondern den Wunsch seines Auftraggebers zu erfüllen - natürlich wird seine Persönlichkeit und sein persönlicher Geschmack mit einfließen - aber er darf nicht jenem des Auftraggebers diametral gegenüberstehen.

    Im Falle von Musik, die für ein Publikum bestimmt ist, ist es unumgänglich, den Geschmack dieses Publikums zu bedienen.

    Das ist ein interessantes Thema und da ich annehme, lieber Alfred, dass Du mit den beiden zitierten Aussagen den Advocatus diabolus geben möchtest (denn 100% stehst auch Du da sicher nicht dahinter), gebe ich die Gegenseite.



    Ein Künstler ist nur dann ein wahrer Künstler, wenn er seiner inneren Stimme folgt und sonst niemand. Wenn er dem Wunsche eines Auftragsgebers oder des Publikums folgt, ist er vielleicht ein Handwerker - und es gibt sehr gute Handwerker - aber eben kein Künstler. Ein Künstler agiert natürlich nicht im luftleeren Raum und wird schon versuchen, ein Publikum zu finden. Aber im Zweifelsfalle findet er es nicht und macht dann trotzdem "sein Ding". Es gibt genügend Beispiele für heute sehr angesehene Künstler, die so gehandelt haben und die mich auch gerade wegen ihrer Kompromisslosigkeit faszinieren.

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  • Hallo,


    meine Antwort zu der oben gestellten Frage: ein klares sowohl als auch!


    Sicher gibt es immer wieder im gesamten Bereich der Kunst diejenigen "Künstler", die sich demonstrativ in der Verachtung des "dummen, ungebildeten, konservativen und jeder Innovation abgeneigten " Publikums ergehen; die Hervorbringungen dieser Kunstausführenden stehen leider oft in diametralem Gegensatz zum jeweiligen eigenen Anspruch.


    Wirkliche Künstler wenden sich stets an das Publikum, mit dem sie auf unterschiedlichste Weise kommunizieren, auf dessen Beifall und Zustimmung m.E. alle aus sind, auch wenn dies gelegentlich aus verschiedenen Gründen geleugnet wird.


    Man muß natürlich unterscheiden zwischen Auftragskunst und sozusagen freier Kunst, die nur auf der Inspiration des Künstlers beruht.
    Der Auftraggeber eines Kunstwerks bezweckt ja eine bestimmte Wirkung: Hier ist der o.g. Louis XIV ein gutes Beispiel: die Inszenierung der königlichen Macht war hier ein klares politisches Programm in Angesicht der Adelsfronde, die seine Kindheit und Jugend überschattet hatte und der beabsichtigten Landesvergrößerung durch die Reunionskriege. Insofern konnte er bäuerliche Genrebilder absolut nicht brauchen, denn für seine Zeit war auch das Private politisch, ungeachtet der Tatsache, daß Louis selbst genug Verantwortungsgefühl hatte, die Lage seiner Untertanen im Einzelfall zu verbessern, indem er täglich persönlich Bittschriften der "einfachen" Leute entgegennahm, selbst las und nach Möglichkeit half.
    Auf der anderen Seite gierte auch der Sonnenkönig auf Anerkennung seiner Leistungen. Der Park von Versailles war während seiner gesamten Regierungszeit öffentlich zugänglich, auch wenn der König dort spazieren ging und mit keiner Handlung konnte ein Höfling schneller in Ungnade fallen, als wenn er sich nicht hinreichend beeindruckt über die Ausstattung der königlichen Schlösser und Gärten zeigte.


    Der "freie", nicht an einen Auftraggeber gebundene Künstler, bzw. Musiker träumt sicher davon, völlig unbeeinflußt von der Publikumsgunst zu agieren.
    Da dies in der Regel reines Wunschdenken bleibt, suchen sich die lebenstüchtigen Vertreter dieser Gattung eine zusätzliche Tätigkeit zum Broterwerb, z. B. Mahler als gefeierter und sehr gut bezahlter Stardirigent, oder sind ohnehin finanziell unabhängig wie Francis Poulenc, der Erbe eines großen Vermögens war (Pharmaindustrie). Wem dies nicht in hinreichendem Maße gelang, wie z.B. Schönberg, lebte oft in beengten Verhältnissen.
    Aber auch Schönberg, von dem der angebliche Ausspruch "das Publikum ist mir sch...egal" überliefert wurde, träumte davon, daß eines Tages jeder Handwerker seine Kompositionen vor sich hin pfeifen würde (womit allerdings Schönbergs Weltfremdheit ausreichend bewiesen wäre).


    Viele Grüße


    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

  • Sicher gibt es immer wieder im gesamten Bereich der Kunst diejenigen "Künstler", die sich demonstrativ in der Verachtung des "dummen, ungebildeten, konservativen und jeder Innovation abgeneigten " Publikums ergehen; die Hervorbringungen dieser Kunstausführenden stehen leider oft in diametralem Gegensatz zum jeweiligen eigenen Anspruch.


    Hast Du dafür irgendein historisches Beispiel?


    Meines Wissens ist der launenhafte, arrogante Künstler seit der Renaissance (Michelangelo) ein mehr oder weniger akzeptiertes Klischee. Selbst wenn damals die Grenzen zu Handwerk und Technik noch fließend waren und jemand wie Leonardo sich nicht in erster Linie als Maler, sondern als Ingenieur empfahl.
    D.h. bis zu einem gewissen Grade wird solch ein Verhalten und eine entsprechende Rücksichtslosigkeit sogar von den Auftraggebern erwartet, der herausragende Künstler hat auch ein entsprechendes Selbstbewusstsein.


    Dazu kommen ganz praktische Punkte: Kein Auftraggeber kann einem Künstler exakt vorschreiben, was der machen soll. Weder hat er die künstlerische Phantasie noch die technischen Fähigkeiten.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Sicher gibt es immer wieder im gesamten Bereich der Kunst diejenigen "Künstler", die sich demonstrativ in der Verachtung des "dummen, ungebildeten, konservativen und jeder Innovation abgeneigten " Publikums ergehen; die Hervorbringungen dieser Kunstausführenden stehen leider oft in diametralem Gegensatz zum jeweiligen eigenen Anspruch.


    Ich glaube kaum, dass man Künstler findet, auf welche diese Beschreibung tatsächlich zutrifft. Viel plausibler ist hier, dass ein Publikum, dem eine bestimmte Art der Kunst einfach fremd ist, dem betreffenden Künstler solche Attribute andichtet aus puren Ressentiment (die Schwäche wird zum Verdienst umgelogen: weil ich die Sache nicht verstehe, ist sie eben an sich böse). Es gibt natürlich Künstler in verschiedensten Epochen, die einen gesellschaftskritischen Anspruch hatten oder haben. Die verlassen sich aber letztlich auf die Bildungsfähigkeit des Publikums, den aufklärenden oder wachrüttelnden Charakter von Kunst in einem jeden Menschen. Das schließt Verachtung aus. Sonst brauchten sie sich nämlich an ein Publikum überhaupt nicht zu wenden. Natürlich können Künstler ein bestimmtes Publikum verachten, das keinen Sinn für Kunst hat, wo es sich etwa um "Banausen" handelt (das ist menschlich). Nur kein Mensch schafft ein Kunstwerk mit dem Ziel und Zweck, damit jemandem zu mißfallen. Statt dessen wendet er sich an das Publikum, das ihn versteht - die Kenner und Liebhaber.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Hallo,


    man kann doch nicht leugnen, daß manche künstlerischen Hervorbringungen weniger vom "normalen", durchaus gebildeten und aufgeschlossenen Publikum goutiert werden, sondern auf die Akklamation einer Gruppe von Eingeweihten angewiesen sind, die um den jeweiligen Künstler und seine Werke einen beinahe pseudoreligösen Zinnober veranstalten.
    Ich kann mich noch gut an die Kölner Diskussionen um Vostell im öffentlichen Raum erinnern und habe auch einige typische Beuys- Groupies kennengelernt.
    Auch die Donaueschinger Musiktage in der Nachkriegszeit waren keineswegs durchweg von allgemeiner Toleranz gegenüber jeder Form der Musikkomposition gekennzeichnet, wie sie nach dem Erlebnis der Schreckenszeit zuvor eigentlich selbstverständlich hätte sein müssen, sondern bevorzugten in nahezu rabiater Weise die serielle Kompositionsweise, und auch die elektronische Musik im weitesten Sinne, womit ich hier keineswegs beides verächtlich machen will, ganz im Gegenteil.
    Und die teils dokumentierten und sicher auch z.T. e ben trovato Anekdoten über Beurteilungen, die Künstler, auch Musiker und auch die Größten, über ihr Publikum abgegeben haben, sind nun wirklich Legion!


    Viele Grüße


    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

  • man kann doch nicht leugnen, daß manche künstlerischen Hervorbringungen weniger vom "normalen", durchaus gebildeten und aufgeschlossenen Publikum goutiert werden, sondern auf die Akklamation einer Gruppe von Eingeweihten angewiesen sind, die um den jeweiligen Künstler und seine Werke einen beinahe pseudoreligösen Zinnober veranstalten.

    Wieso "angewiesen sind", lieber Joachim? Aus eigener Erfahrung kann ich hier über Stockhausen in Kürten berichten. Da sind einfach von der Presse Klischees verrbeitet und Mythen fabriziert worden, die nicht der Realität entsprechen. Die Leute, die sich da versammelt haben aus allen Ländern der Welt (nicht nur Europa) waren höchst unterschiedlich und alles andere als unkritisch oder Stochausen-hörig. Da waren Musikwissenschaftler und Komponisten, da waren junge Leute, Instrumentalisten, die sich für seine Stücke für Solo-Blasinstrumente begeisterten oder einfach nur Interessierte. Und Stockhausen hat von niemandem verlangt, dass man ihn als einen Guru verehren müsse. Er wollte nur, dass man ihn respektiert. Und das hatte er nun wahrlich verdient. Gerade Stockhausen war ein pädagogisches Genie, der jedem, auch dem unbedarftesten Zuhörer in Sachen Neue Musik, jegliche Angst davor nehmen konnte. Wenn man nur die nötige Aufgeschlossenheit mitbringt, dann bekommt man auch Zugang zu dieser Musik.



    Ich kann mich noch gut an die Kölner Diskussionen um Vostell im öffentlichen Raum erinnern und habe auch einige typische Beuys- Groupies kennengelernt.

    Solche "Groupies" gibt es auch in der Szene für Alte Musik und für Johann Sebastian Bach. Sagt das etwas gegen Bach?



    Auch die Donaueschinger Musiktage in der Nachkriegszeit waren keineswegs durchweg von allgemeiner Toleranz gegenüber jeder Form der Musikkomposition gekennzeichnet, wie sie nach dem Erlebnis der Schreckenszeit zuvor eigentlich selbstverständlich hätte sein müssen, sondern bevorzugten in nahezu rabiater Weise die serielle Kompositionsweise, und auch die elektronische Musik im weitesten Sinne, womit ich hier keineswegs beides verächtlich machen will, ganz im Gegenteil.

    Solche Intoleranz hat es gegeben, aber nicht gegenüber dem Publikum, sondern bestimmter Art von Musik und bestimmten Komponisten wie Tschaikowsky, Rachmaninow oder Sibelius. Solche Polemiken (gerade auch die von Adorno) habe ich immer als peinlich empfunden und nie akzeptiert. Meine Meinung ist, dass Künstler intolerant sein dürfen, denn sie müssen sich schließlich für einen Weg entscheiden und das auch vor sich selber rechtfertigen. Den Kritikern und Musikschriftstellern nehme ich es dagegen übel, wenn sie ihren Horizont dermaßen verengen.



    Und die teils dokumentierten und sicher auch z.T. e ben trovato Anekdoten über Beurteilungen, die Künstler, auch Musiker und auch die Größten, über ihr Publikum abgegeben haben, sind nun wirklich Legion!

    Sicher, Schönberg hat aus einer Mischung aus Enttäuschung, Verärgerung und verletztem Stolz heraus dem Publikum geschmollt auch dann, als es ihm kräftig applaudierte. Künstler sind verletzlich und eitel wie andere normale Menschen auch. Und Busoni etwa ist über den Musikbetrieb polemisch hergezogen in futuristischer Manier. Man sollte nur nicht meinen, das Schaffen von Kunstwerken und deren Aufführung werde von dem Motiv bestimmt, sozusagen Rache am Publikum zu üben. Das ist eben eine psychologisierende Unterstellung. Gerade solche Künstler wie Schönberg oder Busoni haben eine Einstellung, worauf Lutgra zurecht hingewiesen hat, die sich nur ihrer Kunst und nicht dem Publikumsgeschmack verpflichtet fühlen. Der Pianist Edwin Fischer hat mal gesagt: "Ich spiele nur für den lieben Gott und den Komponisten" - und eben nicht für das Publikum, wolte er damit ausdrücken. Das kommt aus der Romantik. Der Künstler verlangt Demut gegenüber dem Werk und seinem Schöpfer auch vom Publikum. Für Gefallsucht oder Mißachtung von der einen oder anderen Seite ist da einfach kein Raum.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Zitat

    der herausragende Künstler hat auch ein entsprechendes Selbstbewusstsein.

    Dagegen wäre ja theoretisch nichts einzuwenden - im Gegenteil - das Publikum liebt "charismatische Erscheinungen" und "Gurus" in der Kunst - siehe Karajan oder Celibidache etc.
    Leider haben aber immer mehr "Möchtegern-Künstler" ein entsprechendes Selbstbewusstsein - und sie tragen es ungeschickterweise offen zur Schau, um zu übertünchen, daß sich eigentlich kaum jemand wirklich für sie interessiert. Indem sie sich vor Angriffen des Publikums durch das zweifelhafte Dogma der "Freiheit der Kunst" abzuschirmen versuchen und sich von einer Clique von Kritikern bejubeln lassen, versuchen sie der Ablehnung durch das Publikum (bzw eines Großteils desselben) durch stattliche Subventionen zu entfliehen.



    Zitat

    Dazu kommen ganz praktische Punkte: Kein Auftraggeber kann einem Künstler exakt vorschreiben, was der machen soll. Weder hat er die künstlerische Phantasie noch die technischen Fähigkeiten.

    Das ist eine Teilwahrheit. Für ein Computer-Adventure-Spiel hatte ich die szenischen Grundgedanken, und ein mit der Rendertechnik Vertrauter folgte weitgehend meinen Entwurfszeichnungen. Manches wurde verändert oder verbessert, manches eben nicht. Dazu bestimmte ich die Beleuchtung der Szenen, die in gewisser Weise "Bühnenbilder" waren - In letzter Konsequenz wurde mein Wille erfüllt. - Natürlich hat der Künstler , bzw Designer einen gewissen Spielraum - mehr aber auch nicht.


    Zusatzbeispiel:
    Ein Pianist hat sich an die Noten des Komponisten zu halten - ein kleiner Freiraum bleibt indes.
    Wird der überschritten ist das Werk verfälscht, bzw verdorben


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hallo, Holger,


    ich kann Dir in vielem folgen. Allerdings meine ich auch, daß die verhängnisvolle Neigung zur "Gurumanie" mehr bei bildenden Künstlern als bei Musikern ausgebildet zu sein scheint, wenn man z.B. an Hermann Nitsch oder Otto Muehl denkt.


    Mit Deiner Meinung zu Stockhausen gehe ich d áccord, wobei man hier - ohne Stockhausens Verdienste schmälern zu wollen - schon diskutieren könnte, ob bei seinen Kompositionen die Idee und ihre Ausführung immer eine ganz glückliche Verbindung eingehen, ganz im Gegensatz etwa zu Mahler, den wir ja, wie ich weiß, beide ausserordentlich schätzen.
    Ich habe in diesem Zusammenhang kürzlich wieder einmal das Helikopter-Quartett sowie den Gesang der Jüngline angehört; dabei kam mir dieser Gedanke. Allerdings auch, als der von mir hochgeschätzte Penderecki im vergangenen Jahr beim Beethovenfest persönlich sein Resurrection-Klavierkonzert mit Rudolf Buchbinder aufführte. Auch die anschließend angeschaffte CD mit Florin Uhlig ließ mich ratlos zurück.
    Aber pardon: dies führt vom Eingangsthema weg.


    Viele Grüße


    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

  • Mit Deiner Meinung zu Stockhausen gehe ich d áccord, wobei man hier -ohne Stockhausens Verdienste schmälern zu wollen- schon diskutieren könnte, ob bei seinen Kompositionen die Idee und ihre Ausführung immer eine ganz glückliche Verbindung eingehen, ganz im Gegensatz etwa zu Mahler, den wir ja, wie ich weiß, beide ausserordentlich schätzen.


    Ich finde es schade, lieber Joachim, dass man damals die "Kugel" von Osaka nicht in Köln wiederaufgebaut hat. So gibt es von elektronischer Musik, die sich im Raum bewegt, immer nur Aufführungen mit Notbehelf. Das hätte ein Publikumsmagnet werden können und die Komposition von elektronischer Musik beflügeln. Wenn man bedenkt, wieviel Geld heute für billige Unterhaltung verschleudert wird - Vergnügungsparks etc. - dann versteht man kaum, warum es dafür nicht gereicht hat. Bei Stockhausen - und nicht nur bei ihm - gibt es natürlich das nicht zu unterschätzende Problem (was Stockhausen, der wie Mahler durchaus auch ein "Praktiker" war, selbst ja auch gesehen hat) des "Idealismus" (durchaus verwandt mit Beethovens Einstellung, der auf die Beschwerde eines Bläsers, das könne er nicht spielen, antwortete: "Was interessiert mich Dein scheiß Instrument!" - und wohl wie Kant meinte "Du kannst, weil Du sollst!"), dass die Ausführung in vielen Fällen so immens komplex und verfeinert sowie technisch anspruchsvoll ist, dass sie dazu tendiert, die Ausführenden zu überfordern bzw. das absolute Spezialistentum fördert und so die Musik in den normalen Aufführungsbetrieb kaum zu integrieren ist. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Hallo,


    ich sehe in dieser Hinsicht auch für die Zukunft keine erfreuliche Perspektive, denn so z.B. wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk z.Zt. aufgestellt ist, fällt er als Sponsor solcher Aufführungen wohl gänzlich weg. Man müsste versuchen, das Kultursponsoring großer Unternehmen in Anspruch zu nehmen; wie realistisch das ggf. ist, vermag ich nicht zu sagen.


    Viele Grüße


    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)

  • Wer bestimmt den Kurs?


    Ich hoffe doch, dass es immer noch die Kunst ist, die den Kurs bestimmt. Der als Nachschöpfender auftretende klassische Interpret wird zunächst mit einem Werk konfrontiert. Wenn er ein Künstler ist, löst es etwas in ihm aus. Aufgrund seines Wissens, seiner Erfahrung, seines Geschmacks, seiner Emotionen und seines Könnens formt sich im Laufe des Arbeitsprozesses ein bestimmtes subjektives und original nur so bei ihm vorhandenes Interpretationsprofil.
    Wenn er mit dem Stück so weit ist, dass er es vortragen kann, dann spielt er es so, wie er es spielen kann und muss.


    Die Vorstellung, dass er sozusagen als Dienstleister eines bestimmten Interpretationsgeschmacks des Publikums fungieren sollte, hat mit Kunst und dem künstlerischen Prozess, den ich oben beschrieb, eigentlich nichts zu tun.
    Solche Dinge gibt es ja im Bereich der Musik - z.B. wenn Alleinunterhalter oder Bands auf Fähren der Stena-Line, Color-Line oder anderer Kreuzfahrer dem Publikum einen schönen Abend servieren sollen. Das ist ganz klar ein Service und spricht eine bestimmte, durchaus breite Klientel an. Wenn da so ein Typ mit einem Glitzerhemd dem Publikum trällert, dass sieben Fässer Wein nicht gefährlich sein könnten etc, dann trifft er sicher genau einen bestimmten Publikumsgeschmack (meinen nicht...)


    Als Kirchenmusiker muss ich natürlich auch Töne liefern, aber ich versuche doch immer, dieses durch meine Spielweise, Registrierung, eigene Sätze /Arrangements und Kompositionen mit einem persönlich-künstlerischen Anspruch zu verbinden. Genau das erwarte ich auch in klassischen Konzerten, bei denen die Musiker letztendlich ja auch Töne für Geld zu liefern haben. Die Vorstellung, dass im Vorfeld einer Aufführung einer Beethovensymphonie per App oder im Netz abgestimmt wird, dass die Mehrheit die Interpretation z.B. in Richtung karajanscher Klangstrom (oder in anderer Richtung) gerne hätte und dann die Musiker liefern müssten, scheint mir nicht nur absurd zu sein. Sie wäre das Ende der Kunst. Zum Glück sind wir nicht so weit.


    Klassische Musik als den Marktgesetzen unterworfene Dienstleistung?
    Nein, danke. Unter solchen Voraussetzungen hätten Vollkünstler wie Furtwängler nie eine Chance gehabt, Glenn Gould auch nicht....


    Gruss
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

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