Hatte den folgenden Beitrag ursprünglich im Thread "Voting Regietheater gegen Werktreue" reingesetzt. Da war er nicht ganz richtig platziert, daher habe ich diesen neuen Thread eröffnet - zumal sich so viele dazu geäußert haben:
Salute,
habe noch mal ein wenig geforscht und Originalentwürfe, Grundrisse und Modellbauteile der großen Bühnenbildateliers gefunden, z.B. Brückner, Müller-Godesberg. Ich bin noch ganz verzaubert von dieser Farbenglut, der Stilsicherheit in Ornamentik und Formenlehre, den perspektivischen Spielereien. Jetzt werden einige ins Koma fallen, aber mir sind diese gemalten Kulissen 1.000 mal lieber als die Styropororgien der 60er und 70er-Jahre, die zudem für die Bühnenausstatter auch immer sehr gesundheitsschädigend und für die Sänger arg schallschluckend sind.
Außerdem finde ich's ehrlicher: Das Theater ist eine Scheinwelt und das wird von gemalten Kulissen noch unterstrichen. Was die damals alles konnten. Ich habe Modellbauteile des Tannhäusers gefunden. Also, so würde ich das wirklich gerne sehen: "Dich teure Halle grüß ich wieder". Wow, alles voller Gold und und Mosaiken. Historismus pur und damit ja schon fast wieder ein Regietheateransatz Dann: Walddurchblicke für Freischütz, Schlössereinrichtungen, Kerker, gotische Stadtansichten, romanische, italiensiche, spanische und vieles mehr. Das Beste war ein Schiffsmodell für ein mir nicht bekanntes Stück. irgendwas vom heiligen Stephanus. Also, das war wirklich beeindruckend: Diese perspektivischen Verkürzungen in Takelage, Schnitzwerk und Ausbuchtungen. Die Galeone bestand aus fünf Teilen. Richtig gestellt war die Illusion perfekt.
Witzig und mir sehr sympathisch, weil kostengünstig. Aber viele werden jetzt die Nase rümpfen: Früher wurden Versatzstücke ganz einfach vermischt. Ein paar Tannen von Hänsel und Gretel, ein paar vom Freischütz, eine Ruine vom Troubadour und schwupps schon stand da ein erzromantisches Bühnenbild für "Hans Heiling". Überhaupt: Die Romantik! Also, davor hatten die früher gar keine Angst. Was ich da alles gesehen habe, da würde ein Disney im Kinopanorama erblassen. Nein im Ernst, ich plädiere ganz ehrlich für die Rückkehr gemalter Kulissen:
Sie sind preiswerter, ermöglichen schnelleren Umbau, transportieren den Schall besser und entfesseln einen Farbenrausch, dem ich mich nicht entziehen kann. Versucht gar nicht erst mich zu bekehren, das ist vergebliche Liebesmüh.
Freundliche Grüße,
Knuspi
ZitatOriginal von Armin Diedrich
Nur solltest Du erst einmal abwarten, bis du so etwas auf der Bühne gesehen hast, bevor Du schwärmst... Vergiß nicht, daß es zur Zeit, als die gemalten Kulissen verwendet wurden, noch kein elektrisches Licht gab, und da sieht das Ganze dann schon weniger gut aus. Übrigens war es seinerzeit in den kleineren Theatern üblich, daß man nur einen gewissen Fundus von Kulissen besaß, der dann immer wieder zum Einsatz kam. Den Saal, den man aus dem "Troubadour" kannte, fand man im "Tannhäuser" wieder... neu angefertigte Bühnenbilder wurden als spezielle Atrraktion auf dem Theaterzettel vermerkt.
ZitatOriginal von Theophilus
Nun, es gibt in Russland heute noch gemalte Kulissen (z.B. Bolschoi) und ein talentierter Beleuchtungsmeister zaubert dir fast jeden gewünschten Effekt auf die Bühne, auch eine Art "Gaslicht", wenn nötig. Das Problem liegt meines Erachtens weniger in der Realisierbarkeit mit heutigen technischen Voraussetzungen, als in der Auffindbarkeit von Bühnenbildnern, die das entsprechende Handwerk beherrschen.
Hallo Armin,
Du, ich habe solche Bühnenbilder live in Moskau gesehen: Onegin, Ivan Sussanin. Es war alles nur gemalt, alle Säulen, jeder Baum und jedes Haus, selbst der Kreml im Schlussbild vom Susanin. Das Publikum gab jedesmal Szenenapplaus.
Durch den Besuch dieser Bolshoi-Aufführungen, die ich tausendmal schöner fand als die gleichzeitig besuchten Schwanensee, Jolanthe und Nabucco - die zwar relativ werktreu waren aber in Bezug auf Atmosphäre dem Vergleich mit den historisierenden oben genannten Bühnenbildern nicht das Wasser reichen konnten - wurden gemalte Kulissen für mich erst zm Thema. Bis dato kannte ich derartiges nur von historischen Fotos,die aber den Eindruck nicht wiedergeben können: SIe sind zu grell ausgeleuchtet und halt eben schwarzweiß. Ich hatte auch immer gehört, dass gemalte Kulissen mit dem heutigen Licht nicht vereinbar seien: Das Bolschoi beweist das Gegenteil.
Hallo Theophilus,
ja, das ist allerdings ein Problem. In Deutschland wirst Du da kaum mehr fündig. Als Jürgen Rose vor ein paar Jahren den Hänsel in Köln neu inszenierte, da ließ er die Maler einfliegen, die ihm den Tannenwaldprospekt zauberten. Unglaublich, die haben dafür Monate gebraucht. So was war früher Standard jeden größeren Theaters. Schade, schade, was da alles an Technik und Können in Vergessenheit geraten ist. In Italien, Russland und der Tschechei wird diese Kunst noch gelehrt, aber sie ist im Schwinden.Selbst ins Bolschoi schwappt die moderne Auffassung von Theater und hat den von mir so bewunderten Onegin in die Versenkung verdonnert. Jetzt gibt's da ein Einheitsbühnenbild.Schnarch!
LG,
Knuspi
ZitatAlles anzeigenOriginal von Walter Krause
Ich kann Theophilus da nur nachhaltigst bestätigen. In manchen Theatermuseen kann man an Hand von Modellen die ursprüngliche Wirkung noch bruchstückhaft nachvollziehen. An großen Häusern waren als Kulissenmaler ausgeprochene Spitzenkräfte engagiert (wie in Wien die Brioschis oder Rottonara) - wenn man da einmal ein paar Entwürfe vor Augen gehabt hat, dann versteht man Knuspis Begeisterung voll und ganz.
Einen schwachen optischen Abglanz der Originale vermittelt auch z.B. der von Vana Greisenegger-Georgila gestaltete Katalog "Theater von der Stange - Wiener Ausstattungskunst in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts", erschienen 1994 im Böhlau Verlag.
Über manche Tricks der Bühnengestalter informieren auch zeitgenössische Artikel in Blättern wie "Vom Fels zum Meer", "Gartenlaube" etc. Gerade wenn eine Bühne nicht taghell erleuchtet ist wie ein Operationsfeld, kann man allerhand Illusionen zaubern.
LG
Waldi
ZitatAlles anzeigenOriginal von Edwin Baumgartner
Nun gebe ich zu, daß diese gemalten Bühnenbilder einen ganz eigenen Reiz haben können, im Westen aber problematisch wären - und zwar nicht wegen des Regietheaters, sondern gerade wegen des konservativen Theaters.
Otto Schenk etwa (aber nicht nur er, sondern sehr viele Regisseure eines vergleichbaren Ansatzes) ließ seine Bühnenbildner die Szenerie stets mit dermaßen viel Klimbim vollrammeln, daß sich dieses Ausstattungstheater in Zusammenhang mit konservativen Regiearbeiten in den Köpfen der Zuschauer so festsetzte, daß ein gemaltes Bühnenbild als "Lösung für die armen Leut'" gelten würde.
Man munkelt ja auch, daß Wieland Wagners "entrümpelte Bühne" primär einer Geldnot und erst sekundär einer künstlerischen Vision entsprang - was letzten Endes aus heutiger Sicht egal ist, es war jedenfalls stilprägend.
Ein anderer Fall kam mir neulich in Wien unter, wo das Mariinskij Theater mit Prokofjews "Spieler" gastierte. Es war eine "konservative" Aufführung - aber es gab auch hier ein Einheitsbühnenbild, und zwar eines von ausgesuchter Beliebigkeit, wie ich es vor 20 Jahren an den kleineren Stadttheatern im deutschsprachigen Raum zuhauf erlebt habe, und zwar sowohl in konservativen als auch in modernen Regiearbeiten. In diesem Bühnenbild wurde nun herumgestanden, als wär's eine konzertante Aufführung, lediglich der Protagonist erwies sich als guter Schauspieler.
Wenn ich nun zurecht vermute, daß das Mariinskij Theater nicht mit einer völlig ungeprobten oder/und total abgespielten Auffüghrung auf Tournee geht, diese "Spieler"-Aufführung also halbwegs repräsentativ ist, dann glaube ich eher nicht, daß das szenische Heil des zeitgenössischen Musiktheaters ausgerechnet in Rußland zu suchen ist.
Ich weiß aber auch, daß es dort ungeheuer begabte junge Regisseure gibt, die ein moderneres Musiktheater machen - aber das ginge in eine Richtung, als deren Fürsprecher ich Knusperhexe und Theophilus eher nicht vermute.
Hallo Edwin,
ja, da gebe ich Dir recht. Das war lange auch meine Meinung. "Ach, das war ja früher nur gemalt. Eine billige Lösung.Eine Lüge." Und gerade das macht jetzt den Reiz für mich aus. Wenn ich denke, wie teuer bis in die 80er hinein Theater gemacht wurde: Alles musste gebaut sein, der Boden aus echtem Marmor, die Balkendecke aus echtem Eichenholz u.s.w. - eine schöne, aber sehr verschwenderische Auffassung von Theater! Zumal wenn diese Inszenierungen schnell wieder in der Versenkung werschwanden. Und wie gesagt, ich halt's für unnötig: Warum etwas teuer bauen, wenn Du mit gemalten Kulissen den gleichen, wenn nicht intensiveren Eindruck erwecken kannst. Aber leider scheint ja für beide Formen, sowohl für die Materialorgien als auch für die gemalten Schinken die Götterdämmerung bereits vollzogen. Bleibt mir also nur das Schwelgen in den alten Entwürfen. Übrigens waren da viele von der Staatsoper bei.
LG,
Knuspi
ZitatAlles anzeigenOriginal von Walter Krause
Lieber Christoph,
In Wien sind die eher schwer zu finden (einen Band habe ich selbst, wo so ein Artikel drin ist, nur kann ich nicht garantieren, ob ich ihn finde - da geht's, glaube ich, um künstliche Effekte wie Blitz und Donner), sicher jedoch in Berlin und anderen deutschen Bibliotheken.
Falls ich daheim fündig würde, könnte ich Dir ein Xerox schicken.
LG
Waldi
ZitatOriginal von Armin Diedrich
Nicht verzagen, den Bibliothekar fragen:
http://www.ubka.uni-karlsruhe.de/kvk.html
Da finden sich genügend Nachweise, wenn auch vollständige Reihen selten sind. "Vom Fels zum Meer" liegt allerdings auch in einer Mikroficheausgabe vor
Lieber Armin und lieber Waldi,
vielen Dank für Eure Tipps. Ich werde weiterforschen. Falls Euch oder irgend jemand der Taminoianer was in die Hände fallen sollte - bitte bei mir melden.
Übrigens war auch ein zerlegtes Modell von der Hundinghütte dabei, das ich mit meinem Ankerbaukasten schnell mal aufgestellt habe. Ist schon beeidruckend, wie die wuppdich! ganze Räume gezaubert haben. Irgendwie macht's das Auge mit - und obwohl man die ganze Zeit zweifelt, komplettiert's die Achsen und Sichtbezüge zum kompletten Raum. Eine richtige Teufelei!!!
Liebe Grüße,
Knuspi
Da fällt mir gerade ein: Die Tage soll doch "Die Zauberflöte" aus Berlin übertragen werden. Es handelt sich um eine Everding-Inszenierung in den gemalten Schinkel-Bühnenbildern. Mist, habe keine Rundfunkzeitung. Wisst Ihr, wann's kommt?
ZitatAlles anzeigenOriginal von Walter Krause
Lieber Christoph,
Den erwähnten Artikel habe ich gefunden. Er ist 1883 in Band 2 "Vom Fels zum Meer" erschienen, illustriert und verweist auch auf einen offenbar entsprechenden Beitrag in Band 1.
Der Titel lautet "Die Wunder der Bühnenwelt". Verfasser ist der Redakteur der Zeitschrift, der bekannte Journalist Joseph Kürschner (1853-1902), dem sogar Hans Wollschläger bescheinigte: "...Kürschner, der von der Naturwissenschaft her kam, war bei aller journalistischen Fixfingrigkeit dem Erziehungsbegriff der Zeit beträchtlich voraus...".
Wenn Du eine Kopie wünschst, bitte um PN!
LG
Waldi
komme gerade wieder von meinen Recherchearbeiten. Wie immer war's ein Traum, was ich alles gefunden habe und so langsam löse ich die Konstruktionsgeheimnisse alter Bühnenbilder. Anhand von einer alten Carmen Inszenierung aus dem Jahre 1902 an der Kölner Oper und einer kurze Zeit später entstandenen Margarethe werde ich immer schlauer. Beide Inszenierungen habe ich in Grundriss und Modellbauteilen ausgegraben.
WAHNSINN!!!!
Allein die Schmugglerschlucht in ihren dunkelschwarz gehaltenen Höhlen, Klüften und Buchten ist so beeindruckend, dass ich gleich die Musik gesummt habe, als das Modell stand. Oder die Straße in Sevilla - komplett mit Brücke, Balkonen, Verschachtelungen und einer Farbenglut von allen Orange- und Rottönen bis zu gleißendem Weiß! So kannst Du das nicht hinkriegen, wenn's gebaut ist, das muss gemalt sein.
Übrigens, wenn ich's mit Blitz fotografierte, hatte es den gleichen Effekt. wie auf alten Fotos: Grelle Blitze entlarven die Zweidimensionalität. Ohne Blitz aber erreicht es eine unglaubliche Tiefe und Dreidimensionalität.
Und dann erst der Faust: War das früher ein Spektakel: Eine Unmenge an Verwandlungen, kein Einheitsbühnenbild, jedes erstrahlte in anderen Farben und immensen Perspektivspielen. Die haben damals sogar die Szene in Margarethes Garten in zwei Bühnenbilder geteilt: Zuerst spielte es in ihrem Zimmer, dann nach Faust Arie ging der Vorhang und es kam die Szene am Spinnrad und die spielte in einem üppigen Garten. Dann das Brockental, das Bacchanal, der Kerker, die Apotheose - natürlich mit Engeln und Wolkenschleiern. Seufz! Voller Theaterzauber! Ich bin noch ganz verzaubert.
Hihi - und bei der Erstinszenierung der Königskinder war jeder Gans namentlich ein Bühnenarbeiter zugeteilt, der die Viechereien von der Unterbühne aus mechanisch zum Leben erweckte.
Vergleicht man die Modellteile und Grundrisse mit alten Fotos und Rezensionen, so taucht man echt ab in eine andere Zeit. Und die war so formschön und kultiviert, das es mir den Atem verschlägt. Jedes Detal wurde wahrgenommen. Wehe, eine Farbe schien nicht richtig gewählt oder ein Architekturdetail stimmte nicht: In der nächsten Rezension stand's geschrieben und es wurde höflichst aber bestimmt um Änderung gebeten. Mann, waren die damals gebildet und wie liebten die ihr Theater.
Heute - na, lassen wir das: Man kriegt das heulende Elend. Was würden wohl die Bühnenbildner, Rezensenten und Sänger von damals sagen?
Mein Sehnen, mein Wähnen - es träumt sich zurück...
LG,
Knuspi
ZitatOriginal von severina
Hallo Knuspi,
da kriegt man ichtig Lust, das alles zu sehen! Betreibst du deine Spurensuche jetzt eigentlich privat oder beruflich? (Sorry, wenn diese Frage zu privat ist )
Auch als 80%-Regieli verstehe ich deine Begeisterung gut, nur in einem muss ich dir energisch widersprechen :motz: : Nicht nur "damals" liebten die Leute ihr Theater, wir lieben es genauso!!!!!!!!!!
lg Sevi
Bzgl. Theaterliebe hast Du mich ein wenig missverstanden. Ich bin sehr beeindruckt, wie die Künstler damals für das Theater gelebt haben. Die Besucher zehrten länger von einem Theaterbesuch: Es gab schließlich kein TV, keine kompletten Opernaufnahmen auf Platte und um dem Publikum wirklich eine verzauberte, gänzlich andere Welt zu bieten, in die man eintauchen und die Umwelt vergessen kann, wurden die Inszenierungen, Bühnenbilder und Kostüme unter einem ganz anderen ästhetischen Anspruch erstellt. Ein immenser Aufwand, der da betrieben wurde! Und wenn man so viel Zeit darein investiert, dann kann das nur mit Liebe zu tun haben. Heute geht's halt alles ein wenig gehetzter zu am Theater.
Zum Papiertheater: Ja, kenne ich gut - ist aber nur ein müder Abglanz von den Modellen damaliger Operninszenierungen. Vielleicht veröffentliche ich wirklich mal einiges. Halte Euch auf dem Laufenden. ABER:
Wenn irgendwer irgendwas an damaligen Blicken hinter den Kulissen in schriftlicher Form vorliegen hat, bitte bei mir melden. Ich habe jetzt ein italienisches Manuskript zur Theatermalerei gefunden. Hossa, Hossa - ich bin gut in perspektive - aber die Tricks damals sind echt kniffelig!!!!! Übrigens ich mache jetzt mal einen eigenen Thread zu diesem Thema auf.