Reinhold Moritzewitsch Glière (1874-1956):
Sinfonie Nr. 3 h-moll op. 42 „Ilja Murometz“ (1909-11)
gewidmet: Alexander Glasunov
Uraufführung: 10/23. März 1912, Moskau,
anlässlich der 10. Sinfonischen Versammlung der Russischen musikalischen Gesellschaft,
Dirigent: E. A. Kuper.
Ausgezeichnet mit dem Glinka-Preis (1914).
Dauer ca. 90 Min
1. Wandernde blinde Sänger. Ilja Muromez und der Heilige. Andante sostenuto. Allegro risoluto
2. Der Nachtigallen-Räuber. Andante
3. Bei Wladimir, dem Sonnenfürsten. [wörtl. Rotes Sonnchen]. Allegro
4. Die Heldentaten und die Versteinerung von Ilja Murometz. Allegro tumultuoso. Tranquillo. Maestoso solemne. Andante sostenuto.
„Ilya Murometz“, die nach einem russischen Freiheitskämpfer benannte 3. Sinfonie Glière`s, wurde im selben Jahr publiziert, wie Stravinskys Petruschka, die Vierte von Sibelius, oder Schönbergs Gurrelieder.
Die Instrumentation sieht u.a.vor:
4-faches Holz
8 Hörner
4 Trompeten
4 Posaunen
Celesta
2 Harfen
Eigentlich erstaunt es mich nicht, dass es zu Glière`s 3. Sinfonie noch keinen eigenen Thread gab: Was können Worte schon ausrichten angesichts eines solchen Monuments? Lasst es uns dennoch wagen!
Diese Sinfonie begeistert oder schreckt ab. Mit rund 90 Minuten Spieldauer sprengt sie selbst brucknersche und mahlersche Masse. Diese Musik ist in jeder Hinsicht extrem: Extrem langsam und flächig, aber auch extrem laut und bombastisch: Wie gesagt man liebt sie, oder man hasst sie. Unschwer zu erraten, dass ich sie liebe, ja, dass ich nicht zögere, sie als (m)ein Höhepunkt der russischen Spätromantik zu bezeichnen (soweit ich diese eben überhaupt überblicke).
Vorab ein paar Worte zu Glière:
Reinhold Glière, dessen Vorname sich (gemäss Edwin Baumgartner) auf russisch "Reingold" schreibt und spricht, ist der zweite Sohn von Ernst Moritz Glier und der Polin Josephine Kortschak: Er wurde 1875 in Kiew geboren.
Sein Taufname war Reinhold Ernst Glier.
Sein Vater war ein aus Klingenthal (Untersachsenberg) nach Kiew ausgewanderter Blasinstrumentenbauer.
1894 begann er seine Studien am Moskauer Konservatorium (Anton Arenski und Sergei Tanejew).
1901, ein Jahr nach Abschluss seiner Studien erhielt Glière eine Lehrstelle an der Gnesin-Musikschule in Moskau, die er bis 1913 beibehielt. (unterbrochen von einer Dirigentenausbildung bei Erich Fried in Berlin)
Dann wechselte er an das Konservatorium in Kiew, wo er 1914 zum Direktor ernannt wurde. Von 1920 bis 1941 unterrichtete Glière Komposition am Moskauer Konservatorium. Nikolai Miaskowskij und Sergei Prokofjew gehörten zu seinen Schülern.
In der Sowjetunion war Glière vielfältig öffentlich tätig. So hatte er von 1938 bis 1948 den Vorsitz des Organisationskomitees des sowjetischen Komponistenverbandes inne! Glière war in der alten Sowjetunion eine angesehene Persönlichkeit (was ihn uns natürlich suspekt macht), was der Verbreitung seiner Werke im Westen lange Zeit im Weg stand.
Manche behaupten, seine Rolle im sowjetischen Musikleben sei unrühmlich gewesen, andere meinen, er sei der Politik relativ indifferent gegenüber gestanden. Vielleicht weiss jemand von Euch mehr (insofern dies überhaupt relevant ist für die 3. Sinfonie, die ja relativ früh entstand).
Nachfolgend einige Höreindrücke, die sich beziehen auf eine ältere Aufnahme durch Harold Farbermann und das Royal Philharmonic London:
Der Kopfsatz beginnt mit einem nicht enden wollenden düsteren Lamento:
Geduldiges Hören ist geboten, mit einem guten Fokus der Aufmerksamkeit, sonst wirkt diese Einleitung unerträglich langweilig. In voller Präsenz wirken die Klangflächen aber höchst intensiv, ja meditativ. Ich kenne keinen Sinfoniesatz, der sich so viel „Anlaufzeit“ gönnt.
Rund 10 Minuten braucht Glière, bis sein Koloss quasi in Gang kommt, um ihn dann durch russisch-orthodoxe Blech-Choräle gleich wieder abzubremsen. Der Choral bestimmt nun die Szenerie, die sich dem Bombast nicht verweigert. Doch nie wirkt das Getöse plakativ oder peinlich affirmativ, immer steht der Glanz im Dienst der tragischen Grösse.
Der zweite Satzes ist geprägt von der Skurrilität des Kontrafagotts, das die gespenstische Stimmung einer Drachengrube verbreitet, solchermassen, als ob die Musik den 1. Preis beim Wettbewerb für die „Gruseligste Musik“ gewinnen möchte. Wieder kommt die Musik kaum vom Fleck, d.h. es ist schwierig, einen Grundpuls wahrzunehmen: Da ist viel Gewusel und Gemurmel in der Bassregion, nach laaanger Zeit allmählich übertönt durch Vogelstimmen-Imitationen, gleichsam als ob der frühreife 3-jährige Olivier Messiaen persönlich über Glières Teppich von ornitologischer/orientalischer Farbenpracht kullern würde.
Glière zaubert eine Stimmung herbei von pardiesischer (Henri-Rousseau-) Ueppigkeit, eine verführerische Einladung zum Sein. Die Musik bewegt sich nicht, sondern bildet einen weichen Klangteppich in feuchter Fauna und Flora.
Doch der Kontrafagott-Drache schläft nicht und gibt laut: Es gibt kein Paradies auf der unheilvollen Erde. Ein Paradiesvogel nach dem anderen wird aufgefresssen und der Drache sinkt satt in den Sumpf zurück.
Szenenwechsel im 3. Satz. Endlich kommt Bewegung in die Sinfonie (nach 55 Minuten Statik!) Ein fetziges Scherzo à la russe, feinsinnig sommernächtlich geknüpft. Das ist einfach gute, leicht verständliche Musik, die aber imo irgendwie nicht so ganz ins Ganze dieses Werks passen will.
Und schon nach 8 Minuten Ausgelassenheit scheint denn der Ernst des Lebens auch wieder Oberhand gewinnen zu wollen:
Sehr düster hebt der vierte Satz an, allerdings jetzt durch ostinates Paukengedröhn angetrieben. Und was sich jetzt entfaltet ist imo die grandioseste Musik der russisschen Spätromantik. Die kontrapunktische Kunst Glières lässt seine Rimskijs, Tschaikowskijs, Glasunovs usw alt aussehen! Auf der Oberfläche dröhnt zwar der Bombast, aber wenn man in die Tiefe hört, offenbart diese Energiebombe klar geschnitzte, sehr oft kunstvoll fugierte Strukturen von höchster Stringenz. Die Musik endet, verendet erschöpft und versteinert in kristalliner Struktur.
Ich bin bewusst nicht auf die Heldensaga von „Ilya Murowetz“ eingegangen, da ich persönlich davon ausgehe, dass die Sinfonie nicht von einem detaillierten Programm getragen ist.
Wenn sie ein solches hätte (immerhin gibt es einschlägige Satzbezeichnungen), möchte ich es eigentlich nicht wissen, denn die Klangsinnlichkeit von Glière`s Musiksprache weckt in mir meine eigenen Fantasiegeschichten.
Die Aufnahme mit Harold Farberman/Royal Philharmonic wirkt zwiespältig: Das Orchester ist fabelhaft, wird aber vom (mir unbekannten) Dirigenten ziemlich gebremst (Seine Exegese dauert 92 Minuten. Zudem ist das Klangbild wummrig und undurchsichtig. (Die Aufnahme ist auch schon fast 30 Jahre alt!)
Kann mir jemand eine bessere Aufnahme empfehlen? Ich freue mich auf Eure Höreindrücke.
Mit allem guten Wünschen für 2008
Walter aus Bern
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