allerseits
Die schönste Weihnachtsmusik? Die meisten werden wohl mit traditionellen Weihnachtsliedern oder Bachs Weihnachtsoratorium aufwarten. Ohne vor allem Bachs großem Werk zu nahe treten zu wollen: für mich ist es Hector Berlioz' "Heilige Trilogie" L'ENFANCE DU CHRIST.
Geboren aus einem Scherz heraus, wurde sie vor 153 Jahren, am 10. Dezember 1854 uraufgeführt und sollte sein größter Erfolg beim Pariser Publikum werden - und bleiben. "Schuld" daran ist ein ungewöhnlicher Reichtum an zarten, poetischen Melodien und eine höchst zurückhaltende, aber ungemein feine, differenzierte Orchestrierung sowie ein zuweilen geradezu archaischer Duktus der Musik, wie sie Berlioz damals (zuweilen sogar heute noch) nur wenige zugetraut hätten. So groß war der Erfolg des Werkes, dass Berlioz nachgerade unwirsch darauf reagierte. In einem Brief an seinen Freund Heinrich Heine, der ihn zuvor als Komponisten monströser Werke kategorisiert hatte und ihn nach diesem Werk dafür um Verzeihung bat, verwies Berlioz zu Recht darauf, dass es einer Beleidigung seiner übrigen Werke gleichkomme, L'ENFANCE DU CHRIST als einen Sonderfall in seinem Schaffen zu betrachten.
Natürlich hatte er Recht damit. Dennoch nimmt das Werk, das, ähnlich wie schon seine Dramatische Sinfonie ROMEO ET JULIETTE, auch als sinfonisch-dramatisches Oratorium bezeichnet werden könnte (s. Hector BERLIOZ: Roméo et Juliette - ein symphonisches Operatorium ) eine hörbare Sonderstellung ein, die allerdings keiner Neuentwicklung Berlioz' geschuldet ist, sondern dem Thema. Berlioz, der seine Bibel nicht weniger gut kannte als seinen Vergil, hatte sich nämlich dafür entschieden, drei in der Bibel kaum detaillierte Episoden um die Flucht nach Ägypten herum zu erzählen: den Traum und wahnsinnigen Befehl des Herodes zum Massenmord an allen Neugeborenen, die Flucht nach Ägypten selbst und die Ankunft im ägyptischen Sais, wo Maria und Joseph, diesmal mit einem Kleinkind, eine Wiederauflage ihrer Suche nach einer Herberge in Betlehem durchmachen müssen, bis sie von einem heidnischen Ismaeliten aufgenommen werden. Dabei sparte er ausgerechnet ein so dankbares Thema wie die drei Weisen aus dem Morgenland aus.
Über all dem liegt - ist der erste Teil um Herodes' Wahnsinn, auf den Berlioz mit Recht besonders stolz war, einmal vorbei - ein friedlicher, beseelter Geist, der bei Berlioz zwar nicht wirklich überraschen sollte - man denke nur an den ausgiebigen Schluss des vierten Aktes der TROJANER -, in dieser Dominanz aber doch verblüfft. Noch verblüffender, in der Tat von ungeheurer Virtuosität, mit der Berlioz eine quasi-filmische Erzählstruktur bereits auf Anhieb beherrscht. Bedenkt man, dass der Film erst ein knappes halbes Jahrhundert später erfunden wurde und noch ein weiteres Vierteljahrhundert brauchte, bis er einen eigenen Erzählstil mehr als nur ahnen ließ, ist das geradezu unglaublich, zumal dieser Erzählstil in episodischen Bildern auch in der zeitgenössischen Literatur kaum ein Pendant findet. Noch heute anspruchsvoll ist die Aufbereitung der Geschichte, in der die Töne die Rolle der Kamera und des Schnitts übernehmen, welche die Protagonisten mit großem Mitgefühl beobachten. Auch dazu später mehr im Detail. Jedenfalls ist es ein ungemein starker Beweis für die Wirkungsmacht von Berlioz' Musik und seinen melodischen Enfällen, wenn das Publikum davon seinerzeit nicht nur überfordert, sondern sogar beheistert war.
Zunächst einmal soll dies erst ein Teaser für einen saisongemäßen Thread und natürlich ein Hinweis für alle sein, die einmal eine andere Weihnachtsmusik hören möchten, ohne in ihren Qualitätsansprüchen nachlassen zu müssen.
Wie inzwischen immer, bevor ich ins Detail gehe, würde mich natürlich auch interessieren, was Ihr schon von dem Werk kennt und habt, und wie Ihr dazu steht.
Wenn jemand zur Vorbereitung der bevorstehenden Lektüre einen Plattentipp haben will, so kann ich der betrüblichen Nachricht, dass es eine meiner beiden Lieblingsaufnahmen, die von Jean Martinon mit Alain Vanzo, Jane Berbie und Roger Soyer m. W. nie auf cd gab, die gute hinzufügen, dass mein anderer Favorit, die vom Klang her noch viel bessere Erato-Aufnahme von John Eliot Gardiner, derzeit gerade besonders preisgünstig zu haben ist:
Fairerweise sollte ich hinzufügen, dass ich weder die neueren Aufnahmen von Norrington und Herreweghe noch eine andere außer meiner Nummer drei, der Aufnahme von Charles Dutoit mit der wieder einmal wundervollen Susan Graham, die es aber auch schon nicht mehr gibt, und den beiden von Colin Davis kenne. Die ältere der beiden verfügt zwar über einen ganz besonderen Erzähler in Peter Pears, teilt aber mit der neueren den Nachteil, dass Davis für meinen Geschmack das Stück zu sehr als großes Oratorium auffasst und seine zarte Instrumentation mit zu großem Orchesterklang und leider kräftiger Unterstützung durch die Aufnahmetechnik mindestens gelegentlich erschlägt. Wer sie aber schon hat, muss keineswegs schleunigst nach einem Ersatz suchen. Das Werk ist so stark, dass es mindestens in allen mir bekannten Einspielungen überzeugt, und nach den Hörproben bei jpc zu schließen, darf man das auch mit zwangsläufigen Abstufungen für alle anderen Aufnahmen gelten lassen.
Nun seid erst einmal Ihr dran. Ich freue mich ganz besonders darauf, diese exquisite Weihnachtsmusik mit Euch zu diskutieren und hoffe sehr, dass ich bzw. wir noch die/den eine/n oder andere/n dazu motivieren können, sich dieses heinreißende Werk noch rechtzeitig für das diesjährige Fest zu besorgen.
Rideamus
PS: ich bitte alle, die auf die Fortsetzung meines Textes zu Chabries L'ETOILE warten, um Verständnis dafür, dass ich den Anforderungen des Kalenders folge und dieses Werk dazwischen schiebe, das Eure Aufmerksamkeit keinesfalls weniger verdient. Rechtzeitig vor Sylvester wird es sicher mit Chabrier weitergehen, denn LE ROI MALGRE LUI ist als das rauschende Fest, das es auch ist, ein nachgerade perfektes Werk für diesen späteren Anlass.