Die Bachkantate (174): BWV90: Es reißet euch ein schrecklich Ende

  • BWV 90: Es reißet euch ein schrecklich Ende
    Kantate zum 25. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 14. November 1723)




    Lesungen:
    Epistel: 1. Thess. 4,13-18 (Von der Auferstehung der Toten und der Wiederkunft Christi)
    Evangelium: Matth. 24,15-28 (Versuchungen am Ende der Welt – die letzte Schreckenszeit)



    Fünf Sätze, Aufführungsdauer: ca. 14 Minuten


    Textdichter: unbekannt
    Choral: Martin Moller (1584)



    Besetzung:
    Soli: Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Trompete, Violino I/II, Viola, Continuo





    1. Aria Tenor, Streicher, Continuo
    Es reißet euch ein schrecklich’ Ende,
    Ihr sündlichen Verächter, hin.
    Der Sünden Maß ist voll gemessen,
    Doch euer ganz verstockter Sinn
    Hat seines Richters ganz vergessen.


    2. Recitativo Alt, Continuo
    Des Höchsten Güte wird von Tag zu Tage neu,
    Der Undank aber sündigt stets auf Gnade.
    O, ein verzweifelt böser Schade,
    So dich in dein Verderben führt.
    Ach! wird dein Herze nicht gerührt?
    Dass Gottes Güte dich
    Zur wahren Buße leitet?
    Sein treues Herze lässet sich
    Zu ungezählter Wohltat schauen:
    Bald lässt er Tempel auferbauen,
    Bald wird die Aue zubereitet,
    Auf die des Wortes Manna fällt,
    So dich erhält.
    Jedoch, o! Bosheit dieses Lebens,
    Die Wohltat ist an dir vergebens.


    3. Aria Bass, Trompete, Streicher, Continuo
    So löschet im Eifer der rächende Richter
    Den Leuchter des Wortes zur Strafe doch aus.
    Ihr müsset, o Sünder, durch euer Verschulden
    Den Greuel an heiliger Stätte erdulden,
    Ihr machet aus Tempeln ein mörderisch’ Haus.


    4. Recitativo Tenor, Continuo
    Doch Gottes Auge sieht auf uns als Auserwählte:
    Und wenn kein Mensch der Feinde Menge zählte,
    So schützt uns doch der Held in Israel,
    Es hemmt sein Arm der Feinde Lauf
    Und hilft uns auf;
    Des Wortes Kraft wird in Gefahr
    Um so viel mehr erkannt und offenbar.


    5. Choral SATB, Trompete, Streicher, Continuo
    Leit’ uns mit deiner rechten Hand
    Und segne unser’ Stadt und Land;
    Gib uns allzeit dein heil’ges Wort,
    Behüt’ für’s Teufels List und Mord;
    Verleih’ ein sel’ges Stündelein,
    Auf dass wir ewig bei dir sein!






    Das Ende des Kirchenjahres variiert je nachdem, zu welchem Termin im Frühling der Ostersonntag liegt. 40 Tage nach Ostersonntag ist Christi Himmelfahrt, 50 Tage nach Ostern Pfingsten. Der Sonntag danach ist Trinitatis und ab da werden die folgenden Sonntage bis zum Ende des Kirchenjahres einfach durchgezählt. Am 1. Advent beginnt dann das neue Kirchenjahr.


    In diesem Jahr 2007 endet nun das Kirchenjahr mit dem 25. Sonntag nach Trinitatis. Der letzte Sonntag im Kirchenjahr wird auch Totensonntag oder Ewigkeitssonntag genannt.


    Die maximale Anzahl von Sonntagen nach Trinitatis beträgt 27 – Bach hat für sämtliche dieser Sonntage mindestens eine Kantate komponiert. 27 Sonntage nach Trinitatis sind sehr selten – es gibt sie nur dann, wenn Ostersonntag auf einen Termin vor dem 27. März fällt. Früher als auf den 22. März kann der Ostersonntag nicht fallen, da er immer nach Frühlingsanfang (21. März) liegen muss.


    Im kommenden Jahr ( also 2008 ) ist dies der Fall – so dass hier dann die Gelegenheit besteht, sich wirklich alle „Nach-Trinitatis-Kantaten“ von Bach an den hierfür vorgesehenen Sonntag anzuhören (dafür fallen jedoch direkt zu Jahresbeginn einige „Sonntage nach Epiphanias“ weg – alles auf einmal kann man eben nicht haben ;) ).


    Das Evangelium für den 25. Sonntag nach Trinitatis handelt (passend zum nahenden Ende des Kirchenjahres und überhaupt zum dunklen November) von düsteren Prophezeiungen über das Ende der Welt, das Jüngste Gericht und die Wiederkunft Christi.
    Es gehört traditionell zum Ende des Kirchenjahres, über die Endlichkeit allen Lebens, die bereits Verstorbenen und die Ewigkeit/ das Jüngste Gericht nachzudenken (man denke nur an die Namen der ganzen ziemlich deprimierend wirkenden Sonn- und Feiertage, die der November auch heute noch so mit sich bringt!) – diese durchaus von düsteren Ahnungen und Zweifeln durchzogene Zeit wird dann umso wirkungsvoller von der sich unmittelbar anschließenden Adventszeit abgelöst, wo die Ankunft des Heilands als das Hoffnung und Frieden bringende „Licht der Welt“ freudig erwartet und vorbereitet wird. :angel:


    Bach hat die hier besprochene Kantate (der düsteren Thematik entsprechend) überwiegend in Moll-Tonarten (d- und g-moll) gehalten.
    Die Kantate wird nicht wie meist üblich von einem Chorsatz, sondern von einer Tenor-Arie eingeleitet, die einen sehr bewegten und dramatischen Charakter an den Tag legt. Bach illustriert das im Text erwähnte „schrecklich’ Ende“, das die „sündlichen Verächter“ hinreißt sehr bildhaft mit markanten Streicherfiguren, die diese Zerrissenheit eindrücklich wiedergeben.


    Der Solo-Alt muss sich in dieser Kantate lediglich mit dem kurzen Rezitativ Nr. 2 begnügen.


    In der Arie Nr. 3 kann Bach dann wieder einmal der von ihm offenbar so gern mit dem Solo-Bass kombinierten Trompete frönen: Die Arie ist ein ausgesprochen virtuoses Stück für den Trompeter, der mehrfach zwischen fanfarenartigen Motiven und schnellen Läufen hin- und herwechseln muss. Die Arie fungiert quasi als eine Art „Ruf zum Weltgericht“ – in ihrem Text wird entsprechend von der anstehenden Bestrafung der Sünder gesprochen.


    Die „dramaturgische Wende“ dieser Kantate erfolgt im – allerdings recht kurzen - Rezitativ Nr. 5, wo auf die geschilderten Taten des „rächenden Richters“ für die „Auserwählten“ nun so etwas wie Zuversicht auf den Schutz des „Helds in Israel“ verkündet wird.


    Wie schon in der Kantate BWV 60, die Bach eine Woche zuvor komponiert hatte, hält er auch diesmal wieder für seine Zuhörer eine äußerst kühne (und für die Barockzeit eher untypische) „harmonische Überraschung“ im Schlusschoral bereit (offenbar war Bach zu der Zeit in einer experimentierfreudigen Stimmung, was den Choralsatz anbetraf):
    Auch heute noch horcht man unwillkürlich auf, weil die sehr auffällige harmonische Wendung an der Stelle beim Wort „Stündelein“ einen stutzen lässt – man fragt sich unwillkürlich, ob der Chor (der leider außer diesem kurzen Choral keinen weiteren Einsatz innerhalb der Kantate bekommt) sich da nicht „versungen“ hat. Um wieviel stärker muss diese Stelle zur damaligen Zeit gewirkt haben? Bach setzt damit quasi seinen eigenen kommentierenden Akzent in dieser Choralstrophe! Der Choral beginnt in d-moll und endet in hoffnungsvollem D-Dur – an der Stelle, wo das „sel’ge Stündelein“ erwähnt wird, erreicht Bach jedoch Des-Dur! Da soll noch einer sagen, Barockmusik wäre in puncto Harmonie „altbacken“... :]


    Die hier besprochene Kantate ist zwar als Partiturautograph erhalten, darin fehlen jedoch sämtliche Angaben zur Orchesterbesetzung. So ist es durchaus möglich, dass statt der Trompete in der Arie Nr. 3 auch ein Horn zum Einsatz kommen könnte, wie Alfred Dürr feststellt. Ich halte das allerdings für eher unwahrscheinlich – angesichts der Tatsache, dass Bach bevorzugt den Solo-Bass mit einer Trompete koppelt und die Thematik der Arie („Der Ruf zum Jüngsten Gericht“) einen Trompeteneinsatz ebenfalls als naheliegend erscheinen lässt.
    Aus der Partitur geht ebenfalls nicht hervor, ob die Sätze mit Streicherbegleitung nicht auch noch durch ein Oboenpaar zu ergänzen wären (die Oboen würden dann parallel mit den beiden Violinstimmen geführt) – eine bei Bach ja häufig anzutreffende „Orchester-Standardbesetzung“.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)