BWV 52: Falsche Welt, dir trau ich nicht
Kantate zum 23. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 24. November 1726)
Lesungen:
Epistel: Phil. 3,17-21 (Wir haben schon jetzt Bürgerrecht im Himmel bei Gott)
Evangelium: Matth. 22,15-22 (Fangfrage der Pharisäer an Jesus: Ist es recht, dass man dem Kaiser Steuern zahle?)
Sechs Sätze, Aufführungsdauer: ca. 18 Minuten
Textdichter: unbekannt
Choral: Adam Reusner (1533)
Besetzung:
Solo: Sopran; Coro: SATB; Oboe I-III, Fagott, Horn I + II, Violino I/II, Viola, Continuo
1. Sinfonia (F-Dur) Oboe I-III, Fagott, Horn I + II, Streicher, Continuo
2. Recitativo Sopran, Continuo
Falsche Welt, dir trau’ ich nicht!
Hier muss ich unter Skorpionen
Und unter falschen Schlangen wohnen.
Dein Angesicht,
Das noch so freundlich ist,
Sinnt auf ein heimliches Verderben:
Wenn Joab küsst,
So muss ein frommer Abner sterben.
Die Redlichkeit ist aus der Welt verbannt,
Die Falschheit hat sie fortgetrieben,
Nun ist die Heuchelei
An ihrer Stelle blieben.
Der beste Freund ist ungetreu,
O jämmerlicher Stand!
3. Aria Sopran, Violino I/II, Continuo
Immerhin, immerhin,
Wenn ich gleich verstoßen bin!
Ist die falsche Welt mein Feind,
O so bleibt doch Gott mein Freund,
Der es redlich mit mir meint.
4. Recitativo Sopran, Continuo
Gott ist getreu!
Er wird, er kann mich nicht verlassen;
Will mich die Welt und ihre Raserei
In ihre Schlingen fassen,
So steht mir seine Hülfe bei.
Gott ist getreu!
Auf seine Freundschaft will ich bauen
Und meine Seele, Geist und Sinn
Und alles, was ich bin,
Ihm anvertrauen.
Gott ist getreu!
5. Aria Sopran, Oboe I-III, Continuo
Ich halt’ es mit dem lieben Gott,
Die Welt mag nur alleine bleiben.
Gott mit mir, und ich mit Gott,
Also kann ich selber Spott
Mit den falschen Zungen treiben.
6. Choral SATB, Oboe I-III, Fagott, Horn I + II, Streicher, Continuo
In dich hab’ ich gehoffet, Herr,
Hilf, dass ich nicht zuschanden werd’,
Noch ewiglich zu Spotte!
Das bitt’ ich dich,
Erhalte mich
In deiner Treu’, Herr Gotte!
Eine Woche, nachdem Bach mit der Kantate für Solo-Tenor BWV 55 seine Leipziger Zuhörer erfreut hatte, wartete er bereits mit einer weiteren Solo-Kantate auf – diesmal für den Sopran.
Es fällt auf, dass Bach im Herbst des Jahres 1726 seinen kompositorischen Schwerpunkt für einige Zeit ganz offensichtlich auf Kantaten für Solostimmen verlagert hatte – in diesem Zeitraum entstanden unter anderem die berühmte “Kreuzstab-Kantate“ BWV 56 für Bass, die Altkantate BWV 169 oder auch die Dialogkantate BWV 49, lediglich für Sopran- und Bass-Stimme.
Lässt man die Kantate BWV 49 außen vor, fällt ein weiteres verbindendes Merkmal dieser Solo-Kantaten auf: Der Chor ist jeweils nur im kurzen Schlusschoral beteiligt, was schon überrascht – waren die Thomaner im Herbst 1726 nur eingeschränkt musizierfähig? Vielleicht eine Grippe- oder Erkältungswelle, die unter den Schülern grassierte, so dass keine anspruchsvollen und aufwendigen Eingangschöre einstudiert werden konnten?
Oder hatte Bach absichtlich – quasi als Abwechslung vom seit mehreren Jahren üblichen „Kantatenschema“ – mehrfach den Schwerpunkt bei seinen neu komponierten Kantaten auf einzelne Solostimmen gelegt? Vielleicht hatte er zu der Zeit besonders begabte Solisten in den Reihen seiner jungen Sänger, die er gleichermaßen fördern und fordern wollte? Alles interessante Theorien – leider weiß man wohl nichts Genaues über die damaligen Umstände, sehr schade!
Des Weiteren enthält auch diese Kantate als einleitenden Satz eine instrumentale Sinfonia, so wie es bei zahlreichen weiteren Kantaten Bachs aus diesem Zeitraum der Fall ist. Neben seiner Vorliebe für (größtenteils) solistisch bestrittene Kantaten wandte Bach sich damals offenbar auch wieder verstärkt der Instrumentalmusik zu und baute ältere eigene Konzertsätze (aus seiner Köthener Zeit) verstärkt in seine sonntäglichen Kantaten ein.
In der hier besprochenen Kantate handelt es sich um ein recht prominentes Beispiel – die Sinfonia ist der erste Satz des Brandenburgischen Konzerts Nr. 1 in F-Dur BWV 1046 a von 1718. Der BWV-Nummernzusatz „a“ signalisiert hierbei, dass es sich bei der in dieser Kantate verwandten Version um eine Frühfassung des erwähnten Konzerts handelt, da der erst später hinzugefügte Part für die Violino piccolo hier (noch) fehlt. Der Satz basiert auf den Partien der drei Oboen, zwei Hörner und des Fagotts, die dem Streichensemble und dem Basso continuo gegenüber treten.
Wie schon in der zwei Jahre zuvor entstandenen Kantate BWV 139 legt der Textdichter den Schwerpunkt nicht auf die bekannte Sentenz “So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ aus dem heutigen Sonntagsevangelium, sondern wiederum auf die Hinterlist und Heimtücke der Pharisäer, die Jesus mit der Frage nach dem „Zinsgroschen“ für den Kaiser eine Falle stellen wollen. Aus dieser Episode entsteht in dieser Kantate die allgemeine Botschaft von der Boshaftigkeit und Falschheit der Welt und die verbleibende Zufluchtsmöglichkeit der frommen Seele bei Gott.
Mit einem dramatischen Aufschrei beginnt denn auch das Rezitativ Nr. 2: ”Falsche Welt, dir trau’ ich nicht!“
Waren es in der Kantate BWV 139 noch Wölfe, mit denen die heimtückischen Feinde verglichen wurden, so müssen diesmal Skorpione und Schlangen dafür herhalten... :]
Die erwähnten Figuren Joab und Abner stammen aus dem Alten Testament (Beginn des 2. Buch Samuel) und spielen bei den Ereignissen, die zur Krönung Davids zum König über ganz Israel führten, eine Rolle – wie bei allen Machtkämpfen geht es auch in dieser Episode um die erwähnte Hinterlist und Heuchelei.
Die beiden Rezitativ-Arien-Paare dieser Kantate werden – wie schon erwähnt – von einem kurzen Schlusschoral gefolgt, in der der Chor seinen einzigen (und recht kurzen) Einsatz in dieser Kantate hat. Da Bach auch mehrere Solokantaten komponiert hat, in denen selbst dieser Schlusschoral fehlt, also gar kein Chor zur Besetzung gehört, muss man sich schon fragen, ob er einen bewussten Unterschied zu diesen tatsächlichen Solokantaten setzen wollte, indem er diesen Schlusschor quasi als abschließende gemeinschaftliche Bekräftigung der gläubigen Gemeinde verstanden wissen wollte?
Die für diese Kantate ausgewählte Choralstrophe eignet sich vom inhaltlichen Zusammenhang her - bezogen auf das in den vorherigen Sätzen Gesagte - sehr gut als ein solches Schlussfazit.
Auch die zwei Hörner und drei Oboen, die in der einleitenden Sinfonia aufgespielt hatten, werden von Bach in diesen Schlusschoral einbezogen. Die drei Oboen hat Bach zuvor in der Arie Nr. 5 ein weiteres Mal eingesetzt – interessanterweise jedoch stets gleichzeitig in gebündelter Form und nicht mit jeweils eigenen, von einander unabhängigen Stimmen, was sicher auch reizvoll gewesen wäre.