Was gewinnen Gedichte durch ihre Vertonung

  • Zitat

    Original von musicophil
    Du bist also, mit mir, die Meinung zugetan, daß Schubert von den Gedichten mehr machte, als da eigentlich inne war? Ich will nicht behaupten, daß sie schlecht sind, aber ziemlich "billig". Zu sentimental. Es gab ja aber auch den jungen Werther...


    Lieber Paul


    Ich versuche die Frage allgemeiner und unabhängig von der "Winterreise" allein zu beantworten, diese allerdings dabei nicht zu vergessen.


    Gedichte werden in der Regel geschrieben, ohne dass die Absicht besteht, sie zu vertonen. Das gilt für Goethes "Ganymed" wie für Wilhelm Müllers Gedichte wie für Heines "Ihr Bild". Einige Gedichte scheinen sich vor allem für Vertonungen anzubieten, etwa wenn sie im Titel schon die Bezeichnung "Lied" führen.


    Gedichte haben eine Vielzahl von sprachlichen und rhythmischen Strukturen. Viele davon werden durch das Sprechen sinnlich erfahrbar. Andere sind durch das Lesen erkennbar. Werden sie in eine Melodie gefasst und gesungen, gehen sie z.T. verloren. Deshalb hat Goethe das anspruchslose Strophenlied dem durchkomponierten Lied, Zelter also Schubert vorgezogen, wo eine anspruchslose Begleitung zu einer ansprechenden Melodie möglichst wenig von dem sprachlichen Kunstwerk verstellt.


    Je anspruchsvoller die Komposition (das betrifft Stimme wie Begleitung) wird, umso weniger kommen die sprachlichen Strukturen der Dichtung zur Geltung - es sei denn, der Komponist betont sie, lässt sie mit musikalischen Strukturen korrespondieren oder findet andere Wege, sie zur Geltung zu bringen.


    Deshalb scheinen zunächst einmal "anspruchslosere" Gedichte, die dann vielfach von dem Komponisten gedeutet werden können, einer Liedkomposition näher zu liegen - wie eben die einfach gestrickten, wenn auch nicht anspruchslosen Gedichte von Wilhelm Müller, dem wir die beiden bedeutenden Liedzyklen Schuberts verdanken. Nicht, dass Schubert den Gedichten etwas hinzufügt, was nicht in ihnen zu finden wäre, sie lassen sich durch ihre klare Form gut liedhaft umsetzen, ihr Gefühlgehalt lässt sich musikalisch widerspiegeln.


    Zitat

    Ich glaube sogar, daß das bei vielen Lieder den Fall ist. Und daß man das vergleichen kann mit schlechten Libretti, die durch die Musik (und gute Sänger) noch zu etwas gedeihen.


    Wenn man allerdings die Lieder sich ansieht, die im Bereich des Kunstliedes in der Rezeption die größte Rolle spielen, so sind es weniger die anspruchslosen, von den Ronsard-Vertonungen, über die ich in einem anderen Zusammenhang berichtete zu den wunderbaren Vertonungen von Rimbauds "Illuminations" durch Britten und Henze sind es gerade die komplexen Gedichte, die zu großen Liedkompositionen beflügeln. In der Moderne ist die bewusste Wahl von großer Lyrik eher im Verhältnis häufiger geworden als weniger häufig.


    Zitat

    Andererseits "steuert" der Komponist manchmal auch: er ändert gelegentlich was. Als Beispiel gebe ich hier "das Veilchen" von Mozart, wo er die Zeile "Das arme Veilchen! Es war ein herzigs Veilchen". hinzufügte (sie wird übrigens manchmal weggelassen, habe ich verstanden).


    Auch bei Schubert (u.a. die Reihenfolge der Lieder im Zyklus "Winterreise") gibt es Änderungen an dem Text im Gegensatz zum gedruckten Text.


    Zitat

    Jetzt also die Frage: was soll in Zweifelsfälle ausschlaggebend für die Interpretation sein? Die Worte des Dichters oder die Musik des Komponisten?.


    Die Frage kann man auf jeden Fall eindeutig beantworten: die Musik des Komponisten, wie sie die Worte des Dichters interpretiert.


    Liebe Grüße Peter

  • Hm, wenn ich den Titel lese: Was gewinnen Gedichte durch ihre Vertonungen fallen mir als erstes lauter ketzerische Fragen ein: Gewinnen Gedichte denn wirklich durch eine Vertonung? Verlieren sie nicht vielmehr auch etwas? Nämlich ihre Eigenständigkeit und damit in gewisser Weise auch ihren Eigenwert? Wird ein Gedicht nicht zum bloßen Material degradiert, ein Füllstoff zur Erzeugung von singbaren Tönen?


    Ein Zwischenruf von Carola

  • Liebe Carola,
    da muß ich Dir aber wirklich zustimmen. Wie der Peter schon schrieb,
    hat das Gedicht eigene Gesetze. Durch die Vertonung entsteht ein
    ganz neues Kunstwerk. Soviel ich weiß, mochte Goethe die
    Vertonungen seiner Gedichte durch Schubert nicht. Er zog Zelter
    vor, der die Gedichte meist durch einfache Strophenlieder in Musik
    setzte. Das Goethe Zelter Schubert vorzug, wird im oft als unmusi=
    kalität angekreidet, völlig zu Unrecht, wie ich meine. Durch die
    Zelter-Vertonungen behielten seine Gedichte viel von ihrer eigenen
    Metrik.Allerdings sind die Goethe-Lieder in der Vertonung
    durch Schubert weitaus wertvoller. Das heißt für mich, der Sänger
    sollte bei seiner Interpretation in erster Linie der Musik folgen.


    :hello:Herbert.

    Tutto nel mondo è burla.

  • Zitat

    Original von Carola
    Hm, wenn ich den Titel lese: Was gewinnen Gedichte durch ihre Vertonungen fallen mir als erstes lauter ketzerische Fragen ein: Gewinnen Gedichte denn wirklich durch eine Vertonung? Verlieren sie nicht vielmehr auch etwas? Nämlich ihre Eigenständigkeit und damit in gewisser Weise auch ihren Eigenwert? Wird ein Gedicht nicht zum bloßen Material degradiert, ein Füllstoff zur Erzeugung von singbaren Tönen?


    Liebe Carola,


    weil ich mir die gleichen Fragen stellte, habe ich den Titel gewählt. Gewinnt ein Wilhelm Müller und verliert ein Goethe?


    Liebe Grüße Peter

  • Müller gewinnt ganz sicher.
    Ich denke, man muß hier unterscheiden zwischen der Qualität eines Gedichtes schlechthin und seinen spezifischen Qualitäten, die es für eine Vertonung geeignet machen oder eine erhebliche Steigerung der Wirkung in vertonter Form ermöglichen. Müllers Gedichte wären unvertont sicher nichts Aufsehenerregendes (sie wären meiner unmaßgeblichen Ansicht nach aber auch nicht direkt schlecht).
    Sie haben aber offenbar Qualitäten, die der Vertonung als Liederzyklus entgegenkommen, z.B. die in beiden Zyklen durchgehaltene Natursymbolik, in der Müllerin hauptsächlich der Bach, in der Winterreise verschiedene Aspekte der winterlichen Natur usw.


    Oder selbst Schiller: "Nänie" ist bei allem Respekt für elegische Distichen doch etwas steif (Die spöttischen Distichen Schillers und Goethes kommen sehr viel besser: Was sie gestern gelernt, wollen sie heute schon lehren./Ach, was haben die Herrn doch für ein kurzes Gedärm! :D u.ä.)
    Dass Brahms es überhaupt geschafft hat, hier einen melodischen Fluß hinzukriegen, der nicht eintönig klappert, ist schon keine schlechte Leistung (allerdings gehört das schöne Werk ja auch nicht gerade zu seinen beliebtesten Werken).


    Verlieren Goethe oder Eichendorff?


    Was genau hieße hier "verlieren"? Wohl dass das Gedicht irgendwie von der Musik "erschlagen" wird, oder schlechter zur Geltung kommt, als wie wenn es ohne Musik vorgetragen würde. Ich muß zunächst einräumen, dass ich nur sehr selten Gedichte vorgetragen höre. Ich rezipiere also Gedichte häufig überhaupt nur in ihrer vertonten Form (stilles Lesen unterdrückt ja etliche relevante Aspekte eines Gedichts). Mag sein, dass man hier Großartiges leisten kann. Aber ich fürchte, meine Toleranz, was emotionalen Ausdruck (oder z.B. die Emulation der verschiedenen Personen im Erlkönig) betrifft, wäre beim Vortrag eines Rezitators schnell erschöpft. (Ich habe mal "Die Bürgschaft" mit Oscar Werner im Radio gehört, gibt es wohl leider nicht auf CD, das war großartig, aber schon grenzwertig, was den Ausdruck betrifft)
    In der gesungenen Fassung bin ich dagegen bereit, die Intensivierung durch die Musik zu akzeptieren. U.a. daher glaube ich, dass eine gelungene Vertonung das Gedicht nicht verlieren läßt. Es wird nicht zum bloßen Material degradiert, denn es ist ja kein beliebiges Material und als solches ein wichtiger Beitrag zum Ganzen. Aus dieser Intensivierung oder Steigerung könnte man jetzt schließen, dass unvertonte Gedicht wäre noch "unvollständig", das ginge aber wohl zu weit.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Lieber Johannes,


    ich kann mich Dir in dieser Hinsicht nur anschließen - allerdings würde ich für meine persönliche Rezeption andere Umschreibungen wählen.


    Ein wunderbar ins Bild eines filzpantoffelbewehrten, seiden beschlafrockten, getäfelte Raucherzimmer beduftenden Bürgertums passendes Lied wie Schuberts "Der Winterabend" wäre mir als Dichtung - Karl Gottfried von Leitner (1800-1890) möge mir verzeihen - herzlich schnuppe, wenn mir die ausgedrückte Stimmung auch gar nicht so fremd ist, die von mir abgesetzten letzten sentimentalischen Zeilen mal ausgenommen:


    "Es ist so still, so heimlich um mich.
    Die Sonn ist unten, der Tag entwich.
    Wie schnell nun heran der Abend graut.
    Mir ist es recht, sonst ist mir's zu laut.
    Jetzt aber ist's ruhig, es hämmert ein Schmied,
    Kein Klempner, das Volk verlief, und ist müd.
    Und selbst, daß nicht rassle der Wagen Lauf,
    Zog Decken der Schnee durch die Gassen auf.
    Wie tut mir so wohl der selige Frieden!
    Da sitz ich im Dunkel, ganz abgeschieden.
    So ganz für mich. Nur der Mondeschein
    Kommt leise zu mir ins Gemach herein.
    Er kennt mich schon und läßt mich schweigen.
    Nimmt nur seine Arbeit, die Spindel, das Gold,
    Und spinnet stille, webt, und lächelt hold,
    Und hängt dann sein schimmerndes Schleiertuch
    Ringsum an Gerät und Wänden aus.
    Ist gar ein stiller, ein lieber Besuch,
    Macht mir gar keine Unruh im Haus.
    Will er bleiben, so hat er Ort,
    Freut's ihn nimmer, so geht er fort.
    Ich sitze dann stumm in Fenster gern,
    Und schaue hinauf in Gewölk und Stern.


    Denke zurück, ach weit, gar weit,
    In eine schöne, verschwundne Zeit.
    Denk an sie, an das Glück der Minne,
    Seufze still und sinne, und sinne."


    Hier würde ich auch gar nicht sagen, dass die Musik intensitätssteigernd wirkt, sie bricht für mich nur eine Rezeptionsbarriere, denn das Gedicht als solches kommt einfach nicht über meine Empathieschwelle. Schuberts Musik trägt es jedoch hinüber, und siehe da, das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Ganz besonders wenn ich, von Margaret Prices wie ein Rubens'sches Inkarnat in allen Fleischtönen schimmerndem Sopran umfangen über nassgeregnetes Laub im Schein der Straßenlaternen durch den abendlich regnerischen Münchner Westpark jogge...


    Das ganze geht natürlich auch mit eher heiteren Stimmungen, wie zum Beispiel der von Schubert so meisterhaft vertonten Kunsthedonistischen Internationale, dem "Lied im Grünen" von Schubert, wo Bildungsbürger ins Grüne eilt, wo er "gern schon als Knabe gewesen" ist, "gelernt und geschrieben, gelesen" hat und zwar "erst Horaz und Plato, dann Wieland und Kant" und "glühenden Herzens sich selig genannt" hat: im Grünen.


    Das Gedicht ist eher lächerlich, aber von der Musik aus der peinlichen Erdenschwere des Sprachlichen gehoben kann das Bild seine Flügel spreiten und der Kunsthedonist mit seligem Lächeln durch den Regen rennen.


    Anders geht es mir mit Gedichten, bei denen schon der Text als solcher meine Empathieschwelle überschreitet: da stört mich dann die Musik, weil sie mir das Gedicht verzerrt.


    Was - selbstredend - mehr eine Sache der Beschränktheit des Rezipienten als eine Frage der künstlerischen Qualitäten ist.


    :hello:
    Flo

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Hab hier schon viel Herumreiten auf Müllers Gedichten lesen müssen, daher mal kurz meine Meinung: ich finde die Gedichte super, mal kein Überdruss an Symbolik und Metaphorik, der die eigentliche Aussage in den Hintergrund rückt.


    Zudem denke ich, dass Text allein durch gute Vertonung fast immer gewinnt... das Lied oder die Oper ist praktisch die Vereinigung aller Künste (wie Wagner es schon sah), wobei alle Mittel gebraucht werden, um den Adressaten zu erreichen. Der Schreiber eines Gedichtes bzw. Theaterstückes verzichtet dabei auf eine Komponente (die Musik) und verringert somit auch seine Ausdruckspalette.

    "Das Große an der Musik von Richard Strauss ist, daß sie ein Argument darstellt und untermauert, das über alle Dogmen der Kunst - alle Fragen von Stil und Geschmack und Idiom -, über alle nichtigen, unfruchtbaren Voreingenommenheiten des Chronisten hinausgeht.Sie bietet uns das Beispiel eines Menschen, der seine eigene Zeit bereichert, indem er keiner angehört." - Glenn Gould

  • Zitat

    Original von Barockbassflo


    Hier würde ich auch gar nicht sagen, dass die Musik intensitätssteigernd wirkt, sie bricht für mich nur eine Rezeptionsbarriere, denn das Gedicht als solches kommt einfach nicht über meine Empathieschwelle. Schuberts Musik trägt es jedoch hinüber, und siehe da, das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.


    Das ist wohl völlig unbestritten (jedenfalls von mir). Diese Kategorie, bei der gilt, dass man das Gedicht ohne Vertonung überhaupt nicht wahrnähme, hatte ich nicht explizit erwähnt, aber dazu gehört gewiß einiges: Der Hirt auf dem Felsen, Helmina v. Chezy :rolleyes: "Wenn meine Grillen schwirren.." (Lappe), selbst die Scott-Übertragungen u.v.a.


    Was ich dagegen versuche zu verstehen, ist, inwiefern ein schon gutes Gedicht in irgendeiner Weise durch die Vertonung gesteigert werden kann oder eben nicht. Oder wie eine schlichtere Vertonung a la Reichardt oder Zelter angemessener sein könnte, warum eigentlich *überhaupt* vertonen, wenn die Musik nicht auf dem Niveau des Gedichts ist?


    Zitat


    Ganz besonders wenn ich, von Margaret Prices wie ein Rubens'sches Inkarnat in allen fleischtönen schimmerndem Sopran umfangen über nassgeregnetes Laub im Schein der Straßenlaternen durch den abendlich regnerischen Münchner Westpark jogge...


    We are not joggers!


    (Achtung, Flash und ziemlich langsam, leider bin ich selbst vom Tempo auch noch ein Jogger... Aber nicht von der Einstellung! :D)


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Salut,


    ein Gedicht ist gedichtet, ein Lied ist eine Vertonung eines Gedichts. Warum also die Selbständigkeit der Einzelteile in Frage stellen? Gedichte sind nicht zwingend zum Vertonen gedichtet worden, sondern zum Lesen oder Vortragen. In den meisten Fällen waren die Komponisten - z. B. Schubert - von einem Text dermaßen fasziniert, daß sie ihn in Musik umsetzen mußten. Daraus entsteht dann ein ganz neues Kunstwerk, daß zwar etwas mehr als Nichts mit dem Gedicht zu tun hat, aber eigentlich nicht mit dem originären Gedicht unmittelbar in Verbinfung gebracht werden kann und sollte. Schließlich ist die Vertonung durch den Komponisten bereits eine Interpretation desselben, die an uns weitergegeben wird.


    Haben denn alle Komponisten in unseren Augen/Ohren "richtig" interpretiert?


    Man kann hier also weder von einem Gewinn noch von einem Verlust sprechen, da es sich um völlig selbständige Dinge handelt. Natürlich gäbe es das Lied ohne das Gedicht nicht - andersherum aber durchaus.


    Ein ganz anderer Aspekt ist, dass Texte durch die Musik m. E. in der breiten Öffentlichkeit bekannter werden, als sie es ohne die Musik würden; beispielsweise Schillers "Ode an die Freude". Ich glaube nicht, dass diese heute so bekannt wäre, hätte Beethoven nicht seine Noten dazugesetzt. Ganz ebenso natürlich fast alle von Schubert vertonten Texte mit wenigen Ausnahmen wie z.B. Erlkönig und andere Balladen.


    Bei einer Oper - um auf Rappy Aussage zurückzukommen - werden zwar alle Künste mehr oder weniger vereint. Die einzige Kunst aber, die hier kaum selbständig ist, ist die Musik - denn die kann in diesem speziellen Falle ohne den Text nicht leben. Anders ist dies bei den Texten selbst [so blöde sie vielleicht manchmal auch sind - die Texte des Ohnsorgtheaters sind auch nicht unbedingt besser] oder bei den Bühnenbildern und Kostümen. Diese Dinge leben in unseren Gedanken durchaus auch ohne die Musik bzw. können sie eine Aussage ohne das Zutun der Musik treffen. Im speziellen Fall der Oper wäre noch zu berücksichtigen, daß hier die Texte zur Vertonung gedacht sind und deeswegen nicht unbedingt so klug sind wie reine Gedichte oder Balladen.


    Somit ist die Musik letztenendes verzichtbar, sowie Bühnenbild[er] und Kostüm[e] ja auch, wie heutige Inszenierungen zu beweisen versuchen [manchmal gelingt es]. Was bleibt ist das Wort. Schließlich kommunizieren wir ausschließlich damit im normalen Leben, nicht etwa durch wortlose Musik, gelegentlich durch Fotos [aber hier ist eine Aussage sehr oft ohne erläuternde Worte nicht erkennbar].


    Viele Grüße
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Zitat

    Original von rappy
    Hab hier schon viel Herumreiten auf Müllers Gedichten lesen müssen, daher mal kurz meine Meinung: ich finde die Gedichte super, mal kein Überdruss an Symbolik und Metaphorik, der die eigentliche Aussage in den Hintergrund rückt.


    Hier reitet keiner auf Müllers Gedichten herum, ich gebe Dir sogar insoweit Recht, dass sie eher unterschätzt sind. Aber niemand nähme sie noch zur Kenntnis, wenn sie nicht von Schubert vertont worden wären, bei seinen Zeitgenossen war Müller nicht wegen seiner Schönen Müllerin bekannt (die von Goethes vier Romanzen von der Müllerin abhängig sind), sondern für seine "Lieder der Griechen", die ihm den Namen "Griechen-Müller" eintrugen und viele Nachahmer bescherten. Wie gesagt, ohne Schubert ein Fall für die Literaturgeschichte.


    Für eine Vertonung, da stimme ich Dir wieder zu, sind die Gedichte ideal. Sie bringen eine große Sangbarkeit mit, die Rahmenhandlung, die sie verbindet, lässt auch jedes Einzelgedicht vom Zyklus profitieren, sie sind kontrastreich, haben sinnfällige Bilder, die sich gut in Musik umsetzen lassen.


    Zitat

    Zudem denke ich, dass Text allein durch gute Vertonung fast immer gewinnt...


    ... und zwar eine zeitgemäße Interpretation. Wenn wir einmal Goethes "Ganymed" nehmen, so sehe ich gleichermaßen Gewinn und Verlust bei der Vertonung. Der "Ganymed" ist ein Gedicht, das auch ohne die Vertonungen (bei denen ich übrigens die von Wolf für bedeutender halte) seine Kraft bis heute behalten hat.


    Zitat

    Der Schreiber eines Gedichtes bzw. Theaterstückes verzichtet dabei auf eine Komponente (die Musik) und verringert somit auch seine Ausdruckspalette.


    Das ist auf jeden Fall mE falsch. Ich wüsste nicht, dass mir bei Goethes "Ganymed" irgend etwas an einer Ausdruckspalette fehlte - wie eben der Woyzeck von Büchner weit größere Ausdrucksmöglichkeiten enthält, wenn man ihn im Lichte der Rezeption sieht, als die (immerhin kongeniale) Interpretation Bergs.


    Liebe Grüße Peter

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  • Hm, eigentlich glaube ich, daß diese Frage keine richtige Antwort wird finden können – schlicht weil die Frage falsch ist. »Gedichte« gewinnen nichts durch ihre Vertonung – und sie verlieren genauso wenig. Ich denke, daß Ulli eigentlich die Sache messerscharf getroffen hat: Die Vertonung eines Gedichts ist nicht länger das Gedicht, sondern eine Interpretation, eine Lesart als »neues Kunstwerk« – ein Kunstwerk, das sich vollständig von der Vorlage emanzipiert hat und unabhängig ihr bestehen muß.


    Die gelungene Vertonung eines schwachen Textes, macht den Text als »literarischen Text« nicht besser – aber es kann ihn als tauglichen Liedtext adeln. Die Texte von H. Müller werden durch Schuberts Vertonungen ja nicht als »Gedichte« besser. Schubert hat gute (oder von mir aus auch herausragende) Lieder komponiert, nicht Gedichte durch seine Musik »verbessert«.


    Andersherum macht eine schlechte Vertonung ein gelungenes oder gutes Gedicht nicht schlechter – das Ergebnis einer mißlungenen Vertonung ist ein schlechtes (Kunst-)Lied, aber kein schwaches Gedicht.


    Ein Liedtext muß - glaube ich zumindest - gar nicht losgelöst von der Musik als Gedicht funktionieren können und ein Gedicht muß nicht vertonbar sein. Andersherum glaube ich kaum, daß ein wirklich gutes Gedicht (was ist das und wer entscheidet, was ein solches ist? Georges »Der Dichter in den Zeiten der Wirren«? Goethes »Auf dem See«? Klingers »Schwertlied«? Hofmannswaldaus »An Melinden«?, Klings »Geschrebertes Idyll«?), durch eine Vertonung überhaupt »als Gedicht« gewinnen könnte, denn es ist dann ja konkret im vertonten Fall gar kein Gedicht mehr, sondern ein Liedtext :wacky: ... Außer wenn man der Meinung ist, daß Wortkunst immer defizitär sei, solange sie sich nicht die Musik als Vehikel zu Nutze macht - was naklar genauso ein Unfug ist, wie zu behaupten, daß Musik solange defizitär wäre, wie sie ohne Text auskommen will – was aber wäre dann erst mit der bildenden Kunst?).


    Also, eigentlich gewinnt ein Gedicht alles durch seine Vertonung und es verliert auch alles – wenn man nicht akzeptiert, daß das »Gedicht« und das über dem Gedichttext entstandene »Lied« zwei völlig verschiedene, eigenständige Kunstwerke sind.


    Ganz herzlich,
    Medard

  • Verachtet mir den Müller nicht !
    Er hat mit knapp dreiunddreißig Jahren dreihundertfünfzig eng bedruckte Seiten voller Gedichte hinterlassen. Unter diesen Gedichten ragt die Winterreise wie ein Monolith empor. Nie vorher und nachher hat er Vergleichbares geschrieben.
    Ich halte seine Winterreise für einen in jeglicher Hinsicht großen Wurf, sodass man sich fragt, ob Müller tatsächlich der Autor ist. Der Anlass zu diesem Werk ist unbekannt. Das Motiv des Wanderns wandelt sich in das des Getriebenseins.
    Die Verzweiflung stößt an Grenzen, die von der Poesie, zumal der Müllers,eigentlich nicht mehr bewältigt werden kann. Müller wagt sich hier in Gebiete hinein, die von Poesie noch gar nichts wissen:
    Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh` ich wieder aus .
    In meinem Lieblingsgedicht ( und Lied ) " Auf dem Flusse " spricht der Flüchtling mit kindlichem Staunen : ....liegst kalt und unbeweglich im Sande ausgestreckt....
    Es gibt in diesem Zyklus m. E. kein Gedicht, das misslungen wäre. Wer immer dieses einzigartige Werk Schuberts u n d Müllers interpretiert, sollte den Text so ernst nehmen wie die Musik.
    Hier haben erschütternde Verse ihre kongeniale Vertonung erfahren. Und Müllers inniger Wunsch, dass seine Gedichte irgendwann von irgendwem in Töne gesetzt werden mögen, ist noch zu Lebzeiten in Erfüllung gegangen -
    durch Schubert, den er nicht und der iihn nicht kannte.
    So war das damals, ohne Telefon und Internet.....


    Ciao. Gioachino :jubel:

    MiniMiniDIFIDI

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Was genau hieße hier "verlieren"? Wohl dass das Gedicht irgendwie von der Musik "erschlagen" wird, oder schlechter zur Geltung kommt, als wie wenn es ohne Musik vorgetragen würde. Ich muß zunächst einräumen, dass ich nur sehr selten Gedichte vorgetragen höre.


    Ich rede von fast 50 Jahre her. Wir hatten damals ein Radioprogramm "Vergleichensweise". Und damals wurde Erlkönig gedreht. In drei Fassungen. Eine war von Marian Anderson; die zweite habe ich vergessen, aber könnte Peter Anders sein; die dritte war von FiDi.
    Und da ließ man uns auch hören wie das Gedicht von einem Schauspieler vorgetragen wurde. Das klang gespenstisch, erinnere ich mich noch. Aber die Musik von Schubert, gesungen von FiDi und begleitet durch Moore, war m.E. noch schauderhafter.
    Damals fand ich jedenfalls, daß das Gedicht eine extra Dimension bekommen hatte. Und das, wo dieses Gedicht bereits so eindrucksvoll ist. Kaum zu glauben.


    Aber ich erinnere an Heines "'Die beide Grenadiere". Die haben m.E. auch noch einen Zusatzwert bekommen als Schumann es vertonte. Und dieses Gedicht ist doch auch nicht schlecht, oder...


    LG, Paul


  • Ein kluger Thread, der hoffentlich auch so bliebt. Deshalb will ich ihn auch nicht unterlaufen, indem ich die Wortspiele zu weit treibe, aber Ullis Hinweis finde ich wichtig, auch wenn er mir noch ein wenig zu kurz greift. Schon das Gedicht fängt ja mit einem Text zu einer Geschichte, einem mentalen Bild, einer Emotion oder gar einer abstrakten Idee an.


    Beispiel: DER ERLKÖNIG


    Ich könnte mir gut vorstellen, dass es eine Kurzgeschichte dieses Inhalts schon vor Goethe gab, die sich ganz auf den Ablauf der Schauergeschichte konzentrierte. Goethe hat damit zwei Dinge gemacht. Er hat sie - im Wortsinne - nicht nur ge-, sondern auch verdichtet. Dabei kommt ein Element hinzu, das hier noch nicht gewürdigt wurde, und das ist der Wortklang des Gedichtes, der eine, zugegeben begrenzte, aber definitiv als solche wahrnehmbare Musik generiert, sobald man es laut liest. Insofern wäre Ulli zu widersprechen. Auch Onomatopoesie ist Musik, das Lied also nur eine Steigerung und nicht zwangsläufig etwas völlig anderes. Das wird noch deutlicher beim "Zauberlehrling", der in weiten Strecken eine Klangkomposition ist, die weit über die Reime hinaus geht. Kein Wunder, dass die beste Vertinung dieses Gedichtes ganz ohne die Worte auskommt, die in sich genug Musik sind und keiner zusätzlichen bedürfen, die leicht ins Mickey-Mousing abrutschen könnte.


    Den Klang des Gedichtes "Der Erlkönig" hat Schubert kongenial aufgegriffen und erweitert, sogar in eine weitere Dimension ausgeweitet. Das Gedicht hat dadurch nichts verloren, aber sehr viel gewonnen, indem die in ihm sehr konkret suggerierten angedeuteten klanglichen Möglichkeiten erweitert wurden. Dieser Ansatz wurde in den Instrumentalisierungen von Berlioz und Reger noch weiter getrieben (wobei ich die Orchestrierung von Berlioz vorziehe). Beide vergewaltigen weder Schubert noch Goethe, sondern sie interpretieren ihre Quellen auf der Basis größten Respekts mit beachtlicher künstlerischer Freiheit, jedoch ohne ihnen Gewalt anzutun. Insofern sind sie fast das diametrale Gegenstück zu mancher modernen Opernregie.


    Natürlich reden wir hier von einer idealen Linie, aber vielleicht lässt sich an ihr illustrieren, dass ein Gedicht bei gleichwertiger oder gar höher wertiger Vertonung (durch) eine zusätzliche Dimension gewinnen kann ohne den geringsten Verlust zu erleiden.


    Im übrigen gibt es natürlich auch "Lieder ohne Worte" und, wie gechildert, Worte, die selbst schon zu Liedern geformt sind, wie soeben beschrieben.


    Soviel als erste Rückmeldung, nachdem mein Kopf (hoffentlich) und Compujter (definitiv) zum Glück wieder einsatzfähig sind.


    :hello: Rideamus

  • Diese zusätzliche Dimension erhält der Erlkönig m. E. auch durch die Komposition Carl Loewes, der das Gedicht ( ebenfalls op. 1, auch in g - moll ! ) drei Jahre nach Schubert vertonte, ohne dessen Version zu kennen.
    Ich wüsste nicht, welchem Lied ich den Vorzug geben sollte.


    Ciao. Gioachino

    MiniMiniDIFIDI

  • Lieber Gioachino, auc hwenn das eher in den Winterreise Thread gehört(ist der immer noch wegen Modearation geschlossen?) möchte ich Dir zu deinem Beitrag über den Text der Winterreise einen Hinweis geben.
    Ich erinnerte mcih an ienen heisse Diskussion zu diesem Thema in einem Gesangs- Forum und dort wurde gesagt, Müller selbst habe aus politischen Gründen(Verfolgung und Zensur in Zeiten der Restauration) eine eigene Winterresie antreten müssen und der Text sei eine verschlüsselte politische Botschaft. Auch schuberthabe oppsitionellen Anti-Metternich-Kreisen nahe gestanden udn die Winterreise sei eine politische Botschaft im Gewand eienr Liebesklage. Der Winter als Metapher für politische Eiszeit, deren Edne nicht abzusehen war.


    Von Peter bekam ich folgenden Link, den ich hier gerne weitergebe:


    http://www.goeres.de/textgrafik/winterreise.htm


    Zum Threadthema an sich muss man m.E. jedes einzelne Werk für sich betrachten. :yes:
    Grob gesprochyen:Es gibt Gedichte, die stehen für sich allein genauso "wertvoll "da wie mit einer kongenialen Vertonung. Es gibt aber auch zu Hauf solche, die erst durch die Vertonung geniessbar werden. Bei Letzterem denke ich insbesondere an die allermeisten Texte der Richard Strauss-Lieder. Beispielhaft sei hier nur mal Zueignung erwähnt.
    Ohne die emphatische Musik, kaum zu ertragen, fast lächerlich. MIT der Musik dagegen eines der überzeugendsten und beliebtesten Lieder, die Strauss komponiert hat.
    Dagegen können z.B. Heines oder Goethes Gedcihte auch ohne Schubert und Schumann den Anspruch auf grosse Kunst erheben.
    Kitsch im Wort kann durch Kunst im Ton veredelt werden. Umgekehrt geht das leider weniger, fürchte ich.


    Fairy Queen

  • Vielen Dank, liebe Fairy Queen, lieber Peter,
    für diesen aufschlussreichen Link ! Der gesellschaftspolitische Kontext war mir bis heute durchaus bewusst, wenn auch nicht so detailliert.
    Wenn ich weiter oben eine Lanze für Müller gebrochen habe, so hauptsächlich deswegen, weil ich die Verse der Winterreise sehr schätze ob ihrer Prägnanz, Phantasie und sprachlicher Finesse.
    Studiert man die sonstige Poesie einschließlich der" Müllerin", gibt es doch viel
    handwerklich gut gemachte, genrehafte Tändelei, von der sich der Text der Winterreise in bestürzender Weise abhebt. Stammt diese Dichtung tatsächlich von Wilhelm Müller ? Man möchte es gern glauben, wenn man das Lob Heines liest : " Es drängt mich Ihnen zu sagen, dass ich keinen Liederdichter außer Goethe so sehr liebe wie Sie. "


    Ciao. Gioachino

    MiniMiniDIFIDI

  • Zitat

    Original von Fairy Queen
    auch wenn das eher in den Winterreise Thread gehört (ist der immer noch wegen Modearation geschlossen?) möchte ich Dir zu deinem Beitrag über den Text der Winterreise einen Hinweis geben.


    Liebe Fairy Queen,


    den Vorgang im Winterreise-Thread verstehe ich nicht. Zum wiederholten Maße ist wegen eines Störenfrieds eine engagierte Diskussion unterbrochen worden, statt man die ernsthaften Diskutanten unterstützt. Hier kann die "Winterreise" nur als ein Beispiel unter vielen dienen - die vielen Bezüge auf diesen Zyklus zeigt nur, dass die sachbezogene Diskussion noch immer für die Schreiber Ernst zu nehmender Beiträge heiß ist.


    Zitat

    Ich erinnerte mcih an eine heiße Diskussion zu diesem Thema in einem Gesangs-Forum, und dort wurde gesagt, Müller selbst habe aus politischen Gründen (Verfolgung und Zensur in Zeiten der Restauration) eine eigene Winterreise antreten müssen, und der Text sei eine verschlüsselte politische Botschaft.


    Da sind wir mitten im Thema: Das gehört für mich zu einem wesentlichen Eingriff von Schubert in den Zyklus Müllers: Bei Schubert ist die Reihenfolge der letzten Lieder: Das Wirtshaus - Mut - Die Nebensonnen - Der Leiermann, bei Müller aber Frühlingstraum (bei Schubert Nr. 11) - Einsamkeit (Nr. 12) - Muth (Nr. 22) - Der Leiermann (Nr. 24). Da der Leiermann zweideutig ist, ist das Gedicht davor wichtig. Bei Müller steht da


    Lustig in die Welt hinein
    Gegen Wind und Wetter!
    Will kein Gott auf Erden sein,
    Sind wir selber Götter.


    Nach diesem trotzigen Lied ist der Leiermann eher, wie ja auch z.T. bei Schubert interpretiert, ein Symbol für die Kunst, die es ermöglicht, seine Lieder unter das Volk zu bringen, ein Lichtstrahl in der Finsternis und der Kälte - und nicht etwa Symbol des Todes.


    Man müsste - und das können wir im Winterreise-Thread weiter führen - die Reihenfolge des ganzen bei Müller und bei Schubert diskutieren - hier hat Schubert einiges Müller "verdeckt" und uminterpretiert.


    Zitat

    Auch Schubert habe oppositionellen Anti-Metternich-Kreisen nahe gestanden und die Winterreise sei eine politische Botschaft im Gewand eienr Liebesklage. Der Winter als Metapher für politische Eiszeit, deren Ende nicht abzusehen war.


    Auch ich neige dieser Auffassung als eine der Sinnebenen des Zyklus zu, aber wie gesagt - sollte es mal wieder möglich sein, im "Winterreise"-Thread vernünftig zu diskutieren, führen wir dieses Gespräch dort weiter - bis irgend eine Blaumiese wieder dazwischen schießt :angry:


    Zitat

    Zum Threadthema an sich muss man m.E. jedes einzelne Werk für sich betrachten. :yes:
    Grob gesprochen:Es gibt Gedichte, die stehen für sich allein genauso "wertvoll "da wie mit einer kongenialen Vertonung. Es gibt aber auch zu Hauf solche, die erst durch die Vertonung geniessbar werden.


    Wobei man allerdings bemerken muss: Die für uns heute schwer genießbaren Gedichte waren in ihrer Zeit durchaus beliebt und ein Dokument des Zeitgeistes. Es ist ein Beispiel dafür, dass Sprache schneller altert als die Musik - dies wäre ein guter Punkt für den "Zugewinn" eines Textes. Ähnliches wurde ja schon Zusammenhang mit dem Libretto des "Fidelio" geäußert.


    Zitat

    Bei Letzterem denke ich insbesondere an die allermeisten Texte der Richard Strauss-Lieder. Beispielhaft sei hier nur mal Zueignung erwähnt.
    Ohne die emphatische Musik, kaum zu ertragen, fast lächerlich. MIT der Musik dagegen eines der überzeugendsten und beliebtesten Lieder, die Strauss komponiert hat.


    Bei der "Zueignung" sind es u.a. die heute nicht mehr geläufigen Bilder, die gesucht und nicht überzeugend wirken. Da der konkrete Text bei Strauss hinter den in der Musik realisierten Gefühlen zurücktritt, wird die konkrete Sprachform des Gedichtes "verschleiert".


    Zitat

    Dagegen können z.B. Heines oder Goethes Gedichte auch ohne Schubert und Schumann den Anspruch auf große Kunst erheben.
    Kitsch im Wort kann durch Kunst im Ton veredelt werden. Umgekehrt geht das leider weniger, fürchte ich.


    Wobei ich mal wieder nach dem Begriff des Kitsches frage. Bei Zueignung wäre des wohl vor allem die für uns heute unerträgliche Sphäre der Weihe: "Amethysten-Becher" "segnest" "Trank" "heilig", dazu das im gesprochenen Text nachklappernde "habe Dank".


    Liebe Grüße Peter

  • Zitat

    Original von gioachino: Studiert man die sonstige Poesie einschließlich der" Müllerin", gibt es doch viel
    handwerklich gut gemachte, genrehafte Tändelei, von der sich der Text der Winterreise in bestürzender Weise abhebt.


    Lieber Gioachino, die "Müllerin" ist, soweit ich mich erinnere, im Zuge von Rollenspielen und Salongesprächen entstanden, an denen Müller, Luise Hensel und einige junge Leute, die zum Kreis um Clemens Brentano gehörten, beteiligt waren. Ich habe das Buch über die Entstehung der "Müllerin" leider nicht selbst, kann den Kontext also nur aus der Erinnerung hervorholen, aber ich meine, die Figur der "Müllerin" war Luise Hensel zugewiesen, während der "Jäger" als Rivale auf Brentano verweisen sollte. Der Zyklus war also wohl wirklich zunächst als literarisches Spiel gedacht.


    Die "Winterreise" fällt auch meiner Meinung nach aus den übrigen Gedichten Müllers heraus; über die näheren Umstände ihrer Entstehung weiß ich aber leider nichts.


    :hello: Petra

  • Liebe Petra,


    Müllers " Schöne Müllerin " umfasst 25 Gedichte. Zu den 2o von Schubert vertonten kommen noch : Prolog; Das Mühlenleben; Erster Schmerz, letzter Scherz; Blümlein Vergißmein und ein Epilog, in dem Müller (Heine lässt grüßen)
    das Ganze ironisch relativiert :".....doch pfuschte mir der Bach ins Handwerk schon mit seiner Leichenred im nassen Ton...."
    Indem Schubert fünf der Gedichte wegließ, verlieh er dem Zyklus die entscheidende tragische Fallhöhe.
    Vor Jahren haben mein Pianist und ich, unter Hinzuziehung einer Rezitatorin,
    die komplette " Moritat " erfolgreich öffentlich präsentiert.


    Ciao. Gioachino :hello:

    MiniMiniDIFIDI

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  • Lieber Gioachino,


    ich danke Dir, dass Du mir da wieder auf die Sprünge geholfen hast. Ich konnte nämlich den Schluss des Zyklus bei Schubert mit dem spielerischen Charakter der literarischen Vorlage nicht recht in Einklang bringen; dass die ironische Brechung bei Schubert weggelassen wurde, erklärt den Widerspruch. Und die Aufführung des Zyklus mit Rezitatorin rückt ja die im Bewusstsein der normalen Musikhörer (sofern sie sich nicht eingehender mit der Materie befassen) meist gar nicht existenten Gedichte wieder ins Licht, so dass die ironische Brechung deutlich wird.


    Also hat Schubert durch den traurigen Schluss in seinem Zyklus Müllers Gedichte in einen völlig neuen Kontext gestellt, oder?


    :hello: Petra

  • Ich möchte die sehr interessante Diskussion, die ich bisher lesenderweise mitverfolgt habe, nicht unterbrechen - deshalb nur ein kleiner Hinweis: in der Aufnahme der "Müllerin" mit B. Fassbaender und A. Reimann spricht die Mezzosopranistin auch die fünf Gedichte, die Schubert nicht vertont hat - und zwar an den, wenn ich nicht irre, Stellen, wo diese auch bei Müller zu finden sind.

  • Lieber Alviano,


    ich kannte bisher keine Aufnahme, die diese Gedichte enthält, danke für deinen Hinweis, denn diese "Gesamtfassung" würde ich auch gern einmal hören.


    Liebe Alle,


    mir fällt gerade noch ein Text ein, dessen Sinngehalt durch Schuberts Vertonung meiner Meinung nach verändert wurde:
    "Am Meer" enthält ja den Schluss: "Mich hat das unglücksel´ge Weib vergiftet mit ihren Tränen." Eine typische ironische Heine-Schluss-Wendung, die jedoch durch die Musik sehr stark ins Pathetische gehoben wird. Ich habe eine Aufnahme mit Friedrich Schorr im Ohr, wo am Ende wirklich ein gesungener, heftiger Ausbruch steht, insbesondere auf dem "vergiftet".
    Die Ironie geht auch dort verloren.


    :hello: Petra

  • Zitat

    Original von gioachino
    Müllers " Schöne Müllerin " umfasst 25 Gedichte. Zu den 2o von Schubert vertonten kommen noch : Prolog; Das Mühlenleben; Erster Schmerz, letzter Scherz; Blümlein Vergißmein und ein Epilog, in dem Müller (Heine lässt grüßen)


    Lieber Gioachino,


    Vielleicht ist Dir nicht bekannt, daß EMI je eine Box ausgab, worin auf drei CDs zu finden sind die m.E. schönste Aufnahmen die FiDi je machte von "Die schöne Müllerin", "Winterreise" und "Schwanengesang" (1961; 1962; die Nummer 1-14 von Schwanengesang wurden 1962 aufgenommen und die Nummer 15 ist aus 1959).


    Bei der schöne Müllerin rezitiert FiDi sowohl den Prolog (Ich lad' euch, schöne Damen, kluge Herren) als Epilog (Nun hab' ich denn nicht lieber hier zu tun).
    Und um Zweifel über die Ausführung zu zerstreuen (durch Mann oder Frau oder durch beide) folgt hier ein Zitat aus dem Prolog:
    ...Doch wenn ihr nach des Spiels Personen fragt,
    so kann ich euch, den Musen sei's geklagt,
    nur eine präsentieren recht und echt
    das ist ein junger blonder Müllersknecht...


    und das Ende des Epilogs:
    ...so sei des treuen Müllers treu gedacht
    bei jedem Händedruck, bei jedem Kuß,
    bei jedem Herzensüberfluß,
    Gebt ihm die Liebe für sein kurzes Leid,
    In eurem Busen lange Seligkeit.


    LG, Paul

  • Ich lese gerade ein Buch von Jean Starobinski "Die Zauberinnen - Macht und Verführung in der Oper", in der u.a. Melchior Grimm zitiert wird:


    "Die Äußerungen der Musik [...] gehen unmittelbar zu Herzen, ohne sozusagen durch den Verstand zu passieren und erzeugen Wirkungen, die jeder anderen Sprache fremd sind, und selbst das Ungefähre, das die daran hindert, ihren Akzenten die Genauigkeit der Rede zu geben, vertraut unserer Einbildungskraft die Sorge der Deutung an und lässt sie eine Herrschaft spüren, die keine andere Spräche über sie auszuüben vermöchte."


    Der Autor führt dies mit weiter:


    "Die Musik bewirkt emotionale Verstärkung."
    "Die Musik hat den Vorzug, die Gemütsbewegung bis zu ihrer höchsten Stufe zu tragen - wozu die erhabenste Dichtung nicht imstande ist. Sie ist ein von Wörtern befreiter Superlativ"


    Die o.a. Zitate finden sich im Kapitel über Mozarts Don Giovanni, sind also sicher nicht unbedingt an der Frage "Vertonung von Gedichten" orientiert.


    Trotzdem findet sich in meinen Augen etwas wieder, was ich auch so empfinde. Gesungene Sprache spricht mich gewöhnlich emotionaler stärker an als gesprochene Sprache.


    LG
    Rosenkavalier

  • Weil's hier schon ein paar mal angesprochen worden und als Beispiel IMO nicht ganz unerheblich für die hier verhandelte Frage ist: Ist Wilhelm Müllers Lyrik wirklich so schlecht, daß sie ohne die Schubert’sche Musik so gar nicht bestehen konnte/könnte? Wenn ja, warum hat Schubert dann zu solch schwacher Lyrik gegriffen, um seine wundervolle Musik darunter- oder darüberzugießen? Oder haben die Gedichte vielleicht eine bestimmte Qualität, die sie für Schubert interessant gemacht haben könnte?


    Deswegen vielleicht doch mal etwas Klartext zur Müllerschen Lyrik, am Beispiel der »Wetterfahne«.
    Hier zunächst nochmal der Text:



    Wilhelm Müller (1794-1827)


    Die Wetterfahne


    Der Wind spielt mit der Wetterfahne
    Auf meines schönen Liebchens Haus.
    Da dacht ich schon in meinem Wahne,
    Sie pfiff' den armen Flüchtling aus.


    Er hätt' es ehr bemerken sollen,
    Des Hauses aufgestecktes Schild,
    So hätt' er nimmer suchen wollen
    Im Haus ein treues Frauenbild.


    Der Wind spielt drinnen mit den Herzen,
    Wie auf dem Dach nur nicht so laut.
    Was fragen sie nach meinen Schmerzen?
    Ihr Kind ist eine reiche Braut.



    Auf den ersten Blick stellt man wahrscheinlich fest: formal ist das Gedicht im Kontext der romantischen Lyrik doch recht konventionell. Es ist strophisch aufgebaut, die Strophen bestehen aus je vier auftaktigen, vierhebigen Trochäen mit abwechselnd weiblicher (klingender) und männlicher (stumpfer) Kadenz; Kreuzreim – Volksliedcharakter. Im Schema sieht das so aus:


    a/áa/áa/áa/áa
    a/áa/áa/áa/á-
    a/áa/áa/áa/áa
    a/áa/áa/áa/á-



    Allerdings ist Folge der Kadenzen insofern interessant, als daß die Verse 2 und 3 jeder Strophe fugend sind, genauso wie die Übergänge zwischen den Strophen. Das ist zwar erstmal nicht revolutionär, doch stehen diese fugenden Übergänge asymmetrisch zu den Sinnabschnitten des Textes – denn die drei Strophen sind in sich geschlossen (kein Satz oder Sinnabschnitt geht über eine Strophe hinaus) und innerhalb der einzelnen Strophe bilden die Verse 1 und 2 sowie 3 und 4 jeweils einen Sinnabschnitt, wobei die beiden Sinnabschnitte der Mittelstrophe in einer Kosekutivkonstruktion verklammert sind (was, wie gleich hoffentlich noch deutlich wird) auch kein formaler Zufall ist, sondern mit der semantischen Struktur korrespondiert.


    So, für Interpretationen (im Sinne eines »Was will der Dichter uns sagen?) bin ich dann ungeeignet, die muß ja auch jeder mit sich selbst ausmachen. Aber die semantische Struktur ist ja auch deskriptiv anzunähern: Die erste Strophe setzt mit einer Beobachtung (oder zumindest einer imaginierten, vermeintlichen Beobachtung) ein, eben der im Wind wehenden Fahne auf dem Hause der angebeteten Dame, wobei schon die Verse 3 und 4 die vermeintlich äußere Beobachtung in eine Assoziation überführen, indem der Sprecher bzw. der textinterne Erzähler die flatternde Fahne als Symbol deutet. Damit schleift Herr Müller (und das finde ich doch bemerkenswert) seinem Gedicht eine innere symbolische Dimension ein. Die eingangs geschilderte Situation mündet in ein reflexiven Prozess - äußere und innere Wirklichkeit durchdringen einander in einem assoziativ-metaphorischen Geflecht.


    Die zweite Strophe führt diesen reflexiven Prozeß weiter. Und hier geschieht etwas, was ich doch einigermaßen ungewöhnlich und eindrucksvoll finde: Der Sprecher (oder textinterne Erzähler) tritt gewissermaßen neben sich und beobachtet die Situation von Außen. Das Verschiebung der Sprecherposition von der eines Ich-Erzählers hin zu einem personalen Erzähler, der Wechsel vom »Ich« zum »Er« macht dies augenfällig. Man könnte natürlich auch der Meinung sein, in der zweiten Strophe imaginiere der Sprecher die Gedanken des »untreuen Frauenzimmers«, das seiner spottet – darüber kann man sicher streiten. Ich tendiere jedoch recht deutlich dazu, die erste Variante anzunehmen (im übrigen würde dies das Gedicht in einem erheblich besseren Licht erscheinen lassen... :D ) In dieser Strophe wird nun die symbolische Aufladung der Eingangssituation (die im Wind wehende Fahne) ausgedeutet (sie erscheint als »Schild« - als Warnung), als Metapher, gelesen für die angenommene Untreue von des Wanderers Objekt der Begierde.


    Die Schlußstrophe nimmt das »Spiel der Wetterfahne« vom Gedichtbeginn wie auch die symbolische Ausdeutung nochmals auf. So gesehen bilden die Verse 1 und 2 der Schlußstrophe gewissermaßen eine Art Engführung der beiden ersten Strophen. Die letzten beiden Verse sind dann so etwas wie das resignative Resümee des Sprechers – hier kehrt er wieder zur Ich-Form zurück (er spricht nicht von »seinen« sondern von »meinen Schmerzen«).
    Die zentrale Strophe erhält durch die enge Verklammerung ihrer beiden Sinnabschnitte (die wie auch in den Strophen 1 und 3 jeweils mit einem Verspaar korrespondieren), eine stärkere innere Dynamik als die beiden Außenstrophen und durch die Konsekutivkonstruktion zudem die Funktion einer Brücke zwischen dem »Wahn« der ersten Strophe und der verzweifelten, nüchtern-resignativen Einsicht in der Schlußstrophe.


    Ich würde mal sagen, daß dieses Gedicht auf formaler und struktureller Ebene erheblich stärker ist, als man es vielleicht beim ersten Lesen vermuten würde. O.k., der Text hat wirkliche Schwächen, insbesondere der »Herz-Schmerz«-Reim in der letzten Strophe ist ein Tiefschlag (und war das auch schon im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts - immerhin sind es »ihre« Herzen und »seine« Schmerzen; richtig gut macht das den Reim allerdings immer noch nicht). Aber das es sich hier um wirklich schwache Lyrik handeln würde, kann ich nicht sagen – dafür ist das Gedicht in seiner formalen und semantischen Struktur (was nicht gleichbedeutend ist mit »Aussage«) zu komplex. Die »Aussage« ist vielleicht schon recht schlicht – aber wie diese »Aussage« (jenseits des schnöden Wortsinns) formal konstituiert wird, ist einfach nicht schlecht. Formal hat das Gedicht schon was zu bieten – wenn man erst hinter die vordergründig konventionelle Volksliedfassade schaut.


    Ich glaube eigentlich, daß es gerade solche Aspekte sind, die ein »Gedicht« als Liedtext tauglich machen – die Überlagerung von eher einfachen Oberflächenstrukturen und komplexeren Tiefenstrukturen – und damit meine ich jetzt nicht auf der Aussageebene (also nix Psychologie und so) sondern auf einer sinnkonstitutiven formalen Ebene, die dem Komponisten die Möglichkeit zur musikalischen Ausdeutung ermöglicht.


    Vielleicht hat Schubert genau so etwas gespürt, als er die Müllerschen Gedichte als geeignet für seine Liedkompositionen ausgewählt hat. Jedenfalls hat er Texte gewonnen, die er in wundervolle Musik umsetzten konnte.


    Und was hat die »Wetterfahne« dabei gewonnen? Musik! – Und Ruhm... Das Gedicht selbst ist genauso komplex (oder genauso dürftig) geblieben, wie es vorher war.


    Ganz herzlich,
    Medard

  • Zitat

    Original von Klawirr
    Weil's hier schon ein paar mal angesprochen worden und als Beispiel IMO nicht ganz unerheblich für die hier verhandelte Frage ist: Ist Wilhelm Müllers Lyrik wirklich so schlecht, daß sie ohne die Schubert’sche Musik so gar nicht bestehen konnte? Wenn ja, warum hat Schubert dann zu solch schwacher Lyrik gegriffen um seine wundervolle Musik darunter- oder darüberzugießen?...


    Lieber Medard,


    Zuerst möchte ich Dir danken für Deine starke Analyse.
    Jedoch vermisse ich noch was. Vielleicht kannst Du auch da noch was zu sagen.


    Schubert war ein Kind seiner Zeit. Und die Gedichte wurden damals vermutlich anders interpretiert und empfunden als heute.
    Einige Stellen in den Gedichten, die wir jetzt vielleicht schwach oder lächerlich finden, waren damals eher "normal".
    Ist unsere heutige Betrachtung (und deshalb Beurteilung) der Gedichte und Lieder von damals wohl zu rechtfertigen.


    LG, Paul

  • Zitat

    Original von Klawirr: Und was hat die »Wetterfahne« dabei gewonnen? Musik! – Und Ruhm... Das Gedicht selbst ist genauso komplex (oder genauso dürftig) wie vorher.


    Das ist sicherlich ein wichtiger Gesichtspunkt in Bezug auf die Rezeption von Gedichten: Gäbe es die Vertonung durch Schubert nicht, würden sich wahrscheinlich weniger Menschen mit Müllers Gedichten beschäftigen.


    Viele Gedichte haben durch die Vertonung auch eine "Breitenwirkung" dadurch erlangt, dass sie zu Volksliedern geworden sind:
    Ich kannte "Am Brunnen vor dem Tore" und das "Heideröslein" schon als relativ kleines Kind und habe mir damals noch keine Gedanken darüber gemacht, dass hier vertonte Gedichte vorliegen.


    Zitat

    Original von Rosenkavalier: Trotzdem findet sich in meinen Augen etwas wieder, was ich auch so empfinde. Gesungene Sprache spricht mich gewöhnlich emotionaler stärker an als gesprochene Sprache.


    Das geht mir genauso; die Musik verstärkt die Wirkung auf mich als Rezipienten der Gedichte. Aber kann darin für das Gedicht selbst nicht auch ein Verlust liegen?


    Ein Gedicht eröffnet viele Möglichkeiten der Deutung; die objektive Interpretation gibt es nicht. Wenn es jetzt vertont wird, gibt der Komponist eine Richtung vor, indem er den Worten eine bestimmte Musik beifügt. Die Phantasie des Hörers wird dadurch meiner Meinung nach stärker gelenkt, als wenn ein Leser lediglich die Worte vor sich hat. Eventuell kann durch reale Musik auch der Blick auf Wortmusik im Gedicht (Wechsel der Vokale, Alliteration etc.) verdeckt werden.


    Gewinn und Verlust durch Vertonung eines Gedichtes liegen meiner Meinung nach dicht beieinander.


    :hello: Petra

  • Zitat

    Original von musicophil
    Jedoch vermisse ich noch was. Vielleicht kannst Du auch da noch was zu sagen.


    Schubert war ein Kind seiner Zeit. Und die Gedichte wurden damals vermutlich anders interpretiert und empfunden als heute.
    Einige Stellen in den Gedichten, die wir jetzt vielleicht schwach oder lächerlich finden, waren damals eher "normal".
    Ist unsere heutige Betrachtung (und deshalb Beurteilung) der Gedichte und Lieder von damals wohl zu rechtfertigen.


    LG, Paul


    Lieber Paul,
    ja, da hast Du natürlich recht! Die sozial-, kultur und diskursgeschichtliche Dimension spielt sicherlich eine große Rolle. Viele Texte, die zu einem bestimmten Zeitpunkt anschlußfähig gewesen sind, sind dies heute nicht mehr oder nur noch schwerlich, weil sich die sozialen und kulturellen Rahmenbedingen (die ästhetischen Konventionen) verändert haben. Worum es mir aber ging, war zu zeigen, daß die Müllerschen Texte jenseits kulturhistorischer und epochenspezifischer Moden durchaus eine eigene ästhetische Qualität haben - jenseits auch ihres schlichten Aussagegehalts und der - für uns Heutige - vielleicht kitschig-trivilal anmutenden Bilder. Das will ich gar nicht bewerten. Daß sich die Zeiten und mit den Zeiten die Geschmäcker ändern, ist ja eine triviale Feststellung. Aber diese Dynamik zu erinnern ist bisweilen ganz nützlich, bevor man ein vermeintlich zeitloses Urteil über ein Kunstwerk fällt. Darum ist Dein Hinweis, Paul, auch so wichtig!


    Müllers Gedichte jedenfalls sind so schlecht nicht; formal sind sie zum Teil durchaus komplex gearbeitet - machens von Eichendorff oder Rückert oder Brentano oder Arnim ist nicht wesentlich »besser« (abgesehen davon, daß vieles ja auch eine Frage des Geschmacks ist). Einiges aber eben doch - zumindest insofern als es jenseits seiner sozial- und kulturgeschichtlichen Gebundenheit - etwa uns Heutige - zu berühren vermag.


    Ganz herzlich,
    Medard

  • Hier wurde viel interessantes geschrieben, dennoch wurde von der eher abstrakten Frage auf spezielle Dichter und auf spezielle Werke fokussiert.


    Allgemein würde ich die Frage beantworten,:


    Ein vertontes Gedicht gewinnt im Idealfall ebensoviel wie es verliert,
    es macht eine Metamorphose durch,
    ähnlich einer Weintraube die durch gewisse Prozesse
    zum Wein, zum Sekt, oder zum Cognac veredelt wird,
    und dennoch das Ursprüngliche unwiderruflich einbüsst.


    Ähnliches ließe sich über ein Theaterstück sagen,
    welches zu einem Libretto umgearbeitet wird
    und letztlich eine Oper daraus entsteht.


    Es gelten andere Spielregeln.


    ______________________________


    Über die Dichter der Romantik heutzutage zu urteilen
    steht uns nicht an
    und es ist auch nicht wirklich möglich -
    im Umfeld einer Zeit, der jeder Sinn für Romantik abhandengekommen ist...
    Worte wie "behaglich", "Treue" "Feinsliebchen" etc etc
    entstammen einem anderen Lebensgefühl.
    Das ist zu akzeptieren



    Freundliche Grüße aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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