Fehlurteile (?) in der Musik

  • Hallo,


    Anlass zu diesem Thread war die "Aufregung über Arraus Statement
    "Musik muß ernst sein" und die daraus resultierende "Aufregung"


    Vielleicht ein paar Informationen zu Arrau.
    Er war Konzertpianist mit besonderem Schwerpunkt auf Klassik und Romantik. In seiner Jugend ein "feuriger, wilder" Interpret zog er sich im Alter auf von tiefem inneren Ernst geprägte Interpretationen zurück, die sowohl von Kritik als auch vom Publikum sehr gelobt und geliebt wurden. Mit Barockmusik hatte Arrau selbstverständlich nichts am Hut.
    Und mit Humor offensichtlich auch nicht.Humor kann man nicht lernen, man hat ihn oder nicht, gleiches gilt auch für Esprit, Anmut, menschlkiche Wärme oder Kommunikationsbereitschaft. Allen von uns fehlt irgendwas davon. Manches schließt sich sogar gegenseitig aus.
    Ein Pianist ist ja eigentlich nicht dazu da, daß er Statements über seine persönlichen Vorlieben und Abneigungen abgibt, und es reisst sich auch meines Wissens kaum einer drum.
    Aber dann schicken die bösen Schallplattenkonzerne dem Mann Journalisten und Kritiker ins Haus und stellen Fragen, über die er noch nie ernstlich nachgedacht hat, und die er nun schlagfertig beantworten soll.


    Etliche "große Männer" haben sehr persönliche Urteile abgegeben, die aus heutiger Sicht "überholt", "geschmacklos", "uninformiert" oder "lächerlich" wirken. Die Skala reicht von Mozarts Fehlurteilen, über jene von Robert Schumann über Hanslick bis Stravinskys Verdikt über Vivaldi. Nicht zu vergessen Herr Adorno, der ja von manche für sakrosankt betrachtet wird, mit seinen Gehässigkeiten über Sibelius.


    Dabei muß manchen Zitierten zugute gehalten werden, daß ihre Aussagen teilweise nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, teils schon, aber nur für eine lokale oder eine zeitlich lokale. Daß ein vor zig oder mehr Jahren gemachter Ausspruch einst von jedermann via Internet abrufbar sein sein könne, daran war ja nicht zu denken....


    Wir müssen uns klar sein, daß dies auch für unsere Beiträge gilt, sie sind, wenn auch nicht für die Ewigkeit, so doch für sehr lange gespeichert und von jedermann abrufbar, auch wenn sich das allgemeine "Wertesystem" inzwischen geändert haben sollte.


    Hier können nun entweder allgemeine Ansichten zu diesem Thema, oder aber auch Zitate und Urteile in Bezug auf Musik, von Berühmtheiten gebracht werden, die aus Eurer Sicht heute nicht mehr überzeugen können.


    Freundliche Grüße aus dem verschneiten Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred,


    ich bin mir immer bewußt, daß Ansichten über künstlerische Fragen natürlich sehr subjektiv geprägt sind. Von "Fehlurteil" zu reden, würde ja voraussetzen, daß ein absolut richtiges, endgültiges Urteil irgendwann gefunden wird. Daran glaube ich aber nicht.


    Was das Arrau-Zitat betrifft, denke ich schon, daß dieses Arraus Musikinterpretationen auch in mancherlei Hinsicht erklären kann, wo man sich sonst fragt, warum er alles so schwermütig spielt.


    Ich muß dabei an Brahms denken, von dem mal jemand gesagt hat:


    wenn er mal besonders gut aufgelegt ist, dann komponiert er 'Das Grab ist meine Freude'


    Andererseits schrieb Brahms über seine "Ernsten Gesänge" an seinen Verleger Fritz Simrock:


    Zitat


    L. Fr.


    Ich muß dir doch zu meinem Geburtstage eine kleine Freude machen -wie ich mir selbst zu diesem Tage eine gemacht, indem ich mir ein paar kleine Liederchen schrieb. Diese denke ich zu veröffentlichen und sie - Max Klinger zuzueignen! Daran siehst du, daß sie nicht grade ein Spaß sind - im Gegenteil, sie sind verflucht ernsthaft und dabei so gottlos, daß die Polizei sie verbieten könnte - wenn die Worte nicht alle in der Bibel ständen.


    und in einem Brief an Eusebius Mandyczewski vom selben Tag


    Zitat

    Beiliegende gottlose Schnadahüpferl lasse ich den Umweg über Wien machen...


    zitiert nach: Brahms Briefe Herausgegeben von Hans Gal (Fischer Taschenbuch)


    Was will ich damit sagen? Daß es jemand todernst meinen kann, und trotzdem eine ironische Distanz zum Objekt haben kann. Und ich denke, diese ironische Distanz ist auch unbedingt nötig, sonst wirds ungenießbar.


    Alfred, daß du diese ironische Distanz hast, fällt mir hier im Forum immer wieder sehr angenehm auf :P


    Nette Grüße
    Heinz

  • Salut,


    was mich in diesem Zusammenhang interessiert, ist:


    Wie kommt eigentlich der "Sinneswandel" zustande? Ich meine faktisch z. B. die verschiedenen Aufführungspraxen und die verschiedenen Zeitgeschmäcker von den 1920er Jahren an aufwärts? Warum sind die Richter-Einspielungen heute überholt, warum waren sie in den 70ern so beliebt? Sind dies auch alles jeweils Fehlurteile der jeweiligen Zeit, in der diese Praxis ausgeübt und der Geschmack vertreten wurde?


    Viele Grüße
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Leider ist, jedenfalls in diesem Thread, niemand mehr auf Ullis letzte Frage eingegangen, deshalb ein Dank an Alfred, dass er ihn in Erinnerung gerufen hat.


    Tatsächlich erweist sich die Praxis der "Musikindustrie" quer durch die Jahrhunderte (trotz zahlreicher positiver Entscheidungen) in Form von Moden oder Aussortierung wegen verfrühter (und oft nur vermeintlicher) Bedeutungslosigkeit als der Richter mit der - mit weitem Abstand - höchsten Quote an Fehlurteilen.


    In aller Regel bedarf es einer Kombination aus engagiertem Fürsprecher (wie etwa Mendelssohn-Bartholdy bei Bach) zur richtigen Zeit (wie etwa der Callas beim Belcanto-Repertoire).


    Zum Glück sind die interpretierenden Künstler der letzten Jahrzehnte in Ermangelung von allgemein durchsetzbarem neuem Repertoire besonders findig und fündig geworden, und das nicht nur im Barock, dessen Wahrnehmung ja lange Zeit auf kaum mehr als eine Handvoll Werke beschränkt war, die auch noch wenig werkgerecht aufgeführt wurden. Auch Tamino bemüht sich mit ersichtlichem Erfolg, mindestens einigen lange verkannte Komponisten und Künstlern die überfällige Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.


    Deswegen sind wir heute etwas vorsichtiger mit derartigen Äußerungen. Wir wissen halt viel besser, dass die Geschichte Urteile revidieren kann. Dies gilt nicht nur für verkannte Künstler, sondern auch für solche, deren einstige Populrität derart ins Gegenteil umgeschlagen ist, dass ihnen schon wieder Unrecht geschieht. Lortzing wäre so ein Fall. Ich bin sicher, dass auch dieses Pendel irgendwann wieder zurück schlagen wird. Deswegen geht man heute zu Recht sehr vorsichtig mit derartig apodiktischen Äußerungen um. Adorno, dessen Abkanzelung von Sibelius womöglich länger im allgemeinen Gedächtnis haften bleiben wird als seine eigenen Werke, ist da ein warnendes Beispiel.


    Insofern gilt auch hier - jedenfalls oberhab einer bestimmten Stufe - der Spruch Talleyrands über den Hochverrat: Qualität ist eine Frage des Datums.


    Deshalb täte ich mich schwer, bestimmte Aussprüche, die heute als grotesk erscheinen, als gültiges Fehlurteil zu perpetuieren. Auch deshalb, worauf Alfred zu Recht hinwies, weil sie nicht über den Tag ihrer Äußerung hinaus gedacht waren.


    Anders verhält es sich dagegen mit Komponisten, die schon von ihren Peers bewundert wurden, sich jedoch trotzdem nie ganz duchsetzen konnten. Chabrier wäre ein solch eklatantes Beispiel für einen keineswegs schwierigen Komponisten, der dennoch nie wirklich akzeptiert wurde, während andere und nicht unbedngt leichter zu Konsumierende von dem Pendelschlag, der zu ihren Gunsten lief, bis zum Überdruss profitieren konnten.


    Woran das wohl liegen mag?


    :hello: Rideamus

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Vielleicht ein paar Informationen zu Arrau.
    Er war Konzertpianist mit besonderem Schwerpunkt auf Klassik und Romantik. In seiner Jugend ein "feuriger, wilder" Interpret zog er sich im Alter auf von tiefem inneren Ernst geprägte Interpretationen zurück, die sowohl von Kritik als auch vom Publikum sehr gelobt und geliebt wurden. Mit Barockmusik hatte Arrau selbstverständlich nichts am Hut.


    Woher stammen denn diese Einschätzungen?
    Arrau hat öffentlich Furore gemacht mit dem gesamten Klavierwerk von J. S. Bach, in Berlin hintereinander aufgeführt. Bach-Partiten gehören auch zu den letzten Kompositionen die er aufgenommen hat.
    Im Alter wollte er eigentlich ganz andere Sachen aufnehmen, man ließ ihn aber nicht.
    Und Witze konnte der Mann erzählen... Allerdings war er auch sonst ganz witzig.
    Seine Schwierigkeiten hat er schon mit den simpelsten Erscheinungsformen der Technik gehabt. Wasserkochen, Tür aufschließen, Radio einschalten waren bereits Abenteuer für ihn.


    Aber das nur so am Rande. Vielleicht gehört das ja eher zur Rubrik 'Fehlurteile über Musiker'. :D

  • Banner Trailer Gelbe Rose
  • Arrau ist einer der wenigen großen Pianisten, bei denen im Internet studiert werden kann, wie sich ihre Programmgestaltung gewandelt hat. Auch wenn Arrau in der Anfangszeit seiner Laufbahn das Gesamtwerk Bachs aufgeführt hat und am Ende vier der sechs Partiten einspielte, so fällt doch auf, dass wenigstens von den 1950er Jahren an Bach und andere Meister dieser Epoche nicht mehr in den öffentlichen Konzerten Arraus zu hören waren. Leider nicht. Aber dieser große Mann hatte ja genug anderes zu tun bzw. zu spielen.


    Eine Dokumentation seiner Programme gibt es auf der
    arrausite. free. fr/ Index.html

  • Zitat

    Wie kommt eigentlich der "Sinneswandel" zustande? Ich meine faktisch z. B. die verschiedenen Aufführungspraxen und die verschiedenen Zeitgeschmäcker von den 1920er Jahren an aufwärts? Warum sind die Richter-Einspielungen heute überholt, warum waren sie in den 70ern so beliebt? Sind dies auch alles jeweils Fehlurteile der jeweiligen Zeit, in der diese Praxis ausgeübt und der Geschmack vertreten wurde?


    Auch wenn derjenige, der sie gestellt hat schon jahrelang nicht mehr im Forum ist - was hier bleibt ist seine Frage:
    Ich will versuchen sie einigermaßen neutral zu beantworten. Schon dieser Versuch ist selbstverständlich zum Scheitern verurteilt, denn auch ich bin ein Kind der Zeit in der ich lebe und teilweise vom Zeitgeschmack beeinflusst - sei es positiv, sei es negativ.
    Und hier sind wir teilweise schon bei der Beantwortung der Frage. Richter war indes zu keiner Zeit unumstritten. Er galt seinen Gegner als zu "rhythmisch", zu respektlos vor dem Genie Bach. Dieser "Respekt" kann in älterem Aufnahmen durchaus nachvollzogen werden, man spielt Bach "neutral" aus Angst, der Ikone einen Schaden zuzufügen. Dies führte zu einem gewissen leblosen Bachbild, welches Richter aufzubrechen versuchte, ein "moderner" Ansatz mit modernen Instrumenten. Heute gilt er bei vielen als zu "brav" und "verstaubt", "historisch unkorrekt" - wie ungerecht ist doch die Welt.....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Hallo,


    KARL RICHTER "zu respektlos vor dem Genie BACH"???? Eine solche Einschätzung, wie von Alfred Schmidt bei Karl Richter-Gegnern vermutet, halte ich für gänzlich abwegig. Kaum jemand sonst wie Karl Richter hatte so riesigen Respekt vor Bach und seinem Werk, und ich kenne seinen Ausspruch, und habe diesen sogar auf einer LP verbrieft: "BACH war ein Genie - soweit kommen wir nie" (z. B. auf die Frage, ob die Matthäus- oder die Johannespasson höher einzuschätzen sei.). Gerade wegen dieser Begeisterung für, und dem Respekt vor Bach, beschäftigte er sich mit dessen Werk wie kaum ein anderer und ertönte in ihm dessen Schöpfungen erhabener und getragener und wuchtiger, auch schon durch die Schule der großen Leipziger Tradition, personifiziert durch die renommierten Bachdirigenten KARL STRAUBE, GÜNTHER RAMIN, RUDOLF MAUERSBRGER UND KURT THOMAS.


    KARL RICHER's ganz persönlicher, von einer mehr romantischen Chortradition geprägter BACH-Stil mit, der sich durch temperamentvolle Spielfreude, Neigung zu breiten Tempi, sinnliche Klangpracht und feurig-dynamische Expressivität artikuliert, wie dies z. B. in seiner Messias-Interpretation zum Ausdruck kommt, hat auch heute noch die gleiche Daseinsberechtigung wie die etwas übertrieben historisierende Auslegung etwa eines NIKOLAUS HARNONCOURT. Beide Sicht- und Spielweisen haben ihren Reiz und stehen auf hohem spielerischen Niveau, und die Frage, auf wessen Seite sich der Schöpfer dieser genialen Musik schlagen würde, kann wohl niemand beantworten.


    Viele Grüße


    wok