BWV 115: Mache dich, mein Geist, bereit
Kantate zum 22. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 5. November 1724)
Lesungen:
Epistel: Phil. 1,3-11 (Dank und Gebet des Paulus für die Gemeinde in Philippi)
Evangelium: Matth. 18,21-35 (Von der Vergebung: Das Gleichnis vom hartherzigen Schuldner)
Sechs Sätze, Aufführungsdauer: ca. 22 Minuten
Textdichter: unbekannt, inspiriert aber vom titelgebenden Choral
Choral (Nr. 1 und 6): Johann Burchard Freystein (1695)
Besetzung:
Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Traversflöte, Oboe d’amore, Horn, Violoncello piccolo, Violino I/II, Viola, Continuo
1. Choral SATB, Traversflöte, Oboe d’amore, Horn, Streicher, Continuo
Mache dich, mein Geist, bereit,
Wache, fleh’ und bete,
Dass dich nicht die böse Zeit
Unverhofft betrete;
Denn es ist
Satans List
Über viele Frommen
Zur Versuchung kommen.
2. Aria Alt, Oboe d’amore, Streicher, Continuo
Ach schläfrige Seele, wie? ruhest du noch?
Ermunt’re dich doch!
Es möchte die Strafe dich plötzlich erwecken
Und, wo du nicht wachest,
Im Schlafe des ewigen Todes bedecken.
3. Recitativo Bass, Continuo
Gott, so vor deine Seele wacht,
Hat Abscheu an der Sünden Nacht;
Er sendet dir sein Gnadenlicht
Und will vor diese Gaben,
Die er so reichlich dir verspricht,
Nur off’ne Geistesaugen haben.
Des Satans List ist ohne Grund,
Die Sünder zu bestricken;
Brichst du nun selbst den Gnadenbund,
Wirst du die Hülfe nie erblicken.
Die ganze Welt und ihre Glieder
Sind nichts als falsche Brüder;
Doch macht dein Fleisch und Blut hiebei
Sich lauter Schmeichelei.
4. Aria Sopran, Traversflöte, Violoncello piccolo, Streicher, Continuo
Bete aber auch dabei
Mitten in dem Wachen!
Bitte bei der großen Schuld
Deinen Richter um Geduld,
Soll er dich von Sünden frei
Und gereinigt machen!
5. Recitativo Tenor, Continuo
Er sehnet sich nach unser’m Schreien,
Er neigt sein gnädig’ Ohr hierauf;
Wenn Feinde sich auf unser’n Schaden freuen,
So siegen wir in seiner Kraft:
Indem sein Sohn, in dem wir beten,
Uns Mut und Kräfte schafft
Und will als Helfer zu uns treten.
6. Choral SATB, Traversflöte, Oboe d’amore, Horn, Streicher, Continuo
Drum so lasst uns immerdar
Wachen, flehen, beten,
Weil die Angst, Not und Gefahr
Immer näher treten;
Denn die Zeit
Ist nicht weit,
Da uns Gott wird richten
Und die Welt vernichten.
Eine klassische Choralkantate Bachs aus dessen „Choralkantaten-Jahrgang“ von 1724/25:
Im Eingangschoral übernimmt in gewohnter Weise der Sopran den Vortrag der Choralmelodie und wird dabei – auch dies kommt bei Bach häufig vor – von einer Hornstimme unterstützt und verstärkt. Die übrigen instrumentalen und vokalen Stimmen dieses Satzes übernehmen die Aufgabe, diese Melodie zu variieren bzw. harmonisch zu untermauern – der Part der Instrumente (und hier besonders die Holzbläser) steht dabei in reizvollem Kontrast zu den Gesangsstimmen.
Alles in allem eine klassische Choralbearbeitung Bachs, bei der er nach einem Kompositions- bzw. Ausgestaltungsprinzip vorgeht, das er zur Perfektion gebracht hat – so gesehen kann man eigentlich nie genug dieser Choralbearbeitungen von ihm hören...
Sehr stimmungsvoll auch die Kombination von Altstimme und Oboe d’amore (also zweier ungefähr in gleicher Höhenlage angesiedelter Stimmen) in der Arie Nr. 2.
In ähnlich langsamem Tempo ist auch die Arie Nr. 4 gehalten – hier gefällt mir allerdings die instrumentale Begleitung der Gesangsstimme (Sopran) in Form einer Traversflöte und eines von Bach häufiger eingesetzten „Violoncello piccolo“ besonders gut! Ich bin immer wieder fasziniert, welche Kombinationen verschiedener Instrumente und Gesangsstimmen sich Bach so alles hat einfallen lassen – er war ziemlich experimentierfreudig und am Erzielen verschiedenster Klangeffekte offensichtlich sehr interessiert. Er hätte ja auch Woche für Woche in seinen neukomponierten Kantaten nach einem einmal erprobten und bewährten „Schema F“ vorgehen können...
Obwohl alle vier Solisten in dieser Kantate zum Einsatz kommen, müssen sich Tenor und Bass lediglich mit den beiden Secco-Rezitativen zufrieden geben.