Die Bachkantate (166): BWV89: Was soll ich aus dir machen, Ephraim

  • BWV 89: Was soll ich aus dir machen, Ephraim
    Kantate zum 22. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 24. Oktober 1723)




    Lesungen:
    Epistel: Phil. 1,3-11 (Dank und Gebet des Paulus für die Gemeinde in Philippi)
    Evangelium: Matth. 18,21-35 (Von der Vergebung: Das Gleichnis vom hartherzigen Schuldner)



    Sechs Sätze, Aufführungsdauer: ca. 14 Minuten


    Textdichter: unbekannt
    Choral: Johann Heermann (1630)



    Besetzung:
    Soli: Sopran, Alt, Bass; Coro: SATB; Oboe I + II, Horn, Violino I/II, Viola, Continuo





    1. Aria Bass, Oboe I + II, Horn, Streicher, Continuo
    Was soll ich aus dir machen, Ephraim? Soll ich dich schützen, Israel?
    Soll ich nicht billig ein Adama aus dir machen und dich wie Zeboim zurichten?
    Aber mein Herz ist anders Sinnes, meine Barmherzigkeit ist zu brünstig.


    2. Recitativo Alt, Continuo
    Ja, freilich sollte Gott
    Ein Wort zum Urteil sprechen
    Und seines Namens Spott
    An seinen Feinden rächen.
    Unzählbar ist die Rechnung deiner Sünden,
    Und hätte Gott auch gleich Geduld,
    Verwirft doch dein feindseliges Gemüte
    Die angebot’ne Güte
    Und drückt den Nächsten um die Schuld;
    So muss die Rache sich entzünden.


    3. Aria Alt, Continuo
    Ein unbarmherziges Gerichte
    Wird über dich gewiss ergeh’n.
    Die Rache fängt bei denen an,
    Die nicht Barmherzigkeit getan,
    Und machet sie wie Sodom ganz zunichte.


    4. Recitativo Sopran, Continuo
    Wohlan! mein Herze legt Zorn, Zank und Zwietracht hin;
    Es ist bereit, dem Nächsten zu vergeben.
    Allein, wie schrecket mich mein sündenvolles Leben,
    Dass ich vor Gott in Schulden bin!
    Doch Jesu Blut
    Macht diese Rechnung gut,
    Wenn ich zu ihm, als des Gesetzes Ende,
    Mich gläubig wende.


    5. Aria Sopran, Oboe I, Continuo
    Gerechter Gott, ach, rechnest du?
    So werde ich zum Heil der Seelen
    Die Tropfen Blut von Jesu zählen.
    Ach! rechne mir die Summe zu!
    Ja, weil sie niemand kann ergründen,
    Bedeckt sie meine Schuld und Sünden.


    6. Choral SATB, Oboe I + II, Horn, Streicher, Continuo
    Mir mangelt zwar sehr viel,
    Doch, was ich haben will,
    Ist alles mir zugute
    Erlangt mit deinem Blute,
    Damit ich überwinde
    Tod, Teufel, Höll’ und Sünde.






    Das Evangelium für den heutigen Sonntag enthält das bekannte Gleichnis vom hartherzigen Schuldner, dem sein König aus Mitleid sämtliche Schulden erlassen hat und der nun wiederum unmittelbar danach draußen vor dem Palast auf einen Mann trifft, der ihm einen im Vergleich zu seinen eigenen (nunmehr erlassenen) Schulden einen viel geringeren Betrag schuldet. Statt wie der König nun ebenfalls mildtätig zu sein und dem anderen die Schulden zu erlassen, besteht er hartherzig darauf, sein verliehenes Geld zurück zu erhalten und lässt den armen Mann ins Gefängnis werfen. Als der König von diesem Verhalten erfährt, lässt er den Hartherzigen kommen und bestraft ihn für sein unnachgiebiges Verhalten – auch seine eigentlich bereits erlassenen Schulden muss er nun komplett zurückzahlen.


    Das Gleichnis beinhaltet also zum einen die Botschaft des bekannten Sprichworts “Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu!“, zum andern natürlich die zentrale theologische Botschaft von göttlicher Gnade und Vergebung und menschlicher Schuld und Sünde: Auch wenn der sündige Mensch die ihm großzügig verheißene Gnade Gottes eigentlich nicht verdient hat, so darf er doch durch den Opfertod Jesu Christi auf Vergebung seiner Schuld hoffen. Dennoch soll der Mensch auf Erden natürlich nichts unversucht lassen, sich dieser Gnade würdig zu erweisen und seine Dankbarkeit zu zeigen durch Barmherzigkeit, Nächstenliebe und dem sprichwörtlichen “wie auch wir vergeben unser’n Schuldigern“.


    Auf diese Aussage konzentrieren sich alle Dichter, die die Texte für die 3 von Bach vertonten Kantaten (außer der hier besprochenen sind das noch die Kantaten BWV 115 und BWV 55) zum 22. Sonntag nach Trinitatis verfasst haben.


    Die Kantate aus Bachs erstem Leipziger Amtsjahr 1723 beginnt nicht mit einem Chorsatz, sondern mit einer Bibelwort-Arie oder –Arioso (so genau lässt sich diese Zwischenform nicht definieren).
    Interessanterweise gibt es eine ganze Reihe von Kantaten, in denen Bach den ersten (Bibelwort-) Satz dem Solo-Bass überträgt und ihn diesen in freier musikalischer Form als Mischung aus Arie und Arioso – ganz den Vorgaben des jeweiligen Textes folgend – singen lässt (z. B. in BWV 57, BWV 108, BWV 86, BWV 87 oder BWV 88).


    Auch wenn es sich bei dieser Kantate hier nicht um ein Christuswort, sondern um einen Vers aus dem Alten Testament (Hosea, Kapitel 11 Vers 8) handelt, so überträgt Bach dem Bass als traditioneller “Vox Christi“ derartige gewichtige Bibelwortsätze wohl aus diesem Grund eigentlich fast regelmäßig. Es wirkt einfach eindrucksvoller und bedeutungsschwerer, wenn solch ein Text von der tiefen, ehrfurchtgebietenden Stimme eines Basses vorgetragen wird, anstatt z. B. von einem Sopran singenden Chorknaben von 13 Jahren (oder so)... ;)


    Ob Bachs Zeitgenossen noch alles verstanden haben, was in diesem Vers in der Arie Nr. 1 ausgesagt wird? Nicht nur, dass der Vers doch ziemlich aus dem Zusammenhang einer längeren Rede des alttestamentarischen Propheten Hosea herausgerissen ist – auch Luthers Übersetzung war im Jahr 1723 bereits 200 Jahr alt und die Sprache hatte sich seitdem weiterentwickelt. Und selbst wenn damals noch alle Zuhörer verstanden haben, was da vom Bassisten feierlich und bedeutungsschwer vorgetragen wird – mir ging es weitere knapp 300 Jahre später beim Abtippen des Textes so , dass ich eigentlich nur Bahnhof verstanden habe... ?(
    Meine Neugier war geweckt – denn ich wollte schon gerne wissen, was da nun zu Beginn dieser Kantate eigentlich ausgesagt werden soll.
    Eine moderne Übersetzung dieser Stelle (Gute Nachricht Bibel – revidierte Fassung von 1997 der „Bibel in heutigem Deutsch“) brachte dann endlich deutlich mehr Klarheit:


    Zitat

    Gottes Liebe siegt über seinen Zorn
    Doch wie könnte ich dich aufgeben, Efraim, wie dich im Stich lassen? Ich kann dich doch nicht vernichten, Israel, wie die Städte Adma und Zebojim! Mein Entschluss hat sich mir umgedreht, mit aller Macht ist die Reue in mir entbrannt.


    Mit ”Efraim” ist der wichtigste Stamm des alten Nordreichs gemeint, der damit oftmals auch gleichbedeutend für ganz Israel genannt wird.


    Und die Städte Zebojim und Adma lagen wohl in der Nachbarschaft von Sodom und Gomorra und teilten deren Schicksal, indem auch sie aufgrund des sündigen Treibens ihrer Einwohner vernichtet wurden.


    Somit steht der einleitende Bibelwort-Satz quasi als Parallele zum Evangelium des heutigen Sonntags: Gott ist zornig über die sündigen Menschen, seine Liebe zu ihnen ist jedoch stärker als jeder Gedanke an harte Bestrafung.
    Bach hat diesen Satz entsprechend ehrfurchterweckend vertont – es klingt schon beeindruckend, wenn der Bass die Worte des Herrn aus dem Mund des Propheten Hosea verkündet.


    Im Gegensatz zu diesem Satz sind die weiteren Sätze der Kantate (vom kurzen Schlusschoral einmal abgesehen) eher geringstimmig instrumentiert – bis auf die Solo-Oboe in der Arie Nr. 5 werden alle übrigen Sätze nur vom Continuo begleitet. Ein dramaturgisch ebenso einfaches wie sinnfälliges Stilmittel, da so die Bedeutung des einleitenden Bibelwortes umso schwerer und gewichtiger wirkt, während die übrigen Sätze, in denen Furcht, Reue und Hoffnung der Sünder zum Ausdruck gebracht werden, als Kontrast dazu quasi ganz „klein“ und bescheiden daherkommen. Konsequenterweise schweigt der Solo-Bass für den Rest der Kantate – die Rollen der angesprochenen Sünder übernehmen Solo-Sopran und –Alt mit je einem Rezitativ- und Arien-Paar.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)