Die Bachkantate (164): BWV79: Gott der Herr ist Sonn und Schild

  • BWV 79: Gott der Herr ist Sonn und Schild
    Kantate zum Reformationsfest (Leipzig, wahrscheinlich 31. Oktober 1725)




    Lesungen:
    Epistel: 2. Thess. 2,3-8 (Mahnung zur Standhaftigkeit gegen die Widersacher)
    Evangelium: Offenb. 14,6-8 (Das ewige Evangelium: Fürchtet Gott und gebt ihm die Ehre)



    Sechs Sätze, Aufführungsdauer: ca. 17 Minuten


    Textdichter: unbekannt
    Choräle: Nr. 3 Martin Rinckart (1636); Nr. 6 Ludwig Helmbold (1575)



    Besetzung:
    Soli: Sopran, Alt, Bass; Coro: SATB; Traversflöte I + II, Oboe I + II, Horn I + II, Pauken, Violino I/II, Viola, Continuo





    1. Chor SATB, Traversflöte I + II, Oboe I + II, Horn I + II, Pauken, Streicher, Continuo
    Gott der Herr ist Sonn’ und Schild.
    Der Herr gibt Gnade und Ehre,
    er wird kein Gutes mangeln lassen den Frommen.


    2. Aria Alt, Oboe I (oder Traversflöte I), Continuo
    Gott ist uns’re Sonn’ und Schild!
    Darum rühmet dessen Güte
    Unser dankbares Gemüte,
    Die er für sein Häuflein hegt.
    Denn er will uns ferner schützen,
    Ob die Feinde Pfeile schnitzen
    Und ein Lästerhund gleich billt.


    3. Choral SATB, Traversflöte I + II, Oboe I + II, Horn I + II, Streicher, Continuo
    Nun danket alle Gott
    Mit Herzen, Mund und Händen,
    Der große Dinge tut
    An uns und allen Enden,
    Der uns vom Mutterleib
    Und Kindesbeinen an
    Unzählig viel zugut’
    Und noch itzund getan.


    4. Recitativo Bass, Continuo
    Gottlob, wir wissen
    Den rechten Weg zur Seligkeit;
    Denn, Jesu, du hast ihn uns durch dein Wort gewiesen,
    Drum bleibt dein Name jederzeit gepriesen.
    Weil aber viele noch
    Zu dieser Zeit
    An fremdem Joch
    Aus Blindheit ziehen müssen,
    Ach! so erbarme dich
    Auch ihrer gnädiglich,
    Dass sie den rechten Weg erkennen
    Und dich bloß ihren Mittler nennen.


    5. Aria Sopran, Bass, Violino I/II, Continuo
    Gott, ach Gott, verlass’ die Deinen
    Nimmermehr!
    Lass’ dein Wort uns helle scheinen;
    Obgleich sehr
    Wider uns die Feinde toben,
    So soll unser Mund dich loben.


    6. Choral SATB, Traversflöte I + II, Oboe I + II, Horn I + II, (Pauken?), Streicher, Continuo
    Erhalt’ uns in der Wahrheit,
    Gib ewigliche Freiheit,
    Zu preisen deinen Namen
    Durch Jesum Christum. Amen.






    Ob Martin Luther seine berühmten 95 Thesen tatsächlich am 31. Oktober 1517 an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg nagelte, ist unter Historikern umstritten. Fakt ist, dass er seine Thesen zu diesem Zeitpunkt an den mächtigen Albrecht von Brandenburg (den Erzbischof von Magdburg und neuen Erzbischof von Mainz - und damit auch Kurfürst) und weitere Gelehrte schickte. An eine weitere Verbreitung in der Öffentlichkeit hatte Luther offenbar gar nicht gedacht.
    Trotzdem ist damit der 31. Oktober bis heute der Gedenktag an das Ereignis geblieben, das die Reformation letztendlich auslöste – und der im wahrsten Sinne des Wortes plakative Auftakt mit dem Thesenanschlag an die Kirchentür bildete ein markantes Bild hierfür.


    Am Reformationstag gedenkt die protestantische Konfession also ihres Ursprungs und den Umständen ihrer Entstehung – das ist verständlicherweise mit einem gewissen Stolz auf das damals Erreichte verbunden: Erfolgreicher Widerstand gegen mächtige Gegner, ein teilweise radikaler Bruch mit jahrhundertealten kirchlichen Traditionen, die als vom Wesentlichen ablenkend empfunden wurden, etc.


    So überrascht es nicht, dass Bachs musikalische Beiträge zum Reformationsfest (BWV 79 und BWV 80) in diesem Geiste entsprechend festlich und selbstbewusst gestaltet sind: Die Kantaten sind als Danksagung und Lobpreis Gottes konzipiert – sein Beistand hat das Gelingen der Reformation offensichtlich ermöglicht, auf seinen Schutz und seine Gnade vertraut man auch in kommenden Zeiten.


    Die erste erhaltene Reformationsfest-Kantate Bachs datiert (höchstwahrscheinlich) aus dem Jahr 1725. Welche Kantaten er anlässlich dieses Festes in seinen beiden ersten Jahren als Thomaskantor (1723 und 1724) zur Aufführung brachte, ist offenbar nicht bekannt – allerdings weiß man, dass er die Kantate BWV 76 mit ihrem ebenfalls festlich-lobpreisenden Grundton auch anlässlich des Reformationsfestes aufführte (vielleicht erstmals 1724?).


    Die hier besprochene Kantate ist erwartungsgemäß festlich mit zahlreichen Bläserstimmen und Pauken besetzt – die fast obligatorisch mit den Pauken gekoppelten Trompeten fehlen jedoch überraschenderweise. Stattdessen kombiniert Bach meist das Hörnerpaar mit den Pauken – ein mindestens ebenso überzeugender Klangeffekt!


    Der die Kantate einleitende Bibelwort-Chor (Psalm 84 Vers 12) beginnt denn auch mit einer ausführlichen Instrumentaleinleitung, in der die beiden Hörner ein charakteristisches Motiv vorstellen und auch die Pauken eine rhythmisch markante, an einen vorantreibenden Pulsschlag erinnernde Figur beitragen.
    Ab den Worten “Er wird kein Gutes mangeln lassen“ entwickelt Bach eine Chorfuge, nachdem er den Chor die vorherigen Worte in Motettenform hat vortragen lassen.
    Der ganze Satz wirkt dem Anlass entsprechend glanzvoll und freudig – ein wahrhaft prächtiger Lobgesang, der diese Kantate einleitet! :jubel:


    Anlässlich einer Wiederaufführung dieser Kantate um das Jahr 1730 herum hat Bach zusätzlich noch zwei Traversflöten in den Orchestersatz mit aufgenommen.


    In der Arie Nr. 2 gibt es dann auch zwei Besetzungsvarianten: Die Altstimme kann entweder mit einer Solo-Oboe oder –Flöte kombiniert werden, wobei es dem ausgesprochen tänzerischen und leichten Charakter dieser Arie sicher entgegenkommt, wenn man sich für die zartere Flötenstimme entscheidet.


    Im Choral Nr. 3 taucht das charakteristische Hörnermotiv aus dem Eingangschor wieder auf – eine raffinierte Idee Bachs, hier einen thematischen Bogen zu schlagen!
    Der bekannte Choral “Nun danket alle Gott“ kommt als machtvoller und eingängiger Dankes-Hymnus daher und man fühlt sich unweigerlich an Felix Mendelssohns Sinfonie Nr. 2 „Lobgesang“ erinnert, in der dieser Choral ebenfalls eine zentrale Rolle spielt.
    Wenn ich nicht irre, hat Mendelssohn mit dieser “Sinfonie-Kantate“ die Erfindung des Buchdrucks würdigen wollen (ein für die Reformation nicht unwichtiges Ereignis...!) – somit wäre es nicht unvorstellbar, dass er als Bach-Verehrer die hier besprochene Kantate (und den darin verwendeten Choral) mit ihrem Bezug auf das Reformationsfest gekannt und als Inspirationsquelle genutzt hat. Interessant ist, dass es von Mendelssohn eine eigene "Reformations-Sinfonie" gibt, die wiederum den Choral “Ein feste Burg ist unser Gott“ zum Thema hat – dies führt dann quasi direkt zur anderen Reformations-Kantate Bachs, BWV 80...


    Das Rezitativ Nr. 4 enthält nun deutliche Bezüge zu den Grundlagen reformatorischer Theologie und auch einen diplomatischerweise nicht konkreter werdenden Seitenhieb auf diejenigen, die noch “zu dieser Zeit an fremdem Joch aus Blindheit ziehen müssen“... ;)


    Besonders markant und eingängig finde ich das als Aria Nr. 5 bezeichnete Duett zwischen Sopran und Bass – ein erregter Mittelteil (passend zum erwähnten „Toben der Feinde“) mit einigen Koloraturen für die Singstimmen betont eigentlich die harmonische Stimmung zu Beginn und am Ende dieses schönen Satzes nur umso mehr.


    Der Schlusschoral ist zwar – wie meist – knapp gefasst und in schlichter Vierstimmigkeit des Chores gehalten, jedoch setzen die beteiligten Hörner (und Pauken) dem Ganzen ein festlich-strahlendes Glanzlicht auf und rufen die Stimmung des Eingangssatzes noch mal zurück.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)