Improvisation und klassische Musik

  • Hallo!


    Ich möchte mal das Interesse auf ein Gebiet lenken, das jahrhundertelang fester Bestandteil fast aller Bereiche der klassischen Musik war, aber mittlerweile auf nur wenige Musikgebiete überhaupt „zurückgedrängt“ wurde: die Improvisation.


    „Früher“ mußten alle großen Musiker improvisieren können. Das war Handwerkszeug und man hatte auch ausgiebig Gelegenheit dazu (bspw. Generalbassspiel, Verzierungen, Kadenzen in Solokonzerten/Arien oder gar ganze Programmpunkte waren als Improvisationen gedacht).


    Aber heute?


    Während Improvisation immer noch ein wesentlicher Bestandteil von Weltmusik und natürlich Jazz ist, sieht es im Bereich der Klassik anders aus: Improvisation wird kaum noch „gelernt“; niemand „traut“ sich mehr zu improvisieren und es werden ausgeschriebene Kadenzen gespielt und/oder eigene Kadenzen sorgfältig einstudiert. Zufälle sind unerwünscht, alles muss vorhersehbar und berechenbar sein und wehe, man spielt etwas anderes als die großen meister es geschrieben haben...


    Ausnahmen davon findet man (erst seit einigen Jahren) im Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis. Aber Solisten, die während „klassischen“ Konzerten improvisieren oder gar Improvisations-Programmpunkte sind mittlerweile eher Exoten.


    Ausschließen aus der Diskussion möchte ich den große Bereich der (liturgischen) Orgelmusik. Hier war ununterbrochen eine große Improvisationskultur- und notwendigkeit vorhanden, die so manch wundervollen Meister hervorbrachte. Für diese „Improvisations-Bastion“ wäre ein eigener Thread angebracht...


    Was sind eure Meinungen dazu? Wie steht ihr zu Improvisationen im Konzert?! Wieso ging es so den Bach hinunter damit?


    Gruß
    Karsten

  • Hallo Karsten,


    zunächst weise ich noch darauf Hin, daß es bereits einen ähnlichen, aber durchaus nicht gleichen, Thread bereits gibt:


    Kadenzen in Klavierkonzerten


    Zum angesprochen Thema möchte ich sagen, daß es sicher immer schon so war, daß sich Interpreten mit der freien Improvisation schwergetan haben, sonst wären nicht so viele notierte Kadenzen Mozarts und Beethovens überliefert.
    Ein Interpret muß ja nicht unbedingt kompositorische Fähigkeiten aufweisen..


    Dazu kommen aber sicher noch einige weitere Probleme unserer Zeit. Eines davon ist die Schallplatte (bzw. CD etc).
    Früher war das Publikum nicht so verwöhnt in Bezug auf Perfektion, ja generell entfielen die Vergleiche. Ein Klavierkonzert Beethovens beispielwesie hörte man vielleicht 3 oder viermal in seinem Leben. Man erfreute sich an neuen Kadenzen, egal ob die jetzt
    besonders originell waren oder nicht.
    Mit Einführung der Schallplatte, insbesondere der Langspielplatte, und besonders auf die letzten Jahre bezogen, war alles ganz anders:
    Jeder ernste Klassiksammler hat mindestens 3 Versionen der berühmten "Schlachtrösser" der Konzertliteratur in seiner Sammlung, weitere kennt er von Freunden. Er erwartet daher eine gewisse Perfektion einerseits, und verlangt andererseits, daß wenn der Interpret eine eigene Kadenz improvisiert, daß die zumindest gleichwertig ist, mit jenen von Mozart, Beethoven und anderen Größen der Vergangenheit.
    Dieser Anspruch ist aber schwer zu erfüllen, daher scheuen sich viele Interpreten , solche "Experimente" zu machen, spielen sie doch auch live im Konzert in Konkurrenz zu ihren eigenen Tonaufnahen (Schon Joachim Kaiser hat vor Jahrzenten dieses Problem kurz erörtert, und natürlich andere vor ihm.


    Wie gesagt gehört zur Kunst der Improvisation ein eigenes Talent,
    ein solches hat beispielsweise Robert Levin. Klugerweise erklärt er auch, daß seine Improvisationen (auch jene bei Schallßplattenaufnahmen) ein spontanes einmaliges Geschehen sind, ein Unikat also, nicht wiederholbar, und deshalb geht man an eine solche Aufnahme mit anderen Erwartungen heran.


    Freundliche Grüße aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !




  • Entschuldigung, aber das ist ein Argument nach dem Motto: Abgesehen von Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, vielleicht noch Gluck, haben alle Komponisten der Wiener Klassik schlechte Musik geschrieben, sonst wären ihre Werke nicht in Vergessenheit geraten. Ich glaube nicht, dass Du dem zustimmen könntest. Deshalb bitte ich dich, ein bisschen mehr zu differenzieren. Die Improvisation war ein zentraler Aspekt der historischen Aufführungspraxis, das hat die Musikwissenschaft anhand des Quellenstudiums zur Genüge belegt. Natürlich gab es auch Musiker, die nicht improvisieren konnten - und für diese wurden die Kadenzen notiert und publiziert, weil Kadenzen zu einer "kompletten" Komposition eines Instrumentalkonzertes gehörten.

    Gruß,
    Gerrit

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Zum angesprochen Thema möchte ich sagen, daß es sicher immer schon so war, daß sich Interpreten mit der freien Improvisation schwergetan haben, sonst wären nicht so viele notierte Kadenzen Mozarts und Beethovens überliefert.


    Also so viele sind es nun auch wieder nicht, immerhin gibt es von manchen Konzerten gar keine originalen Kadenzen. Dennoch war Improvisation damals fester Ausbildungsbestandteil und beispielsweise in vielen alten Klavierschulen finden sich Kapitel über das "Fantasieren"...


    Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Ein Interpret muß ja nicht unbedingt kompositorische Fähigkeiten aufweisen..


    Natürlich nicht, Komposition ist aber eben nicht gleich Improvisation, was heute eben vielen einfach nicht bewusst ist (s.u.). Klar, zum guten Improvisieren gehört eine solide theoretische Grundlage (Harmonie-,Formenlehre, Musikgeschichte...), die auch Bestandteil vom Kompositionsunterricht ist.
    Aber Improvisation ist eben "nur" - wie es der berühmte französische Organist Pierre Cochereau formulierte - "die Kunst der Illusion [einer Komposition]".


    Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Jeder ernste Klassiksammler [...] erwartet daher eine gewisse Perfektion einerseits, und verlangt andererseits, daß wenn der Interpret eine eigene Kadenz improvisiert, daß die zumindest gleichwertig ist, mit jenen von Mozart, Beethoven und anderen Größen der Vergangenheit.


    Also jedem "ernsten Klassiksammler" mit dieser Einstellung/Erwartung an eine Improvisation spreche ich zu einem gewissen Grad musikalische Kompetenz ab und mir fällt es dann schwer, ihn ernst zu nehmen...


    Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Wie gesagt gehört zur Kunst der Improvisation ein eigenes Talent,
    ein solches hat beispielsweise Robert Levin. Klugerweise erklärt er auch, daß seine Improvisationen (auch jene bei Schallßplattenaufnahmen) ein spontanes einmaliges Geschehen sind, ein Unikat also, nicht wiederholbar, und deshalb geht man an eine solche Aufnahme mit anderen Erwartungen heran.


    Das ist ja gerade das bedauerliche, das Levin solche "Allgemeinplätze" noch extra ausführlich in Booklets darlegen muss. Eine Improvisation will, kann und soll gar nicht an eine Komposition heranreichen (wenn auch einige Improvisatoren dies als Ideal proklamiert haben und diesem Ideal erstaunlich nah herangekommen sind) oder gar damit verglichen werden. Von daher ist es eben völlig verfehlt und zeugt von Unkenntnis (oder Ignoranz), wenn man den gleichen Maßstab ansetzt.


    Die Einzigartigkeit, die "Momentaufnahme" die eine Improvisation ist, fordert natürlich auch die Frage heraus, ob und inwieweit Improvisationen auf Tonträger überhaupt etwas zu suchen haben, aber da kann man sich ja schon bei Literaturaufnahmen streiten. Allerdings habe ich mich ja nicht nur auf Improvisation und Tonträger beschränkt, sondern es gibt ja noch das Live-Erlebnis im Konzert...


    Gruß
    Karsten

  • Salut,


    schade... oder gut!? Karsten hat eigentlich fast wörtlich alles gesagt, was ich schreiben wollte!


    Trotzdem bleibt bei mir die Frage offen, ob alles, was z.B. Mozart improvisierte, wirklich Improvisation war, wo er doch sowieso millionen Partituren im Kopf hatte...


    viele Grüße


    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

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  • Zitat

    Original von Ulli
    Trotzdem bleibt bei mir die Frage offen, ob alles, was z.B. Mozart improvisierte, wirklich Improvisation war, wo er doch sowieso millionen Partituren im Kopf hatte...


    Nun, wissen werden wir das wohl nie *g*


    Ich persönlich glaube nicht, dass Mozart es nötig hatte, irgend eine "Datei" im Kopf abzurufen und diese Komposition, die schon in seinem Kopf existierte, dann "abzuspulen". Mozart wusste sicherlich auch über die Unterschiede Improviosation und Komposition, wenn seine Improvisationen sicher "genial" waren. Aber er hat ja auch beim Komponieren mal etwas verbessert und durchgestrichen ;)


    Wann ist denn für Dich eine Improvisation keine Improvisation mehr?


    Gruß
    Karsten

  • schwieriges Thema...


    meine Bereiche der improvisationsmöglichkeiten sind:


    liturgischen Improvisation (die in der Katholischen Kirche oft nur als Überbrückung liturgischer Handlungen und Ausfüllen der Stille - kurz Hintergrundgeräusch ist)


    Generalbaßbegleitung - verlangt viel Übung und macht irgendwann auch viel Spaß ;)

    das Begleiten von Operetten- und Chansons - nicht der strenge klassische Bereich, aber meistens mit klasisch ausgebildeten Sängern...


    und die Popularmusik - habe 3 Monate in einem hotel gearbeitet...


    Aber auch beim Spielen eines Klavierauszuges erlaube ich mir immer wieder gewisse Freiheiten...das gilt z.B: für Instrumentalkonzerte, für die 4händigen Fassungen von Klavierkonzerten, vor allem für Opern...


    ich möchte es als Grenzbereich der Improvisation bezeichnen, wenn man sich bewußte Freiheiten gegenüber dem Notentext herausnimmt. Z.B. in der Kammermusik gibt es unheimlich viel schlecht gesetztes Zeug, wenn Spezialkomponisten (Posaune...) eine Klavierbegleitung geschrieben haben... das nehme ich nicht sehr ernst...


    ich sehe hier eine Analogie zur Zusammenarbeit Brahms - Joachim; dort wo Brahms nicht weiterwußte - ließ er sich beraten....immerhin...Brahms!


    heutzutage komponiert man besser nur für Instrumente, die man auch wirklich beherrscht... (naja, sehr provokant...)


    Selbstredend mache ich das bei keiner Sololiteratur


    einen anderen Grenzbereich sehe ich in der Barockmusik bei Verzierungen., bei der Gestaltung wiederholter Teile, bzw. kleinen Kadenzausschmückungen...

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)

  • Salut, Quastenrolf,


    Zitat

    Aber auch beim Spielen eines Klavierauszuges erlaube ich mir immer wieder gewisse Freiheiten...das gilt z.B: für Instrumentalkonzerte, für die 4händigen Fassungen von Klavierkonzerten, vor allem für Opern...


    die heutigen Klavierauszüge animieren einfach zur Improvisation, weil irgendwelche Vollidioten einfach die Gesamtpartitur in zwei Zeilen gepresst haben. Das ist grober Unfug und gehört verboten... man schaue sich z.B. Mozarts eigene Klavierauszüge zu Opern an (es sind bedauerlicher Weise wenige erhalten, z.B. Figaro). Es ist eine Kunst für sich, einen spielbaren, brauchbaren (also begleitenden) und klanglich vollwertigen Klavierauszug zu erstellen!


    Zitat

    heutzutage komponiert man besser nur für Instrumente, die man auch wirklich beherrscht... (naja, sehr provokant...)


    Ich finde das nicht provokant, aber auch nicht ganz vollständig. Ich akzeptiere durchaus Kompositionen von Komponisten, die ein Instrument nicht selbst spielen können, aber sich eingehend mit dem/den Instrument/en beschäftigen oder beschäftigt haben. Bei den "Klassikern" konnte auch nicht jeder Komponist jedes Instrument spielen, aber er kannte sich eben aus...


    Cordialement,
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Merci Ulli


    nicht gedacht, daß es so was gibt!
    werd mich auf die Suche begeben...
    meinst du die Bärenreiterausgabe - bei Notationsprogrammen gibt es eine "Klavierauszugfunktion" - wahrscheinlich haben sie's so gemacht.


    erste Geige
    da wär noch Platz
    zweite Geige
    Ok paßt schon... :]


    hast du zufällig Infos über das mechanische Orgelwerk, auf dem die f-Moll Fantasie (KV608 ) gespielt wurde...- welche Register? - gabs einen 16' Baß?...


    danke


    Wolf-rolf...

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)

  • Salut, Quastenrolf,


    Zitat

    werd mich auf die Suche begeben...


    In der NMA Bärenreiter sind sie enthalten, es sind aber nur sehr, sehr, sehr (Periode) wenige. Wenn ich Zeit habe, suche ich mal heraus, welche...


    Zitat

    hast du zufällig Infos über das mechanische Orgelwerk, auf dem die f-Moll Fantasie (KV608 ) gespielt wurde...- welche Register? - gabs einen 16' Baß?...


    Wir hatten hier bereits die Rede davon. Wenn ich mich recht entsinne, wurde das Originalorgelwerk zerlegt und verschwand... ich werde versuchen, näheres herauszufinden (notfalls nochmals erinnern).


    Cordialement,
    Ulli

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    (Vincenzo Geilomato Hundini)

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  • Salut, Quasti,


    Klavierauszüge von der eigenen Hand Mozarts sind wie folgt vorhanden:


    Die Entführung aus dem Serail


    • Arie „Martern aller Arten“ – leider fragmentarisch erst ab Takt 226 vorhanden
    • Arie „Welche Wonne, welche Lust“ – leider fragmentarisch nur bis Takt 29 vorhanden


    Beide liessen sich aber relativ simpel komplettieren...


    Le Nozze di Figaro


    • Arie „Non so piú cosa son, cosa facio“ – tutto completto inkl. Violine (solo)
    • Arie „Un moto di gioia“ – tutto completto


    Ich besitze auch noch einen handschriftlichen Klavierauszug aus der Zeit um 1800 „Der Hölle Rache“, allerdings in c-moll statt d-moll. Dieser Klavierauszug ist dermassen gut, dass er meiner Meinung nach von Mozart stammt (nicht jedoch die in meinem Besitz befindliche Abschrift). Kann ich Dir gerne irgendwie als Kopie oder capella-Datei zukommen lassen.


    Ich bete jeden Tag, dass sich weitere Klavierauszüge Mozarts, welche zu den Proben benutzt wurden, auffinden.


    Cordialement,
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Salut, tastenwolf,


    gerade entdecke ich noch folgende Briefstelle W. A. Mozarts vom 28. Dezember 1782 [gerichtet an den Vater]:


    [...]Nun vollende ich auch den klavierauszug meiner oper, welcher in Stich herauskommen wird, und zugleich arbeite ich an einer Sache die sehr schwer ist [...] das aber ist ein geheimnüss [...]


    Gemeint sein kann nur Die Entführung aus dem Serail... ich bleibe am Ball.


    Falls Du Englisch kannst, kannst Du hier etwas über Mozarts Arbeit an dem Klavierauszug in Erfahrung bringen (ich verstehe es bedauerlicher Weise nicht sehr gut). [Alfred, ist das genehmigt???]


    Cordialement,
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
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  • Ich GLAUBE, daß Mozart gerade bei Klavierkonzerten selbst improvisiert hat;nämlich die Kadenzen.


    Sonst hätten wir doch jetzt mehr Kadenzen zu seinen Klavierkonzerten auf Noten,oder?


    Gerade die Kadenzen sind es doch gewesen,wo Mozart mal zeigen konnte,daß er auch virtuos agieren kann.


    Aber wie Karsten schon sagte:


    Genau wissen werden wir das wohl nie.


  • Salut,


    wir "wissen" es durch dem Umkehrschluß. Hinter dierem Link verbirgt sich eine Liste aller Mozartischen [Eigen-]Kadenzen. Es lässt darauf schliessen, dass Mozart zwei Gründe hatte, Kadenzen aufzuschreiben:


    1. Das jeweilige Konzert war für eine bestimmte Solistin komponiert, die nicht fähig war, selbst zu komponieren,
    2. Das Konzert erschien im Druck.


    Ob resp. dass Mozart Klaviervirtuose war, habe ich bereits in diesem Thread ausgeführt.


    Trés amicalement
    Ulli

    Die Oper muss Tränen entlocken, die Menschen schaudern machen und durch Gesang sterben lassen.
    (Vincenzo Geilomato Hundini)

  • Wo bin ich der Improvisation begegnet?


    Ich kann mich an ein Orgelkonzert erinnern. Der Organist spielte im ersten Teil Orgelkompositionen. Nach der Pause forderte er das Publikum auf, ihm Stücke zu nennen, über die er improvisierte.


    Eine Pianistin ging in einem Konzert gleich vor. Auch spielte sie im Stil einer gewissen Epoche.


    Der Jazzmusiker Keith Jarrett hat grossangelegte Klavierimprovisationen gespielt, die auf CDs dokumentiert sind. Das bekannteste ist das Köln Concert.


    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




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  • Es gibt nicht nur den improvisierenden Interpreten (auch wenn verschwindend gering mittlerweile) mit Keith Jarrett als Ausnahmeerscheinung oder Herbert Henck, der mit seinen Festeburger Improvisationen hier auch Maßstäbe setzte.


    Komponisten (/Interpreten) haben hier auch gewirkt. Mozart und Beethoven schrieben für den weniger inspirierten Gebrauch Kadenzen auf. Auch Alkan tat das für Beethoven Konzerte....


    Man sieht (hört) aber auch einigen Kompositionen das Entstehen aus Improvisationen an, oder zumindest das beim Komponieren improvisierende Begleiten.


    Bei Scelsi ist das bekannt. Er hat viele seiner Werke letztendlich nicht selbst notiert.


    Ich hörte gerade die berühmten Variationen von Frederic Rzewski "The people United". Nuss hat u.a. solche Schwierigkeiten mit der Interpretation , weil Improvisation hier sicher ein bedeutender Teil der Inspiration ist und Rzewski selbst ein bedeutender Pianist war!


    https://www1.wdr.de/radio/wdr3…frederic-rzewski-100.html



    Hier die Einspielung von Igor Levit



    und hier spricht Levit über Variationen


  • Eine weitere Variation, der man das Improvisierte anhören kann (Selbstverständlich nur beim Beherrschen der Improvisationskunst :)) nicht ohne vernehmlichen Humor ...


    Frederic Rzewski The Housewife's Lament


  • Zum Abschluss eine von Frederic Rzewski eingespielte Beethoven Sonate mit zum teil improvisierten Kadenzen ..... :)



  • Mit der nächsten Vorstellung kommen wir in einen Grenzbereich. Das Improvisieren hat mittlerweile leider der Jazz übernommen. Ich habe früher mla mit ein paar klassichen Pianisten gesprochen, die das auch bedeuerlich fanden, aber denen nach eigener Aussage das Rüstzeug fehlte für "hochwertige" Improvisationen ....


    Nichtsdestotrotz ist es ein spannendes Gebiet und Komponisten wie Mozart, Beethoven, Alkan, Liszt, (Brahms), Rachmaninoff aber wie oben auch erwahnt Rzewski waren herbvorragende Improvisatoren. Beim Orgelspiel habe ich das bei einem Kirchenbesuch vor ein paar Jahren noch live erlebt ....


    Also kurz gemacht! Das Michael Wollny Trio benutzt sehr häufig klassische Werke als Auslöser für die dann eben doch nicht ganz freien Improvisationen, eine spannende Sache. Ich möchte das Album "Oslo" vorstellen. Hier hat Wollny in Oslo ein klassische Blasensemble gefunden, was sich mit Interesse für Improvisationen gemeldet hatte und tatkräftig auf dem Album unterstützt.




    Michael Wollny Trio

    Norwegian Wind Ensemble


    improvisieren über


    Einojuhani Rautavaara Cantus Arcticus

    Paul Hindemith aus Ludu tonalis (Interludium)

    Claude Debussy Nuits blanches

    Gabriel Fauré Klaviertrio Op. 120 (Andantino)


    AD: 2017, Oslo








    und hier ein Konzert des Trios, wohl in Rahmen seines Albums Nachtfahrten. Tim Lefebvre am Bass ist nicht Standardbesetzung.




    und hier das passende Album



  • Unser werter Administrator Alfred_Schmidt machte mich in Klavierkonzerte des 20. und 21. Jahrhunderts auf diese Aufnahme aufmerksam. Es handelt sich um Klavierkonzerte des holländischen Jazz-Pianisten Rembrandt Frerichs.



    Die Werke klingen apart, was nicht zuletzt an der Besetzung liegt. Klavier, klassisches Streichquartett (Alma Quartett) Bass und Schlagzeug. Die musikalische Spannung entspringt nicht zuletzt dem Umstand, dass die Almaten ein Spin-Off des Concertgebouw Orchesters sind und normalerweise mit improvisiertem Jazz nichts zu tun haben. Das Werk ist eine Mischung aus Durchkomponierten und definitiv Improvisierten. Frerichs möchte die Wirkung des Auditoriums mit auffangen.


    Zitat von booklet


    Rembrandt: “I want to take the audience into my ‘Black page / white page’ approach, which is to say that the listener is aware that the classical musicians on stage have an actual part with black dots on paper. I, on the other hand, have a completely blank page. I re-imagine the conversation with the orchestra each concert, providing musical commentary and a counterpoint, as on ‘Cadenza 2’ from the first piano concerto. Classical pianists play from a score. With my piano concerto, I take a clear stand in order to shake up performance practice by involving the audience in the creation process. In doing so, I am following the practice of both Mozart and Beethoven, who usually did not write out their piano parts either: they knew the parts of all the other instruments by heart but only created their parts during the concert.


    Hier ein kleines Video zur Aufnahme



    Ein paar Sätze aus dem ersten Konzert, das explizit Kadenzen ausweist




    und noch ein paar Auschnitte aus den Aufnahmesessions.



    Für Audiophile bietet die Aufnahme Genuss auf allerhöchstem Niveau. Selten ein so ausgewogenes Raumbild erlebt. Das Label TRPTK schreibt sich das auf seine Fahnen.


    Zitat von booklet


    The basis for all our recordings is our Optimised Omnidirectional Array (OOA) of microphones, which I developed for my Master’s Degree in Audio Engineering in 2013. The aim of OOA is to create a truly accurate image of the soundstage, while retaining uncoloured transparency in the tonal characteristics of the recording. This means, in musical terms, that every little detail of the original performance and its acoustic surroundings is accurately recorded, and perfectly reproduced

    Für unsere Technik-Nerds (;)) ist es vielleicht interessant, dass das Aufnahme-Studio kein Geheimnis aus der verwendeten Technik macht. Mein persönlicher Eindruck ist, dass man hier mit 50 Euro nicht fündig wird ....

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  • Die Technik der Improvisation findet man heutzutage tatsächlich fast nur noch im Jazz. Erstens gehört sie leider nicht zur klassichen Ausbildung, auf der anderen Seite scheint es manchmal auch so, als sei das sogenannte klassich gebildete Publikum nicht bereit, eine Improvisation über die Werke des geliebten Komponisten zu akzeptieren. Nicht selten liest man, dass man damit dem Werk nicht gerecht würde. Oder man fragt sich, wer das nun komponiert hat ... Hier wird Musik nicht als Prozess aufgefasst, was sie in meinen Augen zumindest sehr stark ist ...


    Die junge japanische Pianistin und Komponistin Hiromi Uehara, oder auch einfach Hiromi, hat eine klassiche Ausbildung wohl abgebrochen, um Jazz-Klavier zu lernen. Ihr erstes Album erschien 2003, da war sie 23. Sie liebt die Improvistion und hat seitdem mit vielen Größen des Jazz gespielt. Es gibt ein schönes Doppelalbum, wo sie live mit Chick Corea improvisiert ...


    Hier hören wir sie mit Improvisationen über Pachelbels unglaublich beliebten Kanon



    und hier mit einer Rhapsodie in vielen Farben ... 8-)



    Leider ist die Aufnahmequalität schlecht. Auch Tüten hört man manchmal knistern ... Gott sei dank knistert hier noch anderes ...


    Sie ist offensichtlich eine begnadete Pianistin. Hier spricht sie kurz für Klickklack, dem Magazin von Sol Gabetta


  • Es gibt ja viele Komponisten, die sich mit Improvisation innerhalb ihrer Kompositionen beschäftigen, bspw. bei Bernhard Lang oder Denys Bouliane kann man das auch ganz gut nachvollziehen, insbesondere, wenn es "jazzig" wird.

  • Es gibt ja viele Komponisten, die sich mit Improvisation innerhalb ihrer Kompositionen beschäftigen, bspw. bei Bernhard Lang oder Denys Bouliane kann man das auch ganz gut nachvollziehen, insbesondere, wenn es "jazzig" wird.

    Ups, jetzt erst gesehen. Sorry. Kannst Du Kompositionen nennen, die diese Elemente beinhalten, insbesondere wenn es jazzig wird :-)

  • Folgendes von Lang kenne ich nicht:

    DW14 für Saxophon, Jazztrio und Orchesterloops [40′] (2004)

    Aber ich empfinde den 2. Akt von

    Das Theater der Wiederholungen, Musiktheater, UA Graz 2003 [110′] (2000–02)

    auch als sehr jazzig.

    Bei Bouliane:

    Une soirée Vian, Meta-Kabarett für Sopran, Bariton, Instrumente und Live-Elektronik, 1990–91

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  • Der bekannte, wenn auch nicht wenig polarisierende, Pianist Friedrich Gulda hat sich etwas keck zur Bedeutung der Improvisation geäußert




    Ich zitiere aus dem Booklet zu seinen Klavierwerken


    Zitat von Thomas Knapp aus dem Booklet


    Überhaupt sind fast alle Werke Guldas ohne improvisatorische Kenntnisse nicht spielbar, um sie, mit Guldas Worten, „von den Nichtskönnern fernzuhalten“.


    Das sollte natürlich die "Nichtskönner" nicht abhalten, diese interessanten Stücke zu spielen. Man darf sich natürlich nicht von solchen Vorstellungen des Komponisten gängeln lassen :saint:

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