Gustav Mahler: 3. Sinfonie d-moll - von Ingeborg Bachmann aus gesehen

  • Hallo, liebe Musikfreunde,


    Gustav Mahler (1860 - 1911) hat die 3. Sinfonie 1893 - 96 in Steinbach am Attersee komponiert. 1897 verließ er Hamburg und wurde Direktor der Wiener Hofoper. Die vollständige Uraufführung erfolgte erst 1902 in Krefeld, also kurz nach seiner Hochzeit mit Alma Schindler. In dieser Zeit war die 5. Sinfonie bereits weitgehend abgeschlossen.


    Die Sinfonie ist für extreme Maße und ihren geradezu kosmischen Anspruch bekannt. In einem Brief an seine damalige Freundin Anna von Mildenburg, die sich offenbar während seines Rückzugs in das Komponierhäuschen von ihm vernachlässigt fühlte, bezeichnet er die entstehende Sinfonie als "ein so großes Werk, in welchem sich in der Tat die ganze Welt spiegelt - man ist sozusagen selbst nur ein Instrument, auf dem das Universum spielt". Zugleich hielt er sie für "das Unbekümmertste, was ich je geschrieben habe". Märsche ziehen hindurch, Kirmes-Musik ertönt, Posthorn-Soli stören die Tierwelt auf, und eine gigantische Entwicklung führt von der zyklopischen Welt der Steine und Berge bis zu dem, was ihm die Liebe erzählt, also ein alchemistisches Konzept umfassender Naturphilosophie. Stimmung und Themen des Jugendstils dieser Jahre kurz vor 1900 sind unverkennbar.


    Um mich diesem Werk zu nähern, wähle ich mit Ingeborg Bachmann eine bewusst befremdende Sicht. In ihrem späten, 1968 im "Kursbuch" veröffentlichten Gedicht "Enigma" zitiert sie wörtlich aus dem 5. Satz. Das war der Ausgangspunkt, um nach weiteren Anklängen zu suchen. Bei der Textwahl und insbesondere den zahlreichen Querbezügen und Quellen half die gründliche Studie "Es gibt für mich keine Zitate" von Joachim Eberhardt (Tübingen 2003). Damit ist natürlich nicht gemeint, dass Bachmann alle ihre Aussagen zur Musik auf diese Sinfonie bezogen hat, sondern umgekehrt soll entlang von Mahlers Musik ein innerer Zusammenhang in den Äußerungen von Bachmann gefunden werden.



    Attersee mit Höllengebirge, an dessen Fuß das Komponierhäuschen steht


    Satz 1 und 2, "blühende Steine"


    Die Sätze 1 ("Pan erwacht. Der Sommer marschiert ein") und 2 ("Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen") bilden für mich eine Einheit, auch wenn Mahler sie durch eine lange Pause trennte und dem ersten Satz die Sätze 2 - 6 als zweiten Teil der Sinfonie gegenüberstellen wollte. Die Bergwanderung führt durch unwirtliche Gegend auf eine blühende Wiese. Der Blick in die Ferne und auf das ungefesselte Wirken der Naturelemente schlägt um, und was vorher kalt und starr war, beginnt zu blühen und findet zu einem tänzerischen Rhythmus, der an ländliche Bauernmusik denken läßt.


    Dem entspricht eine innere Entwicklung. Paul Celan hat das Bild der blühenden Steine in dem Gedicht "Corona" aus der Sammlung "Mohn und Gedächtnis" (1952) geprägt. Das Gedicht beschreibt eine Liebesgeschichte und schließt mit den Zeilen:


    Corona


    "...
    Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
    daß der Unrast ein Herz schlägt.
    Es ist Zeit, daß es Zeit wird.


    Es ist Zeit."


    Ingeborg Bachmann übernimmt das Bild 1956 in ihrem Essay "Musik und Dichtung": "So müßte man den Stein aufheben können und in wilder Hoffnung halten, bis er zu blühen beginnt, wie die Musik ein Wort aufhebt und es durchhellt mit Klangkraft."


    Und ähnlich glaube ich, dass für Mahler die Darstellung der Entwicklung der Natur, des Übergangs von der geologischen zur pflanzlichen Welt, ein Bild war für das Entstehen von Zuneigung, Wärme und erfüllter Zeit. Celan schrieb ein Liebesgedicht. Bei Mahler sind im ersten Satz bereits die Motive enthalten, die schließlich im letzten Satz wiederkehren, wenn die Sprache der Liebe ertönen soll.


    Die ersten beiden Sätze zeigen sowohl die Entstehung der Musik aus den Urgeräuschen der Welt wie das elementare Wirken der Musik. Die Elemente erklingen und geradezu unbehauen entstehen daraus die Akkorde und Rhythmen, von denen zugleich das Chaos der Urelemente gebändigt und in Ordnung gebracht wird.


    Diese Sinfonie ist von unendlichem Optimismus erfüllt. Später wird sich bei Mahler offenbaren, wie die Urgewalt der Musik immer wieder hervorbrechen und in umgekehrter Richtung alle Ordnung zerstören und auflösen kann.


    Von ähnlichem Optimismus lebt der frühe Essay von Ingeborg Bachmann. Auch sie musste später einsehen, dass die Worte nicht nur auf ihre Erlösung durch Musik warten, sondern dass schließlich erst die schöne Musik verfehlt zu werden droht und mit ihr die Sprachfähigkeit, das erlösende Märchen erzählen zu können.


    Satz 3, der Dank der Nachtigall


    Dieser Satz ist die Krise der Sinfonie. Hermann Scherchen hat 1919 in der "Freien Deutschen Bühne" einen kurzen Text zu dieser Sinfonie veröffentlicht, "Gustav Mahler - der Musiker-Philosoph", die im Booklet von Tahra auf englisch veröffentlicht ist. Dort schreibt er:


    "In the midst of the babble of the animals, suddenly one hears far away the 'post-horn': this is Man stepping out from the Invisible. Mahler then takes us back to substance: nature starts singing its own song. But it is no longer the elemental forces which seek to express themselves: as if paralysed, they lie still in the cool of the nigth."



    Franz Marc: Tierschicksale, 1913


    Gibt es zunächst von den Urklängen des ersten Satzes bis zur Ausgelassenheit und dem freien Singen und Herum-Tollen der Tiere eine ständige Weiterentwicklung, so lebt gewissermaßen ein Paradies auf, in dem es noch keinen Menschen gibt, bis erstmals dessen Gegenwart mit dem Posthorn hereinschallt. Ohne dass er direkt eingreift, erzeugt dies große Unruhe unter den Tieren, und sie vermögen von sich aus weder zu verstehen, was geschah, noch ein neues Gleichgewicht zu finden.


    Bachmann beschreibt dies von der anderen Seite. Um die Musik zu verstehen, will sie sich noch einmal zurückversetzen in die Zeit eines Kindes, das mit unvoreingenommenen, aber aufgeweckten Augen und Ohren die Märchenwelt der Musik erlebt. Das Kind steht einen Moment lang auf einer Grenze, wo es einerseits noch die Tierwelt in ihrer Unbekümmertheit intuitiv empfindet, und zugleich das Neue der vom Menschen gemachten Musik wie eine Märchenwelt mit völlig neuen, ungeahnten Perspektiven wahrnimmt.


    Bachmann erzählt in den Miniaturen "Die wunderliche Musik" (1956), wie seltsam die Musikinstrumente aussehen, mit welch verzerrten Körperbewegungen und Gesichtszügen auf ihnen gespielt wird. Schwenkt der Blick zum Zentrum des Orchesters, steht dort wild gestikulierend ein Dirigent, der ohne sich selbst an der Musikausübung zu beteiligen in die Rolle eines Magiers schlüpfen will, doch ohne dessen unmittelbare Kraft, sondern gebunden an die Partitur, die vor ihm auf dem Pult liegt. Treten dann noch aufgedonnerte Operndiven auf, ist der Eindruck einer Groteske perfekt.


    Wer wollte da nicht auflachen und die gespannte Stimmung brechen? Ein Blick in das Publikum läßt sofort verstummen. Dort sitzen abgedunkelt Menschen mit versteinerten, ernsten Mienen, regungslos, einige vielleicht ebenfalls mit Partituren auf den Knien dem Dirigenten folgend, in Festtagskleidung herausgeputzt und doch ganz auf das Innenleben konzentriert.


    Zurückgezogen in diesen äußersten Punkt der Distanz zur Musik fragt Bachmann im letzten Abschnitt, nun der Musik selbst das Wort gebend:


    "Was ist dieser Klang, der dir Heimweh macht?
    Wie kommt's, daß du in deinen Todesstunden wieder nach der Nachtigall rufst? [...] Und die Nachtigall sagt: 'Tränen haben deine Augen vergossen, als ich das erstemal sang!' So dankt sie dir noch, der du zu danken hast, denn sie vegißt es dir nie. [...]
    Was ist dieser Akkord, mit dem die wunderliche Musik ernst macht und dich in die tragische Welt führt, und was ist seine Auflösung, mit der sie dich zurückholt in die Welt heiterer Genüsse? Was ist diese Kadenz, die ins Freie führt? [...]
    Was hörst du noch, weil du mich nicht hören kannst, wenn die Musik zu Ende ist?
    Was ist es?!
    Gib Antwort!
    'Still!'
    Das vergesse ich dir nie."


    Wenn auf diese Weise der Funke überspringt vom Treiben der Tiere im Walde auf den Menschen, dann ist die Krise gelöst, die Mahler in diesem Satz komponieren wollte. Wer nicht nur in der Kindheit, sondern auch als Erwachsener die Tiere versteht, gilt als Heiliger, so Orpheus, so einige Kirchenväter, die sich in die Einsamkeit der Klöster zurückgezogen haben. Wer hier Bachmann weiter lesen möchte, dem sei ihr Gedicht "Wie Orpheus spiel ich ... (Dunkles zu sagen)" empfohlen.


    Satz 4, im Schutz der Nacht


    Doch die Sinfonie geht einen anderen Gang. Wie fühlt sich der Mensch, dessen Gegenwart die Natur aus dem Gleichgewicht bringt? Tief verlassen und voller Sehnsucht nach unendlicher Nacht. Mahler läßt die menschliche Stimme erklingen zu Nietzsches Lied aus dem "Zarathustra" "O Mensch gib Acht!".


    Musikalisch befindet sich der Klang zwischen Wagners "Tristan und Isolde" und den frühen expressionistischen Werken von Schönberg. Bachmann trifft im Traum-Kapitel ihres Romans "Malina" (1971) genau diese Spannung.


    Dort wird einige Male aus "Tristan und Isolde" zitiert. Einmal in einer Alptraum-Vision, als das Ich vom übermächtigen Vater gedrängt wird zu singen und nicht kann, und dann, wenn sie sich in einem anderen Traum selbst als junges Mädchen begegnet.


    "... sie ist sehr zart und sehr jung und sie erzählt mir von einer Seepromenade am Wörthersee ..., aber ich traue mich nicht, du zu ihr zu sagen, weil sie sonst dahinterkäme, wer ich bin. Sie soll es nie erfahren. Eine Musik beginnt, mild und leise, und abwechselnd versuchen wir, einige Worte zu dieser Musik zu singen, auch die Baronin versucht es, sie ist meine Hausmeisterin, die Breitner, wir irren uns immer wieder, ich singe 'All meinen Unmut geb ich preis', das Mädchen singt 'Seht ihr's Freunde, seht ihr's nicht?'. Frau Breitner singt aber 'Habet acht! habet acht! Bald entweicht die Nacht!'"


    An den Wörthersee zog sich Mahler 1900-07 während der Sommermonaten in Bachmanns Heimat Kärnten zur Komposition seiner mittlereren Sinfonie zurück, jäh unterbrochen durch den frühen Tod seiner jungen Tochter. Das Ich singt in diesem Traum einen Vers aus Schönbergs "Pierrot Lunaire", das Mädchen und Frau Breitner Verse aus Wagners Oper "Tristan und Isolde".


    Satz 5, Enigma


    m Gedicht "Enigma" bezieht Bachmann sich direkt auf die 3. Sinfonie. Hier ist dessen Optimismus völlig infrage gestellt, aber immerhin als Rätselhaftes, als Enigma festgehalten:


    Enigma


    "Für Hans Werner Henze aus der Zeit der ARIOSI


    Nichts mehr wird kommen.


    Frühling wird nicht mehr werden.
    Tausendjährige Kalender sagen es voraus.


    Aber auch Sommer und weiterhin, was so gute Namen
    wie 'sommerlich' hat -


    es wird nichts mehr kommen.


    Du sollst ja nicht weinen,
    sagt eine Musik.


    Sonst
    sagt
    niemand
    etwas."


    Die ersten Zeilen zitieren die Peter-Altenberg-Lieder von Alban Berg, "du sollst ja nicht weinen" den 5. Satz von Mahlers 3. Sinfonie. Und in diesem Zusammenhang verstehe ich auch den "Sommer" als Anspielung auf den ersten Satz "Der Sommer marschiert ein".


    Mahler hat hier ein Lied aus "Des Knaben Wunderhorn" vertont:


    "Ach! sollt ich nicht weinen, du gütiger Gott!
    Ich hab übertreten die zehen Gebot;
    Ich gehe und weine ja bitterlich,
    Ach komm, erbarme dich über mich,
    Ach über mich."


    Die Zeile "du sollst ja nicht weinen" wurde von Mahler ergänzt und wird vom Chor gesungen, der auch sonst mit dem einfachen "Bimbam" die Sprache der Musik spricht. Die Musik will dem Leser des Gedichts Trost geben.


    Bachmann nennt jedoch ihr Gedicht "Enigma". Für sie geschieht in diesem Moment etwas Rätselhaftes, Gefährdetes. Ich kann der Deutung von Eberhardt sehr gut folgen:


    "Wenn es wahr ist - und innerhalb des Gedichts kann ihm nicht widersprochen werden -, dann ist das Geheimnisvolle die Autorität des Trostes, die aus dem Satz 'Du sollst ja nicht weinen' spricht. Wie kann 'eine Musik' der Verzweiflung über den Stillstand widersprechen? Worauf gründet sich ihr Trost? ... Indem aber von der Wirkung der zuwendenden, tröstenden Geste nicht die Rede ist, bleibt offen, ob der als Trost formulierte Widerspruch der Musik genügt. Sie übersteigt darum zwar die Sprache und das (dichterische) Sprechen, wird aber keineswegs zum utopischen Moment. Denn das hieße gerade, ihr eine Wirkung zu unterstellen, wo das Gedicht schweigt. Das Gedicht behauptet also nicht einen 'Augenblick der Wahrheit', sondern fragt gerade nach diesem. Was im Essay 'Musik und Dichtung' noch als Gewißheit daherkam, das wird hier zum Rätsel."


    Im gleichzeitig entstandenen Roman "Malina" wird dies aufgegriffen. Dort gehört das unbeschwert vor sich hin schwingende "dadim, dadam" zu den glücklichen Momenten, wenn die Ich-Erzählerin sich ganz dem Tagträumen hingeben kann. Als störender Gegenton erscheint in den Alpträumen über die Vater-Figur das entzweibrechende, auffressende "Krakkrak" des Krokodils.


    "Ich sehe mit Entsetzen, an wen dieser Brief gerichtet ist, denn ich kann den Anfang lesen: Mein geliebter Vater, du hast mir das Herz gebrochen. Krakkrak gebrochen damdidam meines gebrochen mein Vater krak rrrrak dadidam Ivan, ich will Ivan, ich meine Ivan, ich liebe Ivan, mein geliebter Vater. Mein Vater sagt: Schafft dieses Weib fort."


    Satz 6, Exsultate Jubilate


    Von der Liebe wird unendlich viel erwartet. Die Sinfonie schließt nicht mit einer Gottesverehrung, sondern "Was mir die Liebe erzählt". So wird die Liebe gleichermaßen zum Ersatz für die Religion und soll alle Verletzungen und Ängste heilen, die in den vorangegangenen Sätzen beschrieben wurden.


    Mahler traute ihr das in diesen Jahren offenbar zu. Doch welche Geschichte nahm das dann? In den Final-Sätzen der 4. und 5. Sinfonie wird mit immer neuen Mitteln versucht, die Freuden der himmlischen Liebe zu beschwören und die musikalische Technik der Fuge einzusetzen, was aber alles den Zusammenbruch des Finales der 6. Sinfonie nicht aufhalten kann, bis dann in der 7. Sinfonie im Finale der treffende Ton gefunden wurde, nun eine einzige Groteske, in der bis zur Unerträglichkeit Klänge aus der Kirchen- und Jahrmarkt-Musik verzerrt sind. Der Übergang der "wunderlichen Musik" zur "tragischen Musik" ist völlig misslungen.


    Eine zweite Entwicklungslinie führt das Adagio der 3. Sinfonie fort bis zur abschließenden Vollendung in der 10. Sinfonie. Statt der thematischen Bezüge zum kraftvollen ersten Satz bekommen die Klänge der Nacht-Musik immer mehr Gewicht.


    Bachmann stellt sich dieser Frage im Roman "Malina". Die Ich-Erzählerin erwartet vom geliebten Ivan eine geradezu missionarische Befreiung, die der natürlich nicht leisten kann. Er ist vielmehr immer stärker ungehalten über ihre Selbstzweifel und Depressionen und findet kein Verständnis für sie. Zerstreut blättert er in ihren Papieren und stößt auf ihre Entwürfe für den "Todesarten"-Zyklus, das sind in einem Selbstbezug die Romane "Malina" und Vorarbeiten für den "Fall Franza" und "Requiem für Fanny Goldmann".


    "Das gefällt mir nicht, ich habe mir schon so etwas Ähnliches gedacht, und alle diese Bücher, die hier herumstehen in deiner Gruft, die will doch niemand, warum gibt es nur solche Bücher, es muß auch andere geben, die müssen sein, wie EXSULTATE JUBILATE, damit man vor Freude aus der Haut fahren kann, du fährst doch auch oft vor Freude aus der Haut, warum also schreibst du nicht so."


    Verzweifelt will die Ich-Erzählerin dem nachkommen und versucht sich in Entwürfen für ein schönes Märchen, in dem die Sprache der kirchlichen Legenden-Literatur mit Elementen im Stile von Paul Celan gemischt werden. Doch findet sie keinen Weg zu Ivan, der von ihrer Gegenwart genervt bekannt hat, er könne niemand mehr lieben. Das endet in ähnlicher Groteske wie das Finale von Mahlers 7. Sinfonie.


    Interpretationen


    Auf einer französischen Seite findet sich eine umfassende Diskographie.


    Das "Rondo Magazin" enthält überraschend viele und erfrischend kritische Besprechungen unterschiedlicher Einspielungen.


    Historisch hat Bruno Walter die Entstehung des Werks sehr gut verfolgt und seinen Freund Mahler am Attersee besucht. Ihm stand diese Sinfonie offenbar besonders nahe. Am 26.10.1909 schrieb er an seine Eltern:


    "Nur kurz für heut die Nachricht, daß ich gestern abend mit der Aufführung von Mahler's IIIter Symphonie den größten Erfolg meines Lebens gehabt habe. Es war eine Ergriffenheit, ein Jubel und Enthusiasmus von wahrhaft ekstatischem Charakter. Ich habe solche Ovationen noch nie erlebt und habe doch schon manches dergleichen mitgemacht. Zeitungsnachrichten folgen; heut regneten auf mich schriftliche, mündliche, telefonische Gratulationen von allen seiten; es ist ein Begeisterungstaumel."



    Ich persönlich höre diese Sinfonie am liebsten in den Aufnahmen von Hermann Scherchen. Hier ist die Einspielung mit dem Rundfunkorchester Leipzig zu empfehlen, dessen Booklet den Scherchen-Aufsatz enthält und wo mit der (allerdings gekürzten) 6. und 10. Sinfonie, den "Kindertotenliedern" und Auszügen aus der 8. Sinfonie weitere hervorragende Aufnahmen vorliegen.


    Viele Grüße von einem herrlichen Sonntag im Goldenen Oktober,


    Walter

  • Lieber Walter,


    ich bin völlig perplex über diesen einzigartigen Eintrag. Vielen Dank!


    Ich habe neulich die Aufnahme mit dem DSO Berlin unter Nagano bekommen und bin begeistert.


    LG,


    Christian

  • Zitat

    Original von Il Grande Inquisitor
    Lieber Walter,
    ich bin völlig perplex über diesen einzigartigen Eintrag. Vielen Dank!


    was soll ich sagen. danke dir, walter. deine beiträge sind eine außerordentliche bereicherung. ich habe - auch wenn ich hier inhaltlich nicht durchgehend die letzte stringenz sehe - mit allergrößtem interesse gelesen. :jubel: und - wie immer - viel gelernt. danke nochmals


    :hello:

    --- alles ein traum? ---


    klingsor

  • Hallo Walter.


    Vielen Dank auch von mir für Deinen schönen Beitrag. Ich kenne die Musik, ich kenne die Gedichte, ich hatte sie so noch nicht zusammengebracht.
    Vielen Dank also für Deinen Anregungen. Ich werde gleich mal die 3. Symphonie in den CD-Player legen. Zuletzt schien mir dieses Werk etwas zu gewollt, etwas zu groß zu sein, aber Du hast mir nun quasi einen neuen Leitfaden in die Hand gelegt. Ich bin schon gespannt, wie mir die 3. gleich klingen wird.


    :hello:


    Gruß, l.

    "Jein".

    Fettes Brot

  • Danke für diesen wirklich großartigen Beitrag. Ich habe die Sinfonie noch nicht gehört, aber nach dem hier, weiß ich, was ich heute Abend vor habe.


    Lieber Walter, Du hast gleich auch eine Empfehlung für eine Aufnahme ausgesprochen. Ich möchte nicht heraufbeschwören, dass es fortan in diesem schönen Thread nur um einzelne Aufnahmen geht, aber mir wäre doch sehr daran gelegen, wenn einige Aufnahmen dieser Sinfonie vorgestellt werden würden.


    LG :hello:

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Mahler hat sowohl als Mensch wie erst recht mit seiner Musik von Anfang an polarisiert. Die überwältigende Renaissance seiner Musik seit 1960 enthält sicher Missverständnisse. Mit meinem Beitrag wollte ich bewusst befremden und so deutlich wie möglich darauf zurückkommen, welche intensiven Gefühle Mahler auslösen kann, hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass in Reaktion darauf - so weit ich sehe erstmals in diesem Forum - schon nach wenigen Tagen mit einem Alternativ- oder Gegen-Thread geantwortet wurde. Das zeigt, wie wenig diese Musik von ihrer Sprengkraft verloren hat und wie offen die von ihr angerührten Fragen noch immer sind.


    Der erste Satz wurde 1896 erst komponiert, als die anderen bereits vorlagen. Nach Bruno Walters Zeugnis trug er ursprünglich den Titel "Was mir das Felsgebirge" erzählt. Mahler wählte einige weitere Titel, bis er sich auf "Pan erwacht. Der Sommer marschiert ein" festlegte. In einem Brief betonte er ausdrücklich, dass Natur für ihn nicht nur Blumen oder Tiere sind, sondern auch Dionysos und Pan. Bruno Walter möchte dennoch nicht von Pantheismus sprechen, da der letzte Satz eine innige persönliche Religiösität zeigt.


    Darauf mit Ingeborg Bachmann zu antworten, das sollte zum Nachdenken anregen. Es gibt bei Mahler auch eine andere Seite, die vom Bild der "blühenden Steine" nicht abgedeckt ist: Mahler hat nirgends so intensiv wie im 1. Satz der 3. Sinfonie gestaltet, welche Kraft ihm die Natur geben konnte, die er dann später als einen Kraftüberschuss empfand, was ihm alle Balance verdarb (siehe den Bericht über sein therapeutisches Gespräch mit Freud). Von Kindheit an war er von Militärmusik beeindruckt, die für eine Kultur steht, die ihm zugleich bedrohlich war.


    Es gibt in seinem Werk eine Entwicklungslinie vom "Titan" der 1. Sinfonie über den Pan der 3. Sinfonie bis zum "Lied der Erde". Da zeigt sich sowohl der Wunsch, von ihrer Energie beseelt zu werden, bis zur Konsequenz, mit beherrschendem Anspruch auftreten zu können, wie Mahler es im Beruf und gegenüber anderen Menschen oft genug tat - er war sicher nicht nur der Außenseiter, dem alle Affirmation misslingt, wie Adorno glauben machen will -, als auch die Sehnsucht, das eigene Ich von einem größeren Zusammenhang getragen zu wissen in einer Welt, in der ihm der Glaube an den Schöpfer unmöglich erscheint. Auch das ist keineswegs nur Resignation oder Verbundenheit mit dem Unterworfenen und Niedergetretenen, sondern enthält auch ein Gutteil prometheischer Herausforderung des Göttlichen.


    Das ist alles andere als ein geschlossenes Weltbild oder ein neuer Glaube, führt aber tief in die Ängste des heutigen Menschen. Bruno Walter schreibt, Mahlers größtes Vorbild war wahrscheinlich Goethe, von dem er sehr viel gelesen hat. Möglicherweise bewertet Bruno Walter das aus seiner anthroposophischen Perspektive zu hoch. Mahler war außergewöhnlich an naturwissenschaftlichen Fragen interessiert. Und er hat sich zeit seines Lebens mit Hölderlin beschäftigt, besonders auch dessen letzten Gedichten. Auch von dort lassen sich seine Werke erschließen, etwa von Gedichten wie "Mnemosyne".


    Viele Grüße,
    Walter

  • Die Dritte Mahler gehört zu meinen 'Lieblingssinfonien'. Ich kann nicht mehr genau sagen, wann und was mich bewegt hat, die meines Wissens erste Schallplatteneinspielung der Sinfonie Mitte der 60er Jahre zu dem damals für mich horrenden Preis von 50 DM zu erwerben (25 DM war lange Jahre der Normalpreis einer LP). Auf jeden Fall mehr Neugier als auch nur der Schatten einer Vorstellung davon, was diese Sinfonie für eine Bedeutung hat. Es war der einzige Eintrag dieser Sinfonie im Bielefelder Katalog, und es hieß, es sei die längste Sinfonie überhaupt. Es handelte sich um die bei der französischen Harmonia Mundi erschienene Aufnahme mit dem Orchester des Wiener Konzertvereins (so das Cover, vermutlich die Wiener Symphoniker – können das die Wiener hier im Forum bestatigen?) mit Hildegard Rössl-Majdan (Alt), Walter Schneiderhan (Solo-Violine), Eduard Koerner (Posthorn), Les Petits Chanteurs de Vienne (also wohl die Wiener Sängerknaben), die Leitung hatte F. Charles Adler. Adler (1889 - 1959) studierte die Chöre der Münchner Uraufführung der Achten ein und muß sicher eher als Schüler denn als Weggenosse Mahlers gesehen werden, vermutlich aber ja wohl mit hoher Authentizität ausgestattet, was die Interpretation Mahlers angeht. Bei Amazon sind einige interessante und weiterführende Kommentare zu dieser Aufnahme eingestellt. Offensichtlich gibt es zwei Versionen: eine Studioaufnahme und einen Rundfunkmitschnitt. Was der Schallplatte zugrunde liegt, kann ich auf Anhieb nicht verifizieren – damals war es noch unüblich, Editionsangaben zu machen. Logischerweise müßte es die Studioaufnahme von 1950 oder 1951 sein.


    Was nun die Interpretation in dieser natürlich monauralen Einspielung angeht, kann ich die enthusiastischen Äußerungen in den Amazon-Kommentaren nur unterstreichen. Die Töne entfalten trotz der zeitbedingten aufnahmetechnischen Einschränkungen eine ungeheure Direktheit, Intensität und Lebendigkeit, die Musik erhebt sich sozusagen aus den Rillen und tritt dem Hörer unmittelbar gegenüber. Die Emphase des Finales ist einfach überwältigend. Wen es da nicht endgültig überrieselt, hat mit Mahler nichts am Hut ;).


    @ Walter: Ich finde die von dir eingebrachte Idee mit der Bachmann nicht nur sehr interessant, sondern auch in keiner Hinsicht 'problematisch', wie das im 'Alternativ- oder Gegenthreat' geäußert wurde (ohne das näher zu begründen). Gewiß hat ihr inneres Auge, mit dem sie auf Mahler blickt, nichts mit Kompositionstechnik zu tun. Aber Mahlers Kompositionsstil möglicherweise sehr viel mit der Seelenlage, in der sich Menschen wie Ingeborg Bachmann manchmal entdeckt – und durch die Musik angesprochen und vielleicht sogar ein wenig aufgehoben fühlen könnten.


    :hello:


    helmutandres

  • Wichtigste Quelle für die Deutung des Scherzo, das Tierstück, oder einfach "die Tiere", wie Mahler gern sagte, sind die Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner (1858 - 1921). Sie hatte nach ihrer Scheidung Mahler 1890 kennengelernt und verbrachte in den Jahren 1892 - 1901 mit ihm den Urlaub. Als die Verlobung Mahlers mit Alma Schindler bekannt wurde, wurde ihre Freundschaft abrupt beendet. So hat sie die Entstehung der 3. Sinfonie aus größter Nähe miterlebt und viele Gespräche mit Mahler wörtlich aufgezeichnet, konnte aber nicht mehr mit ihm gemeinsam den großen Erfolg der Uraufführung 1902 in Duisburg feiern.



    Natalie Bauer-Lechner. Sie spielte seit 1887 in einem Frauen-Streichquartett, das international auf Tournee ging.


    Hans Heinrich Eggebrecht (1919 - 1999) stützt sich in seinem Buch "Die Musik Gustav Mahlers" vor allem auf ihre Berichte, wenn er exemplarisch mit seiner Interpretation der Posthorn-Episode - die er als "Paradigma für Mahlers symphonisches Denken" versteht - Adorno zurechtrücken will, durch den "das heutige Verständnis Mahlers ... weitesthin ... okkupiert" ist (Eggebrecht, S. 169 und S. 8 ). Eine eigenständige Lektüre der Bauer-Lechner-Erinnerungen gibt jedoch beiden unrecht.


    Adorno sieht Natur und Mensch, den Einzelnen und die Gesellschaft unlösbar miteinander verstrickt, und will zeigen, dass dies das innerste Thema der Musik von Mahler ist. Um Adorno zu verstehen, ist am besten von seinem Gleichnis der Sirenen in der "Dialektik der Aufklärung" auszugehen: Keine Kunst ist so schön wie der Gesang der Sirenen, aber wer sie hört, verfällt ihnen. Daher verstopft Odysseus den Ruderern die Ohren und macht sie unfähig, das betörend Schöne wahrzunehmen, und lässt sich selbst an den Schiffsmast binden, damit er ihrem Gesang lauschen kann ohne ihrem Ruf folgen und sich in den Tod stürzen zu müssen. Damit war ihr Bann gebrochen und ein entscheidender Sieg des Menschen über die Natur errungen - aber um den Preis der Selbstverstümmelung des Menschen und des Verstummens der Natur.


    Von der Natur geht etwas Bedrohliches aus, das den Menschen in die Katastrophe zu ziehen droht. Gleichzeitig sieht der Mensch in der Natur das Bild einer Utopie. Beides zusammen ergibt ein unlösbares Paradox.


    "Je mehr (die autonome Kunstmusik) an der notwendigen Herrschaft über ihr Material Natur beherrschen lernte, desto herrischer war ihr Gestus geworden. ... In Mahler rüttelt sie daran, möchte den Frieden mit dem Naturwesen und muß doch stets noch den alten Bann vollstrecken." (Adorno, S. 157)


    Das sieht Adorno von Mahler im Tierstück der 3. Sinfonie gestaltet. Hier will Mahler mit viel "Sympathie" und "Einfühlung" das Leben der Tiere zeigen, die in Sprachlosigkeit verharren, und "schenkt (ihnen) den Laut". Mahler lässt bewusst den Menschen nicht mit seiner hochentwickelten Kultur aufspielen, sondern greift zurück auf das Posthorn. Da hat sich einer aus dem Kulturbetrieb entfernt und steht versunken am Waldrand, beglückt von der eigenen Melodie. Adorno kommentiert das nicht, aber ich kann der freien Deutung von Eggebrecht gut folgen: Das einfältige, fast kitschige Spielen des Posthorns ist Relikt einer armseligen Musik, wie sie vor den großen Kunstwerken der westlichen Kultur praktiziert wurde. Doch diese Kunstmusik war mit ihrer immer perfekteren Beherrschung des Materials innerlich leer geworden. Mahler hat das als erster deutlich wahrgenommen und bewusst darauf reagiert und daher alle von der Musikgeschichte verdrängten Elemente wieder aufgenommen, bis in den Bereich des Banalen. Eggebrecht zitiert Adorno: "Desparat (verzweifelt, hoffnungslos) zieht (seine Musik) an sich, was Kultur verstößt, so armselig, verwundet, verstümmelt, wie Kultur es ihr übermacht." (Eggebrecht, S. 197, Adorno, S. 187).


    Und in diesem Sinn lässt Mahler im Scherzo das Posthorn spielen. Dadurch ist die Kluft zur Tierwelt kleiner geworden. Die Musik des Menschen klingt wie in den Erinnerungen aus der Kindheit. "Kommentieren dann zwei Waldhörner gesangvoll jene Melodie, so versöhnt der künstlerisch überaus gefährdete Moment das Unversöhnliche." (Adorno, S. 157)


    Aber der Bann zwischen Natur und Mensch kann nicht gebrochen werden. Die Musik nimmt eine fast katastrophische Wende. Adorno fährt fort:


    "Der bedrohlich stampfende Rhythmus der Tiere aber, Triumphreigen von Ochsen, die sich bei den Hufen fassen, mokiert prophetisch sich darüber, wie dünn und schwach Kultur ist, solange sie Katastrophen ausbrütet, die eilends den Wald einladen könnten, die verwüsteten Städte zu verschlingen." (Adorno, S. 157).


    Die Natur spürt, wie brüchig die Posthorn-Episode ist, Ausdruck einer in sich verfallenen Kultur, und fühlt sich solcher armseliger Musik weit überlegen. Diese Deutung kritisiert Eggebrecht als "eine an Vergewaltigung grenzende Willkür gegenüber der Musik, ihrer Intention und Wirkung" (Eggebrecht, S. 196).


    Eggebrechts eigene Deutung ist genau entgegengesetzt. Seiner Ansicht nach hat Mahler mit dem Posthorn kein überliefertes Relikt armseliger Kunst aufgegriffen, auf das die Kunst sich angesichts ihres eigenen Scheiterns besinnt, sondern er hat nach einer Möglichkeit gesucht, gegenüber dem Klang der Tiere etwas Anderes, ihrer Welt möglichst Fremdes abrupt dagegen zu stellen, das in ihre Welt einbricht und sie zu erlösen vermag. Das Andere kann sein: ein Signal, ein Volkslied, ein Naturton außerhalb der üblichen Tonskalen. Daher wird mit dem Posthorn ein urtümliches Instrument gewählt, das Mahler bei seinen Fahrten von Iglau nach Prag in der Kindheit oft genug gehört hat. Mahler schreibt in die Partitur Spiel-Anweisungen "wie aus weiter Ferne", "verhallend", "verklingend", "sich entfernend", "frei vorgetragen; Zeit lassen!; zurückhaltend; frei,der Empfindung folgend" (zitiert bei Eggebrecht, S. 182).


    "Die Idee der Posthornepisode ist das - nur als Episode mögliche - Einbrechen des Anderen in der Weise des Einschaltens einer anderen Musikart und das Reagieren des Orchesters, der grotesken, gefangenen, gequälten Wesenheit der Tiere, auf dieses Andere." (S. 195)


    Und darauf reagiert die Natur mit ihrem Hörnergesang:


    "Der Hörnergesang selbst ist nicht das 'Andere', das in der Weise des Posthorns erscheint wie eine Botschaft aus einer anderen Welt, aber er ist ihm zugewandt, ist sein Reflex, sein Widerschein; er empfängt es, verinnerlicht es. Indem der Hörnergesang das Andere zu seiner Wirklichkeit macht, vermittelt er es - jenseits allen Humors - an die Orchesterwelt, die Welt des Tierstücks." (S. 186)


    Seine Deutung stützt sich vor allem auf dieses Zitat von Bauer-Lechner:


    "Nur auf den Schluss der 'Tiere' fällt noch einmal der schwere Schatten der leblosen Natur, der noch unkristallisierten, unorganischen Materie. Doch bedeutet es hier mehr einen Rückfall in die tieferen tierischen Formen der Wesenheit, ehe sie den gewaltigen Sprung zum Geiste in dem höchsten Erdenwesen, dem Menschen, tut." (Bauer-Lechner, S. 56)


    Aber in seiner Deutung verwechselt Eggebrecht den Gang der Sinfonie mit Mahlers Verständnis der Natur. Die Sinfonie zeigt einen großen Bogen, der vom Felsgebirge über die Blumen und Tiere schließlich zum Geist des Menschen führt. Das ist ähnlich wie in der 1. Sinfonie die Entwicklungsgeschichte des Menschen. Um Mensch werden zu können, muss er sich sowohl von der leblosen, mineralischen wie der pflanzlichen und animalischen Natur losmachen. Aber das bedeutet keineswegs, dass für Mahler auch die Natur selbst gefangen und gequält ist und nun auf die Botschaft von etwas Anderem wartet, das ihr der Mensch mit seiner Kunst geben kann.


    Vielleicht sind es gerade kleine Beobachtungen, die Mahlers Verständnis der Natur am besten zeigen. Auf der Rückreise nach Wien besuchte Mahler 1899 mit Bauer-Lechner den befreundeten Siegfried Lipiner in St. Wolfgang.


    "Lipiner behauptete von Mahler, daß er Tierpsychologie betrieb. Und tatsächlich, Mahler ging an keinem Hund und keiner Katze vorüber, ohne auf die Äußerungen ihres Wesens zu achten und sich damit zu unterhalten. 'Daß so ein Tier immer absolut in der Gegenwart lebt, jeden Augenblick ohne Rest darin aufgeht', zog ihn so an. ... 'Ebenso wie die Unmittelbarkeit fällt mir immer die absolute Wahrhaftigkeit eines Tieres, zum Unterschied vom Menschen, so wohltuend auf.'" (Bauer-Lechner, S. 139)


    Mahler im Juli 1900 über das "Unfaßbare der Natur":


    "Daß die Menschen immer meinen, die Natur liege an der Oberfläche! Was das Äußerlichste an ihr betrifft, ja! Aber die sind ihr noch nicht auf die Spur gekommen, die nicht alle Schauer eines unendlichen Geheimnisvollen, Göttlichen im Angesichte der Natur ergreift, das wir nur ahnen, nicht begreifen und durchdringen können." (Bauer-Lechner, S. 160)


    In diesem Sinne läßt sich weiter zitieren, wie seiner Meinung nach in der Natur "die sublimste Heiterkeit herrscht, ein ewig strahlender Tag, freilich für Götter, nicht für Menschen, für die er das grausig Ungeheure, ein nimmer Festzuhaltendes ist." (Bauer-Lechner S. 59) Ähliche Äußerungen gibt es zur 4. Sinfonie (ebd., S. 162f)


    Wo Eggebrecht im Tierstück die gequälte, fratzenhafte Natur dargestellt sieht, hat er daher nur halb recht. So erscheint die Natur dem Menschen, weil er anders als die Götter ihr ganzes Wesen nicht ergreifen kann.


    Gegenüber der "sublimsten Heiterkeit" der Natur erscheint die Posthorn-Episode äußerlich und oberflächlich, und zeigt das Unverständnis des Menschen von der Natur. Das Posthorn verkörpert nicht das Andere der Natur, zu dem diese sich hin entwickeln kann, sondern die Eingeschränktheit des Menschen. Es verkörpert aber auch nicht das von der Kunst Verstoßene und Verstümmelte, was es nun wieder aufzunehmen gilt, wie Adorno sagt. (Ganz anders ist es allerdings, wenn die Kuhglocken etwa in der 7. Sinfonie zu deuten sind, doch darum geht es hier nicht.)


    Wenn es überhaupt eine optimistische Deutung des Tierstücks gibt, dann in dem Sinne, wie Bachmann formuliert hat. Und sie hat - glaube ich - wirklich eine verborgene Hoffnung getroffen, die Mahler trotz aller anderslautenden Äußerungen gegenüber Bauer-Lechner im Innern gehegt hat.


    Beeinträchtigen Fragen dieser Art die Musik oder den Hörgenuß?


    Ist es überhaupt erforderlich, sich Fragen dieser Art zu stellen? Kann Mahler auch gehört werden, ohne darüber nachzudenken? Mahler hat sich immer wieder beklagt, dass die meisten Hörer kein Interesse haben, ihn zu verstehen. In diesem Sinne wollte er den Vorgänger des Tierstücks, das Scherzo der 2. Sinfonie verstanden wissen, das auf die Vertonung der Fischpredigt des heiligen Antonius aufbaut.


    Antonius predigt den Fischen. Die kommen zwar zusammen, hören zu, sind aber zu keinem Verständnis fähig. Gerade so sah er auch sein eigenes Wirken als Dirigent und Komponist. Am Ende schwimmen alle Fische weg, "nicht um ein Jota klüger geworden, obwohl der Heilige ihnen aufgespielt hat! - Die Satire auf das Menschenvolk darin werden mir aber die wenigsten verstehen." Und ebenso ist dem Konzertpublikum "die Kunst nur die Melkkuh, welche ihnen das gemeine Leben ermöglicht, das sie dabei so bequem und angenehm als möglich führen wollen." (Baucher-Lechner, S. 28, 31)


    Hier hat Eggebrecht die Absicht von Mahler genau getroffen und wendet sich zurecht gegen Adorno, für den das Scherzo der 2. Sinfonie aufgrund seiner "Redseligkeit" zu den "schwachen Stücken" von Mahler zählt (Adorno, S. 280f).


    War das schon immer so? In dieser Weise hat wohl zuerst Beethoven über die Musik nachgedacht. Alle Musiker vor ihm haben sich sicher Fragen gestellt, welche Möglichkeiten zu komponieren es gibt, wie die Hörer darauf reagieren, wie abhängig sie von ihren Geldgebern sind und daher nicht das und so komponieren können, wie sie am liebsten möchten. Doch seit Beethoven kann Musik weder "einfach so" komponiert noch gehört werden. Daher die Sehnsucht so vieler Hörer zurück zur "heilen Welt" bis Mozart.


    Mahler - und sein großes Vorbild Richard Wagner - möchten im Gegensatz zu den meisten ihrer Hörer auch gar nicht zurück in die Zeit vor Beethoven. Für sie hat die wahre Musik überhaupt erst mit Beethoven begonnen, als sie sich nicht mehr in den Dienst des Adels oder Großbürgertums stellen mußte. Mit Beethoven konnte erstmals das Ideal aller großen Komponisten vor ihm - einschließlich Bach und Mozart - wahr werden, eine Musik zu komponieren, die ganz aus ihrem eigenen "Geist" geschrieben ist. Um nicht missverstanden zu werden: Dieser "Geist" der Musik liegt oder lag nicht vor als ein abrufbares Ideal, dem die Komponisten seit Beethoven nur folgen mußten. Sondern diese Komponisten hatten erstmals die Chance, ganz ihrer Inspiration folgend herauszubringen, was Musik sein kann.


    Sie schufen - anders als zahlreiche Komponisten des 20. Jahrhunderts nach ihnen - keine abstrakten Klänge, sondern entdeckten, was schon immer sowohl in der Volksmusik wie auch in der Musik ihrer großen Vorgänger verborgen war.


    Ist schon die Zahl derer, die sich überhaupt mit klassischer Musik beschäftigt, klein genug, so sind es noch weniger, die sich auf diese Fragen einlassen wollen. Sie haben keine institutionalisierte gesellschaftliche Macht wie früher der Adel, das Großbürgertum, die Kirche oder heute der Staat. Aber es gibt eine Tradition bis weit zurück zu den unabhängigen Bewegungen etwa der Waldenser, der Handwerker auf den großen Baustellen zur Errichtung der gotischen Dome, den Musikern des Orients und den Sängern im alten Griechenland. In die Isolation gedrängt kann das ein falsches Elitebewusstsein hervortreiben, ja sogar ein Selbstverständnis von "Heiligen" oder gar "Göttern", wie bei Mahler durch den Vergleich mit dem Heiligen Antonius angedeutet ist.


    Um 1900 war diese Krise besonders stark zu spüren, heute hat man sich mit ihr fast abgefunden. Diese Sinfonie Mahlers ist ein Bekenntnis-Stück im besten Sinn. Mit seiner Heirat Alma Schindlers, dem Aufstieg in die Musik-Elite Wiens und den Verträgen mit New York (wo er horrende Gagen aushandelte) zeigte er sich wankelmütig. So ist es rückblickend mindestens ebenso Natalie Bauer-Lechner zu verdanken, dass diese Sinfonie entstehen und die mit ihr verbundenen Gedanken überliefert werden konnten. Ich kann nur empfehlen, mehr über diese bemerkenswerte Frau zu lesen und auf diese Weise indirekt auch eine Seite von Mahler kennen zu lernen, die dann von seinem späteren Schicksal überdeckt wurde.


    Natalie Bauer-Lechners Erinnerungen an Mahler erschienen zuerst 1923 kurz nach ihrem Tod. Ich zitiere nach der Ausgabe durch Herbert Killian 1984, die auch einiges zur Biographie von Bauer-Lechner enthält.


    Adorno veröffentlichte sein Buch zu Mahler 1960 zu dessen 100. Geburtstag. Ich zitiere nach Adorno "Die musikalischen Monographien", Frankfurt 1971.


    Das Buch von Eggebrecht erschien zuerst 1982 und wurde 1999 in Wilhelmshaven neu verlegt.


    Viele Grüße und Frohe Weihnachten,


    Walter

  • Zitat

    Original von Walter.T
    Hallo, liebe Musikfreunde,


    Gustav Mahler (1860 - 1911) hat die 3. Sinfonie 1893 - 96 in Steinbach am Attersee komponiert. 1897 verließ er Hamburg und wurde Direktor der Wiener Hofoper. Die vollständige Uraufführung erfolgte erst 1902 in Krefeld, also kurz nach seiner Hochzeit mit Alma Schindler. In dieser Zeit war die 5. Sinfonie bereits weitgehend abgeschlossen. ...


    Ganz herzlichen Dank für diese wirklich umfassende Beschreibung. Die Symphonie wird gerade jetzt in Ö1 übertragen (mit Semyon Bychkov, der für Mariss Jansons eingesprungen ist).


    Eine Beschreibung wie die Ihrige, erlaubt mir ein Verständnis, wie ich es sonst nur vielleicht nach zwanzig Mal hören haben könnte.


    liebe Grüße aus Wien

    Eine Signatur, die ich 1990 verwendet habe:
    "Better to create than to consume"