Die Bachkantate (156): BWV56: Ich will den Kreuzstab gerne tragen

  • BWV 56: Ich will den Kreuzstab gerne tragen
    Kantate zum 19. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 27. Oktober 1726)




    Lesungen:
    Epistel: Eph. 4,22-28 (Zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist)
    Evangelium: Matth. 9,1-8 (Heilung eines Gelähmten: „Deine Sünden sind dir vergeben“)



    Fünf Sätze, Aufführungsdauer: ca. 21 Minuten


    Textdichter: unbekannt
    Choral (Nr. 1 und 7): Johann Franck (1653)



    Besetzung:
    Solo: Bass; Coro: SATB; Oboe I + II, Oboe da caccia, Solo-Cello, Violino I/II, Viola, Continuo





    1. Aria Bass, Oboe I + II, Oboe da caccia, Streicher, Continuo
    Ich will den Kreuzstab gerne tragen,
    Er kömmt von Gottes lieber Hand,
    Der führet mich nach meinen Plagen
    Zu Gott in das gelobte Land.
    Da leg’ ich den Kummer auf einmal ins Grab,
    Da wischt mir die Tränen mein Heiland selbst ab.


    2. Recitativo Bass, Solo-Cello, Continuo
    Mein Wandel auf der Welt
    Ist einer Schiffahrt gleich:
    Betrübnis, Kreuz und Not
    Sind Wellen, welche mich bedecken.
    Und auf den Tod
    Mich täglich schrecken;
    Mein Anker aber, der mich hält,
    Ist die Barmherzigkeit,
    Womit mein Gott mich oft erfreut.
    Der rufet so zu mir:
    Ich bin bei dir,
    Ich will dich nicht verlassen noch versäumen!
    Und wenn das wütenvolle Schäumen
    Sein Ende hat,
    So tret’ ich aus dem Schiff in meine Stadt,
    Die ist das Himmelreich,
    Wohin ich mit den Frommen
    Aus vielem Trübsal werde kommen.


    3. Aria Bass, Oboe I, Continuo
    Endlich, endlich wird mein Joch
    Wieder von mir weichen müssen.
    Da krieg’ ich in dem Herren Kraft,
    Da hab’ ich Adlers Eigenschaft,
    Da fahr’ ich auf von dieser Erden
    Und laufe sonder matt zu werden.
    O gescheh’ es heute noch!


    4. Recitativo Bass, Streicher, Continuo
    Ich stehe fertig und bereit,
    Das Erbe meiner Seligkeit
    Mit Sehnen und Verlangen
    Von Jesus’ Händen zu empfangen.
    Wie wohl wird mir gescheh’n,
    Wenn ich den Port der Ruhe werde seh’n.


    Da leg’ ich den Kummer auf einmal ins Grab,
    Da wischt mir die Tränen mein Heiland selbst ab.


    5. Choral SATB, Oboe I + II, Oboe da caccia, Streicher, Continuo
    Komm, o Tod, du Schlafes Bruder,
    Komm und führe mich nur fort;
    Löse meines Schiffleins Ruder,
    Bringe mich an sicher’n Port!
    Es mag, wer da will, dich scheuen,
    Du kannst mich vielmehr erfreuen;
    Denn durch dich komm’ ich herein
    Zu dem schönsten Jesulein.






    Zusammen mit der Kantate BWV 82 bildet diese Kantate für Solo-Bass (vom kurzen Schlusschoral einmal abgesehen) sicher die prominente „Speerspitze“ der Solo-Kantaten Bachs – interessanterweise sind beide Kantaten ursprünglich für einen Bass-Solisten komponiert worden.


    Die hier besprochene Kantate, die auch den Titel Kreuzstab-Kantate trägt, habe ich früher immer für eine Passionskantate gehalten – die vertonte Kreuz-Symbolik und die klagenden Oboenstimmen der Arie Nr. 1 haben mich dabei vor allem in die Irre geführt.


    Wenn man sich hingegen mit dem Evangelium für den heutigen Sonntag befasst (siehe dazu auch das zur Kantate BWV 48 Geschriebene), stellt man jedoch fest, dass sich der Textdichter dieser auch literarisch außerordentlich gelungenen Kantate zum einen mit dem im Evangelium erwähnten Gelähmten (oder “Gichtbrüchigen“) identifiziert, der auf Erden einen leidensvollen und beschwerlichen Weg aufgebürdet bekommen hat, die Hoffnung auf Erlösung bzw. Heilung (durch Jesus) jedoch nicht aufgibt, zum anderen jedoch auch auf einen Aspekt des Evangeliumstextes eingeht, der in den anderen Kantaten für den heutigen Sonntag (BWV 48 und BWV 5) gar keine weitere Beachtung findet:
    Der eigentlich nur als unscheinbare Über- und Einleitung zur Heilungsgeschichte formulierte Satz “Da stieg er in ein Boot und fuhr hinüber und kam in seine Stadt“ dient für den auch andernorts immer wieder zu findenden Vergleich des Lebens mit einer Schiffsfahrt, deren Verlauf unbekannt ist. Es drohen Stürme, Unwetter und hohe Wellen, es lockt aber auch ein sicherer Hafen als Ziel - die Frage ist nur, ob man diesen einigermaßen unversehrt erreichen wird...


    Auf diesen beiden Gedanken fußt die gesamte Kantatendichtung, die Bach wieder einmal höchst eindrucksvoll und intensiv in Musik zu setzen verstanden hat.


    Um nochmal kurz auf meine frühere Assoziation mit der Passionszeit zurückzukommen: Schon in der Kantate BWV 48 wird vom "Kreuzeskelch" gesprochen, bzw. gesungen - die Kreuzes-Thematik steht also in enger Verbindung zum Thema des heutigen Sonntagsevangeliums. Außerdem klingt in dieser kantate die barocktypische Todessehnsucht wieder einmal an, die ja auch die erwähnte Kantate BWV 82 in noch viel stärkerem Maße prägt.


    Gerade die Konzentration auf nur eine Gesangsstimme verleiht der hier besprochenen Kantate eine besondere Intensität.
    Bach hat seine Komposition übrigens selbst als “Cantata“ bezeichnet (was so ausdrücklich nicht oft vorkam) und spielt damit auf die ursprüngliche Bedeutung dieser Gattungsbezeichnung an: Ein (mehrsätziges) Werk für eine Gesangsstimme mit Instrumentalbegleitung.


    Während die Arie Nr. 1 (in g-moll) eine wundervolle Ruhe und Abgeklärtheit verströmt (angereichert mit zahlreichen musikalischen Seufzerfiguren), in der die im Text erwähnte Schicksalsergebenheit zum Ausdruck kommt, illustriert Bach im folgenden Rezitativ Nr. 2 die besungenen Wellen mit entsprechenden Cello-Figuren, die – auch dies ist so einfach wie überzeugend gelöst – zur Ruhe kommen, sobald die Stelle „So tret’ ich aus dem Schiff in meine Stadt“ erreicht ist!


    Sehr schön ist auch die Idee, am Ende des Rezitativ Nr. 4 die beiden letzten Zeilen der Eingangsarie (“Da leg’ ich den Kummer...“) nochmals aufzugreifen und somit einen abschließenden Rahmen innerhalb der Kantate zu setzen!
    Ob diese Zeilen in der Originaldichtung wirklich an dieser Stelle nochmals auftauchten? Ich könnte mir gut vorstellen, dass Bach selbst hier diese textliche Reminiszenz eingebaut hat – dass er über ein gewisses dichterisches Geschick verfügte, wird gerade innerhalb seines Kantatenwerkes immer wieder einmal deutlich...
    Dieser auch musikalische Rückbezug an dieser Stelle (noch dazu in einem Rezitativ!) gegen Ende der Kantate auf eine eigentlich längst abgeschlossene Arie, die zu Beginn derselben stand, ist eine Idee, die von Bachs Zeit aus weit in die Zukunft weist – für die Barockzeit ist ein solcher „Kunstgriff“ eigentlich nicht unbedingt üblich.


    Bach steigert den Schlusschoral vom anfänglichen c-moll zum strahlend siegesgewissen Schluss in C-Dur und erzielt damit eine ähnlich triumphale Wirkung wie im Schlusschoral der Johannes-Passion mit „Ach Herr, lass dein lieb’ Engelein“.


    Eine Woche zuvor hatte Bach mit der Kantate BWV 169 eine weitere Solo-Kantate (für Alt) aufgeführt. Auch diese besaß nur einen kurzen Schlusschoral. Wollte Bach damit den Thomanerchor wenigstens ansatzweise in den sonntäglichen Gottesdienst einbeziehen? Was mag im Oktober 1726 dazu geführt haben, dass Bach mehrere Wochen hintereinander auf größere Choreinsätze in seinen Kantaten verzichtete? Die Kantate, die Bach eine Woche nach der hier besprochenen Kantate aufführte (BWV 49), verzichtet nämlich gleich ganz auf eine Chorbeteiligung...


    Es gibt ja einige Solo-Kantaten von Bach, die konsequent auf den Einsatz eines Chores verzichten. Ich finde diesen vollständigen Verzicht einerseits dramaturgisch konsequenter (warum die eindringliche Wirkung eines Solovortrags am Ende durch einen – wenn auch kurzen – Choreinsatz verwässern?), andererseits ist es irgendwie unökonomisch, dass für eine Aufführung z. B. der hier besprochenen Kreuzstab-Kantate neben dem Solo-Bass auch immer ein Chor auftreten muss, nur um den kurzen Schlusschoral darbieten zu können...


    Abschließend noch eine Bemerkung für die Literaturfreunde:
    Der Schlusschoral dieser Kantate, der vom Tod als des „Schlafes Bruder“ spricht, hat den Autor Robert Schneider zu seinem recht bekannt gewordenen Roman “Schlafes Bruder“ inspiriert. Ein empfehlenswertes Buch, in dem auch die Musik im allgemeinen und das Orgelspiel im besonderen eine große Rolle spielen.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Wie MarcCologne hätte auch ich diese Kantate spontan eher mit der Passionsgeschichte in Verbindung gebracht als mit der Heilung eines Gelähmten nach Mt 9, 1-8. Was sicher ganz viel mit ihrem Titel und hier besonders mit dem Wort "Kreuzstab" zu tun hat.


    Dank Petzoldts "Entdeckung" der Olearius-Bibel ist inzwischen aber davon auszugehen, dass dieser Titel weniger mit Kreuzigung und Leidensnachfolge zu tun hat, als mit Stütze und Halt für einen Hilfsbedürftigen. Der "Kreuzstab" ist nämlich hier, in Anlehnung an Ps 23, 4, vor allem als "Trost-Stab" zu verstehen, konkret als "Krücke des Gichtbrüchigen" (Petzoldt), an der er nicht nur sich fortbewegen, sondern mit dessen Hilfe er sich auch aufrichten kann. Nach Petzoldt wird vor allem dieses Sich-Aufrichten und Sich-Hochziehen an dem Stab in den ersten Textzeilen von Satz 1 in Bachs Vertonung versinnbildlicht. Demgegenüber weist der "Kreuzstab" nach Schulze auch allgemein auf die menschliche Pilgerschaft auf den Weg zum Himmel hin.


    Dass "Abwischen der Tränen" in der letzten Zeile von Satz 1 ist eine Anlehnung an eine entsprechenden Vision aus der Offenbarung des Johannes, Offb 7, 17.


    In Satz 2 wird der "Wandel der Welt" und das Leben des Menschen mit einer stürmischen Seefahrt verglichen, die Barmherzigkeit Gottes demgegenüber als rettender Anker (Schulze). Die "Wellenbewegungen" im Cello kommen im Moment des Eintretens in die "Stadt" zum Stillstand. Versteht man mit Petzoldt hier die Stadt als Metapher für das Himmelreich, so kommt mit dem Stillstand der fließenden Cellobewegungen auch der Stillstand der Zeit selbst zum Ausdruck, die in "Ewigkeit" übergeht. Sehr interessant auch Petzoldts Hinweis, dass Bach in der Vertonung genau an dieser Stelle von einem "accompagnoto", also einem instrumental begleiteten in ein "secco"-Rezitativ wechselt, das lediglich durch das Continuo gestützt wird. Nach Petzoldt eine bei Bach einmalige Vorgehensweise, in der Regel geschieht dieser Wechsel nur in umgekehrter Richtung.


    In Satz 3 wird es dann deutlich munterer. Mit dem weichenden "Joch" ist sowohl das Freiwerden von Krankheit als auch von Sünde gemeint. Im B-Teil der Arie wird dann sehr anschaulich ausgeführt, welche Folgen diese Gesundung und Kräftigung haben wird - eine Paraphrase von Jesaja 40, 31. Oder, wie Olearius zu Mt 9 insgesamt schreibt: "Der Haupt=Zweck ist unser Trost wider alle Leibes und Seelen=Noth.


    Das anschließende Rezitativ (Satz 4) ist nach Petzoldt in zwei Teile gegliedert. Im ersten Textabschnitt, der "Verben des Stehens und Empfangens" verwendet, "stehen" auch die Begleitakkorde der Streicher fest und "begleiten die Bereitschaft des Glaubenden zur Seligkeit". Anschließend wird dann der "Port der Ruhe" erreicht, die Tränen werden nun endgültig abgewischt, der alles Leid umfassende Trost empfangen.


    Der Schlusschoral hat nach Petzoldt in Bachs Kantaten stets "katechetische", also belehrende Funktion; das Vorausgegangene wird theologisch noch einmal zusammengefasst und bekräftigt. Darüber hinaus ist dieser Schlusschoral aber vor allem auch wegen Bachs genialer Vertonung der vorletzten Zeile hervorzuheben, die das "Hindurchdringen durch den Schmerz des Todes in die Herrlichkeit" Gottes in einer Weise veranschaulicht, dass sicher nicht nur mir beim Anhören die Tränen in die Augen steigen.


    Mit Gruß von Carola

  • Am ergreifendsten finde ich den Schlußchoral in der alten Karl-Richter-Aufnahme, mit Orgel. Ist das in sonstigen auch der Fall? Ich kenne das sonst nur ohne Orgel.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich kenne die alte Richter-Aufnahme der Kreuzstab-Kantate nicht.


    Daher die Frage: Ist der Schlußchoral nur mit Chor und Orgel besetzt?


    Wenn ja, dann entspricht dies nicht dem Quellenbefund. In den Noten gehen die Instrumente colla parte mit den Sängern, die Orgel ist selbstverständlich auch als Continuo-Instrument mit dabei.


    Grundsätzlich ist es ja schon überlegenswert ein Choral instrumental nur mit einer Orgel zu stützen. Allerding nicht, wenn eindeutig Instrumente vorgesehen sind. Wäre ja auch seltsam, daß die ganze Kantate über ein recht groß besetztes Orchester spielt und ausgerechnet der Schlußchoral nur mit der Orgel begleitet wird.
    Ich vermute, daß hängt damit zusammen, daß die Wissenschaft lange vermutet hat, die Gemeinde habe die Choräle mitgesungen. Dieser Ansatz ist aber überholt