BWV 169: Gott soll allein mein Herze haben
Kantate zum 18. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 20. Oktober 1726)
Lesungen:
Epistel: 1. Kor. 1,4-9 (Paulus’ Dank für Gottes reiche Gaben in Korinth)
Evangelium: Matth. 22,34-46 (Jesus benennt als vornehmste Gebote die Gottes- und Nächstenliebe und befragt die Pharisäer über Christus, der zugleich Davids Sohn und Davids Herr genannt wird)
Sieben Sätze, Aufführungsdauer: ca. 27 Minuten
Textdichter: unbekannt
Choral: Martin Luther (1524)
Besetzung:
Solo: Alt; Coro: SATB; Oboe d’amore I + II, Oboe da caccia, konzertante Orgel, Violino I/II, Viola, Continuo
1. Sinfonia (D-Dur) Oboe d’amore I + II, Oboe da caccia, Orgel, Streicher, Continuo
2. Arioso Alt, Continuo
Gott soll allein mein Herze haben.
Zwar merk’ ich an der Welt,
Die ihren Kot unschätzbar hält,
Weil sie so freundlich mit mir tut,
Sie wollte gern allein
Das Liebste meiner Seelen sein.
Doch nein; Gott soll allein mein Herze haben:
Ich find’ in ihm das höchste Gut.
Wir sehen zwar
Auf Erden hier und dar
Ein Bächlein der Zufriedenheit,
Das von des Höchsten Güte quillet;
Gott aber ist der Quell, mit Strömen angefüllet,
Da schöpf’ ich, was mich allezeit
Kann sattsam und wahrhaftig laben:
Gott soll allein mein Herze haben.
3. Aria Alt, Orgel, Continuo
Gott soll allein mein Herze haben,
Ich find’ in ihm das höchste Gut.
Er leibt mich in der bösen Zeit
Und will mich in der Seligkeit
Mit Gütern seines Hauses laben.
4. Recitativo Alt, Continuo
Was ist die Liebe Gottes?
Des Geistes Ruh’,
Der Sinnen Lustgenieß,
Der Seele Paradies.
Sie schließt die Hölle zu,
Den Himmel aber auf;
Sie ist Elias’ Wagen,
Da werden wir im Himmel ’nauf
In Abrah’ms Schoß getragen.
5. Aria Alt, Orgel, Streicher, Continuo
Stirb in mir,
Welt und alle deine Liebe,
Dass die Brust
Sich auf Erden für und für
In der Liebe Gottes übe;
Stirb in mir,
Hoffart, Reichtum, Augenlust,
Ihr verworf’nen Fleischestriebe!
6. Recitativo Alt, Continuo
Doch meint es auch dabei
Mit eurem Nächsten treu!
Denn so steht in der Schrift geschrieben:
Du sollst Gott und den Nächsten lieben.
7. Choral SATB, Oboe d’amore I + II, Oboe da caccia, Streicher, Continuo
Du süße Liebe, schenk’ uns deine Gunst,
Lass uns empfinden der Liebe Brunst,
Dass wir uns von Herzen einander lieben
Und in Friede auf einem Sinn bleiben.
Kyrie eleis.
Während Bachs Kantate zum 18. Sonntag nach Trinitatis aus dem Jahr 1724 thematisch auf den Aspekt der Herkunft und Abstammung Christi anspielt, verlegt die hier besprochene Kantate ihren Schwerpunkt auf die ebenfalls im heutigen Sonntagsevangelium erwähnte Bedeutung der Gottes- und Nächstenliebe.
Im Rezitativ Nr. 6 wird das wieder einmal hinreißend knapp und prägnant zusammengefasst mit den Worten:
Zitat„Denn so steht in der Schrift geschrieben: Du sollst Gott und den Nächsten lieben.“
Zwei Solisten stehen in dieser Kantate absolut im Vordergrund: Der Solo-Alt (es gibt keine anderen Solisten in dieser Kantate) und die konzertant eingesetzte Orgel.
Das macht diese Kantate (vom kurzen und daher eigentlich überflüssigen Schlusschoral abgesehen) zu einer ganz besonderen Art von Solo-Kantate: Eine in mehreren Sätzen stattfindende Demonstration der Darstellungs- und Musizierkunst beider „Protagonisten“ – mal allein, mal mit- (oder gegen-?) -einander...
Allerdings fällt auch auf, dass Bach in vergleichbaren Kantaten, die er für eine Solo-Altstimme komponiert hat (BWV 35 und BWV 170), gerade diese Stimmlage besonders gern mit einer konzertanten Orgelstimme kombiniert hat.
Im Zeitraum von 1725/26 scheint Bach Lust gehabt zu haben, sich wieder einmal mit dem Instrumentalkonzert eingehender zu beschäftigen. Er hatte während seiner Dienstzeit am Köthener Hof (1717-23) ja einige (heute leider überwiegend nicht mehr in ihrer Originalgestalt erhaltene) Konzerte für verschiedene Soloinstrumente mit Orchesterbegleitung komponiert. Und man wird den Eindruck nicht los, dass er sich nach ungefähr drei Jahren Tätigkeit als Leipziger Thomaskantor ein bisschen nach dieser Musizierform zurückgesehnt hat – bis dato hatte er in Leipzig ja fast ausschließlich geistliche Musik in großer Menge (und hoher Qualität!) zu Papier gebracht, einstudiert und aufgeführt.
Der Sinn dürfte ihm daher (jedenfalls fände ich es absolut nachvollziehbar) nach ein wenig Abwechslung gestanden haben – es fällt nämlich auf, dass einige Kantaten, die im Zeitraum um das Jahr 1726 herum entstanden sind, durch teilweise recht ausgedehnte Sinfonien eingeleitet werden, die allesamt aus Bachs Köthener Konzertfundus stammen dürften (siehe neben der hier besprochenen u. a. auch die Kantaten BWV 35, BWV 146, BWV 49 oder BWV 52).
Findig wie Bach mit Sicherheit war, fand er durch diese instrumentalen Einleitungen zu seinen Kantaten Gelegenheit, einige dieser älteren Konzertsätze wieder einmal aufführen zu können und sie gleichzeitig dem Leipziger Publikum präsentieren zu können.
Da viele dieser Sätze als Soloinstrument eine Orgel verlangen, vermuten einige Biographen und Kommentatoren, dass Bach hiermit seinem sechzehnjährigen ältesten Sohn Wilhelm Friedemann (1710-84) Möglichkeit geben wollte, sich als Solist hervorzutun.
Selbst wenn dies nicht der Anlass für den Einsatz der Orgel gewesen sein dürfte – die Wahl des Soloinstruments zeigt, dass Bachs Herz nun einmal besonders für Tasteninstrumente aller Art schlug.
Die meisten der erwähnten Instrumentaleinleitungen aus dieser Zeit sind heute als Cembalokonzerte bekannt (Bach blieb also bei dieser neuerlichen Bearbeitung, die in den 1730er Jahren erfolgte, dem Tasteninstrument als Solist treu!), während die Originalkonzerte aus Bachs Köthener Zeit wahrscheinlich eher für Solo-Oboe oder -Flöte komponiert wurden, jedenfalls vermuten dies viele Rekonstrukteure der heutigen Zeit, die diesen Sätzen ihre Urgestalt wiederzugeben versuchen.
Die Sinfonia, die die hier besprochene Kantate einleitet, ist auch als erster Satz des Cembalokonzerts E-Dur BWV 1053 bekannt, die Arie Nr. 5 ist dort der langsame Mittelsatz “Siciliano“.
Gerade diese Arie zeigt, dass Bach es vorzüglich verstanden hat, eine zusätzliche (Gesangs-) Stimme in den Konzertsatz hineinzukomponieren: Da wirkt nichts unorganisch oder überflüssig – alles fügt sich so selbstverständlich und natürlich ineinander, als wäre es nie anders gedacht gewesen!
Wo der Organist gerade in dieser Kantate eh schon gut beschäftigt war, hat Bach ihm auch in der Arie Nr. 3 eine weitere, allerdings für diese Kantate wohl komplett neu komponierte, anspruchsvoll-solistische Rolle zugedacht.
Wie eingangs schon erwähnt, finde ich den Einsatz eines Chores (wie groß bzw. klein er auch immer gewesen sein mag) für das Absingen einer kurzen Choralstrophe am Ende der Kantate recht unökonomisch. Irgendwie stört der Chor auch das ansonsten so einheitliche Bild dieses Werkes. Meiner Meinung nach wäre er sicher besser beraten gewesen, diese Kantate (wie andere seiner „reinen“ Solo-Kantaten auch) ohne vierstimmigen Schlusschoral zu beenden.