BWV 19: Es erhub sich ein Streit
Kantate zum Michaelistag (Leipzig, 29. September 1726)
Lesungen:
Epistel: Offenbarung 12,7-12 (Michaels Kampf mit dem Drachen)
Evangelium: Matth. 18,1-11 (Den Kindern gehört das Himmelreich; ihre Engel im Himmel sehen das Angesicht Gottes)
Sieben Sätze, Aufführungsdauer: ca. 22 Minuten
Textdichter: nach einer Dichtung Picanders (1724/25), evtl. von Bach selber zur Kantate umgeformt
Choral: aus Freiberg, um 1620
Besetzung:
Soli: Sopran, Tenor, Bass; Coro: SATB; Oboe I + II, Oboe d’amore I + II, Oboe da caccia, Trompete I-III, Pauken, Violino I/II, Viola, Continuo
1. Chor SATB, Oboe I + II, Oboe da caccia, Trompete I-III, Pauken, Streicher, Continuo
Es erhub sich ein Streit.
Die rasende Schlange, der höllische Drache
Stürmt wider den Himmel mit wütender Rache.
Aber Michael bezwingt,
Und die Schar, die ihn umringt,
Stürzt des Satans Grausamkeit.
2. Recitativo Bass, Continuo
Gottlob! der Drache liegt.
Der unerschaff’ne Michael
Und seiner Engel Heer
Hat ihn besiegt.
Dort liegt er in der Finsternis
Mit Ketten angebunden,
Und seine Stätte wird nicht mehr
Im Himmelreich gefunden.
Wir stehen sicher und gewiss,
Und wenn uns gleich sein Brüllen schrecket,
So wird doch unser Leib und Seel’
Mit Engeln zugedecket.
3. Aria Sopran, Oboe d’amore I + II, Continuo
Gott schickt uns Mahanaim zu;
Wir stehen oder gehen,
So können wir in sich’rer Ruh’
Vor unser’n Feinden stehen.
Es lagert sich, so nah als fern,
Um uns der Engel unser’s Herrn
Mit Feuer, Ross und Wagen.
4. Recitativo Tenor, Streicher, Continuo
Was ist der schnöde Mensch, das Erdenkind?
Ein Wurm, ein armer Sünder.
Schaut, wie ihn selbst der Herr so lieb gewinnt,
Dass er ihn nicht zu niedrig schätzet
Und ihm die Himmelskinder,
Der Seraphinen Heer,
Zu seiner Wacht und Gegenwehr,
Zu seinem Schutze setzet.
5. Aria Tenor, Trompete I, Streicher, Continuo
Bleibt, ihr Engel, bleibt bei mir!
Führet mich auf beiden Seiten,
Dass mein Fuß nicht möge gleiten!
Aber lernt mich auch allhier
Euer großes Heilig singen
Und dem Höchsten Dank zu singen!
6. Recitativo Sopran, Continuo
Lasst uns das Angesicht
Der frommen Engel lieben
Und sie mit unser’n Sünden nicht
Vertreiben oder auch betrüben.
So sein sie, wenn der Herr gebeut,
Der Welt Valet zu sagen,
Zu uns’rer Seligkeit
Auch unser Himmelswagen.
7. Choral SATB, Oboe I + II, Oboe da caccia, Trompete I-III, Pauken, Streicher, Continuo
Lass dein’ Engel mit mir fahren
Auf Elias Wagen rot
Und mein’ Seele wohl bewahren,
Wie Laz’rum nach seinem Tod.
Lass sie ruh’n in deinem Schoß,
Erfüll’ sie mit Freud’ und Trost,
Bis der Leib kommt aus der Erde
Und mit ihr vereinigt werde.
Wie die 2 Jahre zuvor anlässlich des Michaelistages entstandene Kantate BWV 130 ist auch die hier besprochene Kantate ausgesprochen festlich instrumentiert: Es wird erneut ein dreistimmiges Trompeten-Ensemble plus Pauken verlangt, das der Kantate (vor allem deren Eingangschor) einen sowohl festlichen wie auch schmetternd-zupackend kriegerischen Charakter verleiht.
Der Text dieser Kantate geht auf eine ursprünglich eigenständige Dichtung von Bachs vielfach bewährten Leipziger Poeten Christian Friedrich Henrici, genannt Picander (1700-64) zurück.
Es lässt sich wohl nicht mehr klären, ob er oder vielleicht sogar Bach höchstselbst die ursprüngliche Michaelisdichtung in die hier vertonte Kantatenform gebracht haben.
Dass Bach durchaus dichterisches Talent hatte und sich (das beweisen schon die musikalischen Umsetzungen der von ihm vertonten Texte) gut in die Aussage einer Dichtung hineinfühlen konnte, haben wir schon an anderer Stelle hier in der Bachkantaten-Ecke feststellen können. So gesehen scheinen also beide Möglichkeiten plausibel.
Während die Kantate BWV 130 ja die schützende Macht der Engelsscharen im allgemeinen pries, wird die hier besprochene Kantate konkreter und erwähnt den in der heutigen Epistellesung (Offenbarung, Kapitel 12, Vers 7-12) beschriebenen Kampf des Erzengels Michael und seiner himmlischen Streitmacht gegen den höllischen Drachen direkt.
Martin Schongauer: Michael und der Drache, Radierung, 1470
Dies führt gleich zu Beginn der Kantate zu einem ausgesprochen furiosen Eingangschor, der wieder einmal Bachs kompositorische Meisterschaft sowohl in Bezug auf eine geradezu spielerische Handhabung der Fugentechnik, wie auch der an der Motette orientierten Textvertonung eindrucksvoll unter Beweis stellt!
Ohne weitere Vorbereitung erhebt sich der gewaltige Streit ab dem ersten Takt dieses Chores – das in nicht allzu strenger Fugenform vorgetragene Thema auf die Worte “Es erhub sich ein Streit“ windet sich förmlich wie der Drache, der vergeblich Michaels scharfem Speer auszuweichen sucht. Wieder einmal eine verblüffend einfache und doch so sinnfällige Idee, dieses Bild musikalisch auszudrücken! Diese musikalische Schlacht wird passend von schmetternden Trompeten und martialischen Paukenschlägen begleitet.
Im Mittelteil des Chorsatzes (ab den Worten “Die rasende Schlange“) legt Bach nun größeren Wert auf gute Textverständlichkeit – der Chor singt daher hier bevorzugt homophon. Das Ganze bekommt hier einen energisch triumphierenden Charakter, dabei stets vorandrängend.
Der Chor ist in Dacapo-Form gehalten, daher wird der erste, fugenartige Teil wiederholt.
Nach dieser kaum zu überbietenden Einleitung setzt Bach mit der Arie Nr. 3 einen bewussten Gegenakzent: Der Solo-Sopran beschwört die “sich’re Ruh’“, die die göttlichen Engelsscharen den Menschen gewähren und wird dabei von zwei Oboi d’amore begleitet (die beiden Oboisten des Eingangschores haben hierzu wahrscheinlich ihre Instrumente gewechselt).
Mit ”Mahanaim” sind besagte Engelsscharen gemeint – der Begriff bezieht sich eigentlich auf einen Ort, an dem Jakob im Alten Testament eben solcher Engelsheere angesichtig wurde.
Nach dem vorbereitenden Rezitativ Nr. 4 beginnt mit der Arie Nr. 5 der nächste Höhepunkt dieser Kantate.
Wie wohl fast alle Kommentatoren möchte auch ich an dieser Stelle auf das geflügelte Wort des großen Bach-Interpreten Albert Schweitzer hinweisen, der den Siciliano-Rhythmus (hier ein charakteristischer 6/8tel Takt), in dem diese Arie gehalten ist, einmal als „Engels-Motiv“ oder „Engels-Rhythmus“ bezeichnete und sich dabei auf die berühmte Sinfonia bezog, die die zweite Kantate des Weihnachts-Oratoriums einleitet und in einem ähnlich wiegenden Rhythmus gehalten ist.
Dies schöne Assoziation vor Augen und Ohren erlebt man die Zeilen “Bleibt ihr Engel, bleibt bei mir!“, die der Tenor in sehnsüchtig-gelöstem Tonfall vorträgt, gleich ganz anders. Das Orchester begleitet die Gesangsstimme in dem erwähnten wiegenden Rhythmus und schafft somit eine geradezu idyllische Atmosphäre.
Aber damit noch nicht genug: Plötzlich und unerwartet erklingt die erste Solo-Trompete über den übrigen Stimmen und trägt zeilenweise eine Choralmelodie vor, was sehr feierlich wirkt. Und Bach wäre nicht Bach, wenn es sich hierbei nicht um irgendeine x-beliebige Choralmelodie handeln würde, sondern die Melodie zum Choral “Herzlich lieb hab’ ich dich, o Herr“ von Martin Schalling (1569/71). Und der Text der dritten Strophe dieses Chorals ist besonders durch ihre Funktion als Schlusschoral der Johannes-Passion berühmt geworden, die Bach zweieinhalb Jahre vor dieser Kantate in Leipzig uraufgeführt hatte: “Ach Herr, lass dein’ lieb Engelein“ – genau an diese Strophe dürften wohl die meisten der damaligen Zuhörer sofort gedacht haben, als sie die Trompetenmelodie erkannten! Was passte besser zum heutigen Tag, als dieser neuerliche Verweis auf die “lieben Engelein“?
Genial, wie Bach quasi auf allen Ebenen Anspielungen und Bezüge zur behandelten Thematik herstellen konnte – warum sich nur auf den tatsächlich gesungenen Text beschränken??
Den Schlusschoral dieser herrlichen Kantate krönt dann noch einmal das Trompeten- und Pauken-Ensemble und verleiht diesem Festtagswerk einen prunkvollen Schlusspunkt!
P.S.:
Wie ich gerade lese, wird der Michaelistag im angelsächsischen Raum offenbar “Michaelmas“ genannt – analog zu “Christmas“, I suppose? Jedenfalls sehr konsequent, wie ich finde.
In diesem Sinne wünsche ich Euch allen heute also „a happy Michaelmas!!!“ :]