BWV 27: Wer weiß, wie nahe mir mein Ende
Kantate zum 16. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 6. Oktober 1726)
Lesungen:
Epistel: Eph. 3,13-21 (Paulus betet für die Stärkung des Glaubens der Gemeinde in Ephesus)
Evangelium: Luk. 7,11-17 (Auferweckung des Jünglings zu Nain)
Sechs Sätze, Aufführungsdauer: ca. 19 Minuten
Textdichter: unbekannt
Choräle: Nr. 1 – Ämilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt (1686); Nr. 6 – Johann Georg Albinus (1649)
Besetzung:
Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Oboe I + II, Oboe da caccia, Horn, obligates Cembalo (od. Orgel), Violino I/II, Viola, Continuo
1. Choral + Recitativo Sopran, Alt, Tenor, SATB, Oboe I + II, Horn, Streicher, Continuo
Wer weiß, wie nahe mir mein Ende?
Sopran
Das weiß der liebe Gott allein,
Ob meine Wallfahrt auf der Erden
Kurz oder länger möge sein.
Hin geht die Zeit, her kommt der Tod.
Alt
Und endlich kommt es doch so weit,
Dass sie zusammenkommen werden.
Ach, wie geschwinde und behende
Kann kommen meine Todesnot!
Tenor
Wer weiß, ob heute nicht
Mein Mund die letzten Worte spricht!
Drum bet’ ich alle Zeit:
Mein Gott, ich bitt’ durch Christi Blut,
Mach’s nur mit meinem Ende gut!
2. Recitativo Tenor, Continuo
Mein Leben hat kein ander’ Ziel,
Als dass ich möge selig sterben
Und meines Glaubens Anteil erben;
Drum leb’ ich allezeit
Zum Grabe fertig und bereit,
Und was das Werk der Hände tut,
Ist gleichsam, ob ich sicher wüsste,
Dass ich noch heute sterben müsste;
Denn: Ende gut, macht alles gut!
3. Aria Alt, Oboe da caccia, Cembalo obbligato (oder Orgel?), Continuo
Willkommen! will ich sagen,
Wenn der Tod ans Bette tritt.
Fröhlich will ich folgen, wenn er ruft,
In die Gruft.
Alle meine Plagen
Nehm’ ich mit.
4. Recitativo Sopran, Streicher, Continuo
Ach, wer doch schon im Himmel wär’!
Ich habe Lust zu scheiden
Und mit dem Lamm,
Das aller Frommen Bräutigam,
Mich in der Seligkeit zu weiden.
Flügel her!
Ach, wer doch schon im Himmel wär’!
5. Aria Bass, Streicher, Continuo
Gute Nacht, du Weltgetümmel!
Jetzt mach’ ich mit dir Beschluss;
Ich steh’ schon mit einem Fuß
Bei dem lieben Gott im Himmel.
7. Choral SATB, Oboe I + II, Horn, Streicher, Continuo
Welt, ade! ich bin dein’ müde,
Ich will nach dem Himmel zu,
Da wird sein der rechte Friede
Und die ew’ge, stolze Ruh’.
Welt, bei dir ist Krieg und Streit,
Nichts denn lauter Eitelkeit,
In dem Himmel allezeit
Friede, Freud’ und Seligkeit.
Wenn man sich Bachs vierten und letzten Kantatenbeitrag zum 16. Sonntag nach Trinitatis ansieht, fällt auf, dass die auch hier als Hauptthema dienende Thematik der (eigenen) Sterblichkeit wiederum einen anderen Betrachtungsblickwinkel einnimmt:
Nach einem geradezu hymnischen Herbeisehnen des eigenen Todes, gepaart mit der Verachtung aller trügerischen Verlockungen der diesseitigen Welt (BWV 161 und BWV 95) und dem Schwanken zwischen Verzagtheit und Hoffnung in Bezug auf das unerbittlich nahende Ende (BWV 8), tritt in der hier besprochenen Kantate nunmehr eine geradezu kindliche Unbekümmertheit und Schicksalsergebenheit, die sich in grenzenlosem Gottvertrauen manifestiert, in den Vordergrund.
Allein die Wortwahl nimmt der eigentlich bedrohlichen Thematik (die in BWV 8 ja noch für Verzagen und Ungewissheit sorgte) jegliche Bedrohung: Da ist von “Ende gut, macht alles gut!“ die Rede, von „Fröhlich will ich folgen“ wenn “der Tod ans Bette tritt“, vom Wunsch nach Flügeln, die die Seele in den Himmel tragen sollen und letztlich vom “lieben Gott“ – eine treuherzig-naive Formulierung, die sich in den Texten der anderen Kantaten für diesen Sonntag nicht findet.
Obwohl von der Anlage her ähnlich (Choralsätze zu Beginn und am Ende), ist diese Kantate jedoch keine Choralkantate in dem Sinne, wie die so bezeichneten Kantaten, die Bach hauptsächlich während des Jahrgangs 1724/ 25 komponierte.
Allein die Tatsache, dass Bach in dieser Kantate zwei verschiedene Choräle verwendet statt einem einzigen (der sich überdies auch textlich und musikalisch-thematisch durch die gesamte Kantate ziehen müsste), spricht gegen eine solche „Gattungszuordnung“.
Trotzdem zeigt sich auch hier wieder einmal, wie groß der Einfluss von Chorälen aller Art stets auf Bachs Schaffen gewesen ist.
Der einleitende Chorsatz ist ähnlich aufgebaut wie einige Sätze aus „richtigen“ Choralkantaten Bachs (z. B. BWV 101 oder BWV 113 Der Choralvortrag (hier durch vierstimmigen Chor, wobei die Choralmelodie beim Sopran liegt, dessen Stimme durch ein Horn verstärkt wird) wird immer wieder durch Rezitativpassagen (der Solisten) unterbrochen, die den Choraltext kommentieren und weitere Gedanken hinzufügen.
Einen interessanten Beitrag zur aktuell hier im Forum geführten Diskussion "Verwendung des Cembalos in Bachs Kantaten" kann hier vielleicht die Arie Nr. 3 leisten:
Bach schreibt hier eine Besetzung mit obligatem Cembalo vor, kombiniert mit einer Oboe da caccia und dem (restlichen) Continuo.
Alfred Dürr schreibt zu dieser Besetzung:
Zitat„Ein Seccorezitativ (Satz 2) führt zu der Alt-Arie (Satz 3), deren ungewöhnliche Instrumentalbesetzung in einer Oboe da caccia und obligatem Cembalo sowie Continuo besteht. Die Arie ist auch mit obligater Orgel statt Cembalo überliefert, und es ist nicht mit Sicherheit zu sagen, ob die Orgel das Cembalo bei einer späteren Wiederaufführung oder vielleicht schon bei der ersten Aufführung ersetzt hat.“
Bleibt also nach wie vor alles im Unklaren?
Ich bin der Ansicht, dass viele Umstände, worüber sich heute die Bach-Forschung jahrelang den Kopf zerbricht, auf oftmals ganz banale Gründe zurückzuführen sind, deren Auswirkungen längst nicht immer die Tragweite und Bedeutsamkeit hatten, die man im Nachhinein hineininterpretieren könnte und möchte...
In der damaligen „Massenproduktion“ stets aktueller Gebrauchsmusik (im wahrsten Sinne des Wortes) musste vieles schnell gehen: Komposition, Einstudierung, Aufführung und dann wieder Neuproduktion weiterer Werke.
Man hat angesichts dieses Pensums damals sicher oft unter gewaltigem Zeitdruck gestanden und daher vieles schnell und pragmatisch entscheiden müssen.
So könnte ich mir z. B. gut vorstellen, dass die Orgel (oder auch nur ein Teil davon), die die hier besprochene Kantate begleiten sollte (sowohl solistisch wie auch im Continuo) defekt war und man es nicht mehr rechtzeitig geschafft hat, den Defekt vor dem entsprechenden Sonntagsgottesdienst zu reparieren. Also schaffte an kurzerhand ein Cembalo aus der benachbarten Kantorenwohnung in die Thomaskirche: Fertig war die Besetzung der Kantate - ausnahmsweise mit obligatem Cembalo (statt wie sonst üblich mit Orgel)...
Könnte doch so gewesen sein, oder? :]
Bach hätte sich sicher amüsiert über manch hitzig und ausführlich geführte Diskussion zu Themen wie diesem – eben weil es eigentlich keine tiefer gehenden Anlässe für derart grundsätzliche Diskussionen gab...