BWV 161: Komm, du süße Todesstunde
Kantate zum 16. Sonntag nach Trinitatis (vermutlich Weimar, 27. September 1716)
Lesungen:
Epistel: Eph. 3,13-21 (Paulus betet für die Stärkung des Glaubens der Gemeinde in Ephesus)
Evangelium: Luk. 7,11-17 (Auferweckung des Jünglings zu Nain)
Sechs Sätze, Aufführungsdauer: ca. 19 Minuten
Textdichter: Salomon Franck (1659-1725), aus dessen „Evangelischem Andachts-Opffer“ (1715)
Choral: Christoph Knoll (1611)
Besetzung:
Soli: Alt, Tenor; Coro: SATB; Blockflöte (Flauto dolce) I + II, Orgel, Violino I/II, Viola, Continuo
1. Aria Alt, Blockflöte I + II, Orgel, Continuo
Komm, du süße Todesstunde,
Da mein Geist
Honig speist
Aus des Löwens Munde.
Mache meinen Abschied süße,
Säume nicht,
Letztes Licht,
Dass ich meinen Heiland küsse.
In einer späteren Leipziger Fassung dazu:
Sopran (+ Violino I/II)
Herzlich tut mich verlangen
Nach einem sel’gen End’,
Weil ich hie bin umfangen
Mit Trübsal und Elend.
Ich hab’ Lust abzuscheiden
Von dieser bösen Welt,
Seh’n mich nach himml’schen Freuden,
O Jesu, komm’ nur bald!
2. Recitativo Tenor, Continuo
Welt! deine Lust ist Last!
Dein Zucker ist mir als ein Gift verhasst!
Dein Freudenlicht
Ist mein Komete,
Und wo man deine Rosen bricht,
Sind Dornen ohne Zahl
Zu meiner Seelen Qual!
Der blasse Tod ist meine Morgenröte,
Mit solcher geht mir auf die Sonne
Der Herrlichkeit und Himmelswonne.
Drum seufz’ ich recht von Herzensgrunde
Nur nach der letzten Todesstunde!
Ich habe Lust, bei Christo bald zu weiden,
Ich habe Lust, von dieser Welt zu scheiden.
3. Aria Tenor, Streicher, Continuo
Mein Verlangen
Ist, den Heiland zu umfangen
Und bei Christo bald zu sein!
Ob ich sterblich’ Asch’ und Erde
Durch den Tod zermalmet werde,
Wird der Seele reiner Schein
Dennoch gleich den Engeln prangen.
4. Recitativo Alt, Blockflöte I + II, Streicher, Continuo
Der Schluss ist schon gemacht:
Welt, gute Nacht!
Und kann ich nur den Trost erwerben,
In Jesu Armen bald zu sterben;
Er ist mein sanfter Schlaf!
Das kühle Grab wird mich mit Rosen decken,
Bis Jesus mich wird auferwecken,
Bis er sein Schaf
Führt auf die süße Himmelsweide,
Dass mich der Tod von ihm nicht scheide!
So brich herein, du froher Todestag!
So schlage doch, du letzter Stundenschlag!
5. Chor SATB, Blockflöte I + II, Streicher, Continuo
Wenn es meines Gottes Wille,
Wünsch’ ich, dass des Leibes Last
Heute noch die Erde fülle
Und der Geist, des Leibes Gast,
Mit Unsterblichkeit sich kleide
In der süßen Himmelsfreude.
Jesu, komm und nimm mich fort!
Dieses sei mein letztes Wort.
6. Choral SATB, Blockflöte I + II, Streicher, Continuo
Der Leib zwar in der Erden
Von Würmern wird verzehrt,
Doch auferweckt soll werden,
Durch Christum schön verklärt,
Wird leuchten als die Sonne
Und leben ohne Not
In himml’scher Freud’ und Wonne.
Was schad’t mir denn der Tod?
Das Evangelium des heutigen Sonntags enthält die bekannte Geschichte von der Auferweckung des Jünglings zu Nain durch Jesus. Zur Barockzeit hat man sich (fast schon erwartungsgemäß) bei dieser Geschichte allerdings weniger auf die Rückkehr des Jünglings ins Leben, sondern viel stärker auf den Aspekt der Sterblichkeit gestürzt.
Auch der Dichter der hier besprochenen Kantate, der Weimarer Hofpoet Salomon Franck, macht da keine Ausnahme: Seine bildreiche und sehr poetische Dichtung ist ein geradezu klassischer barocker Hymnus auf Todessehnsucht und damit verbundener Jenseitshoffnung! Der in die Kantate integrierte Choral von Christoph Knoll ergänzt in seinen Aussagen die Kantatendichtung perfekt.
Bach hat auch diese Kantate, die während seiner Weimarer Dienstzeit (1708-17) entstanden ist, in seinen späteren Leipziger Jahren wieder aufgeführt und hierfür einige Veränderungen angebracht: So wird z. B. die erste Strophe des Chorals von Knoll, die während der Arie Nr. 1 in der Weimarer Originalfassung von der Orgel parallel zum Gesang des Solo-Alts gespielt wird (also rein instrumental ohne Text), nun vom Sopran vorgetragen (ob solistisch oder chorisch mag jedem Interpreten selbst überlassen bleiben).
Außerdem werden die beiden Blockflöten der Weimarer Fassung offenbar durch 2 Traversflöten ersetzt – vermutlich, weil sich diese klanglich besser gegen einen (größeren) Chor durchsetzen können?
Die ursprüngliche Besetzung dieser Kantate ist nämlich – wie viele Weimarer Bachkantaten – eher kammermusikalisch konzipiert. Über die beengten räumlichen Verhältnisse in der Weimarer Schlosskapelle haben wir an anderer Stelle schon diskutiert.
So gesehen ist Alfred Dürrs Vermutung, dass der in dieser Kantate eingesetzte Chor wohl ziemlich klein gewesen sein dürfte (wenn es sich hierbei nicht gar um 4 Solisten gehandelt hat), nicht von der Hand zu weisen. Und zusammen mit einem kleinen Chor dürfte es für die beiden Blockflöten auch kein Problem gewesen zu sein, klanglich einigermaßen präsent zu bleiben.
Jedenfalls ist die Wirkung der Arie Nr. 1, die mit dem Choralvortrag gekoppelt wird, sehr eindrücklich – auch hier kann ich Alfred Dürrs Vergleich nur zustimmen, der auf den ähnlich konzipierten Eingangschor der Matthäus-Passion verweist.
Unter den weiteren Sätzen dieser Kantate fällt vor allem das Rezitativ Nr. 4 auf, das im Gegensatz zum vorangegangenen Secco-Rezitativ (2. Satz) nun aufwendig instrumentiert ist. Bach nutzt die verwendeten Instrumente zur Illustration des gesungenen Textes, wie z. B. das friedliche Bild des erwähnten sanften Schlafes im kühlen Grab, sowie das Schlagen der ersehnten letzten Stunde.
Der 5. Satz wäre in der Kantatendichtung von Salomon Franck eigentlich eine Arie gewesen (der Solo-Alt hätte diese wahrscheinlich in Ergänzung zum vorangegangenen Rezitativ erhalten, ist aber im 1. Satz bereits mit einer Arie bedacht worden), aus dem Bach jedoch kurzerhand einen freudig klingenden Chorsatz gemacht hat.
Wenn der Chor an der Textstelle “Dieses sei mein letztes Wort“ angelangt ist, versteht es sich fast von selbst, dass der Satz dann auch dort kompromisslos zuende geht – derartige Textausdeutungen sind schließlich typisch für den Barock und machen die gesungene Botschaft nur umso eindringlicher und nachvollziehbarer.
Sehr schön im Schlusschoral ist die von Bach hinzugefügte gesonderte Stimme für die beiden gemeinsam spielenden Flöten – sie überstrahlt noch einmal die Choralmelodie, die – meist allerdings lediglich in thematischen Anklängen und Variationen – alle Sätze dieser Kantate wie ein kaum merklicher roter Faden durchzogen hat.
Wie schon bei der Kantate BWV 138 angemerkt, könnte auch eine „choralorientierte“ Kantate wie diese hier Bach zu seinem späteren kompletten Choralkantaten-Jahrgang (begonnen im Sommer 1724) ermuntert und inspiriert haben. Durch das bei ihm immer wieder auftretende musikalische Experimentieren mit vorgegebenen Choralmelodien und deren motivischer Verwendung in den verschiedenen Sätzen ein und derselben Kantate könnte in ihm die Überzeugung gereift sein, die Herausforderung anzunehmen und einen kompletten Kantatenjahrgang auf dieser Gestaltungsidee aufzubauen.