Die Geheimnisse der Mélisande

  • Wieder ein Mädchen, das noch keine Frau ist. Wieder ein Mädchen, das eingesperrt ist. Aber spärlich sind die Symbole ihrer Kindheit. Kindlich ist in erster Linie sie selbst, erschreckend kindlich. Fast ist sie ein wildes Tier, wenn sie da von Golaud gefunden wird an der Quelle, fast wie ein mythisches Mädchen, das von einer Wölfin aufgezogen wurde und nun zum ersten Mal Kontakt mit Menschen hat. Aber es ist nicht ihr erster Kontakt mit Menschen, denn sie besitzt eine Krone, "die er mir gegeben hat", die nun im Wasser liegt. Wer sie ihr gegeben hat, will Golaud wissen. Doch er erhält, wie so oft, keine Antwort.


    Wir können eine Antwort finden. Denn Golaud sagt von sich selbst: "Je suis un homme comme les autres". Welche Erfahrungen immer Mélisande mit einem anderen Mann gemacht hat, sie werden jenen ähneln, die sie mit Golaud macht. Auch von ihm bekommt sie Schmuck, der schließlich im Wasser liegt! Ihre Unschuld, König Arkel betont sie immer wieder, ihre Unschuld und ihre Natürlichkeit machen sie verführerisch in einer Welt, die so in Zwängen lebt - vielleicht auch verführerisch für sehr erfahrene Männer wie Golaud, die sie so seltsam ansehen und sie mit nach Hause nehmen und sie anfassen. Und ihre allzu kindliche Seele rührt wohl von einem traumatischen Erlebnis her, eines, vor dem sie weggelaufen ist. Diese Regression ist ein Schutzmechanismus der menschlichen Psyche. Und Mélisande ist zutiefst schutzbedürftig.


    Sie hat keinen Schutz, hat ihn nie gehabt. Sie hat keine Eltern, die über ihr Leben wachen. Sie hat niemanden; deshalb lässt sie sich mit Golaud ein. Im tristen Königreich Allemonde findet sie Geborgenheit, zuerst mit ihrer Schwiegermutter Geneviève. Vom gemeinsamen Spaziergang im Garten kehrt sie zurück, die Hände voll Blumen. (Blüten! Golaud wird später ihre Hände mit Blumen vergleichen, die er zerdrücken kann!) Dann mit Pelléas, einem Gleichaltrigen, keinem alten Mann mit grauen Schläfen wie ihre bisherigen Bekannten. Ihm vertraut sie ihr geringes Bewusstsein an. (Ja, Mélisandes Seele besteht fast nur aus Unterbewusstsein!) Und er hat Mitleid mit seiner fremden jungen Schwägerin, das bald in Zuneigung umbricht. Beide sind sie zu jung für Liebe. Wenn Golaud sensibler wäre, wenn er mehr von der Seele wüsste, wie Arkel ihm vorhält, dann müsste er Mélisande nicht noch im Angesicht des Todes mit Fragen quälen. Sie sind nicht in Golauds Sinne schuldig geworden. Sie haben nur gemeinsam ins Licht geschaut. Das hilft vielleicht bei jenen düsteren Stimmungsschwankungen, die einen in Allemonde von Zeit zu Zeit heimsuchen und mit denen Pelléas Erfahrung hat. Es war wohl nicht ausreichend, um Mélisandes Seele zu heilen. Und Golaud quält sie weiter. Die Wahrheit will er wissen. Mélisande weiß nicht, was die Wahrheit ist. Sie weiß doch nicht einmal, ob sie schuldig ist. Was ist Schuld? Sie kennt die Kategorien nicht, in denen Golaud denkt.


    Mélisande wird nicht erwachsen. Sie wird es nicht einmal bei der Geburt ihrer Tochter. Sie bleibt ein Kind, das nicht versteht, was geschehen ist. Sie kann nicht ganz nachvollziehen, dass sie selbst beteiligt war an der Geburt dieser Tochter - das ist bei extrem jungen Müttern nichts Ungewöhnliches. Wie sie dort liegt, hätte sie die große Schwester ihres Kindes sein können.


    Wahrscheinlich ist es gut, dass sie stirbt, bevor sie erwachsen wird.

  • Lieber Philhellene, dass ist eine ganz besonders schöne und einfühlsame Beschreibung der Melisande und ich bin gerade zu dieser dämmernden Morgenstunde bewegt, das hier zu lesen. :jubel: :jubel: :jubel:


    Ich sehe es im Grunde so wie du und kann es wahrlich nciht besser ausdrücken. Eine femme mysterieuse, die gerade deshalb zum Gegenstand von Liebesphantasien und Begehrlcihkeiten wird, weil man(n) eben ALLES in sie hineinprojizieren kann.
    Was viellciht noch dazukommt, ist der männliche Erlöser-Willen und der ausgeprägte Beschützerinstinkt. Melisande hat ja etwas sehr Überirdisches und Ätherisches und für mich ist sie vielmehr eine Fee oder eine Nymphe denn eine Frau aus Fleisch und Blut. Es erscheint mir geradezu ein Sakrileg von Golaud, dieses Kind zur Mutter gemacht zu haben.
    Mir fällt auch dieLegende der Melusine (die Klangverwandtschaft der Namen ist nciht zufällig, glaube ich ) dazu ein. Melusine warnt alle Männer davor, sich in sie zu verlieben. Sei weiss nciht was Liebe ist und sagt zu Guy von Lusignan, der ihr verfallen ist:" Du willst von mir, was ich nciht geben kann!..... Je keinem geb ich , was ich vor dir hehle. O Guy von Lusignan, ich habe keine Seele"


    Bei Melisande steht natürlich mehr die Unbewusstheit und Unschuld als das "Seelenlose" im Vordergrund. Aber imgrunde wird sie genauso unwillentlcih und unschuldig zur femme fatale wie Melusine.


    Victoria de los Angeles hat diese Rolle mit ihrer Stimme aus einer anderen Welt kongenial verkörpert und Debussys Musik ist der faszinierendste Klangteppich für eine Figur wie Melisande, den man sich denken kann. Ich glaube manchma,l dass diese Oper eigentlich gar keine Worte bracuht und der Gesang sogar stellenweise mehr stört als zu erhellen.


    Fairy Queen :angel: