Was ist Klassik? Wie soll man unterteilen?

  • Bei mir aktuell in den Ohren





    und






    Die Mannheimer Schule bietet aufregende Musik! Gestern Frau und Kind vom Frankfurter Flughafen abgeholt und unterwegs im Auto die Stamitze und "Nicht-Mannheimer"-Böhmen (Mysliweczek, Reicha) gehört, dazu Dittersdorf und den Kroaten Sorkocevic.


    "Vorklassik" ist ein soooo abwertender Begriff, daß man ihn gar nicht in den Mund nehmen möchte. Warum nicht einfach "Rokoko"?

  • Zitat

    Original von Robert Stuhr


    "Vorklassik" ist ein soooo abwertender Begriff, daß man ihn gar nicht in den Mund nehmen möchte. Warum nicht einfach "Rokoko"?



    Mit dem Begriff der Vorklassik komme ich auch nicht zurecht, weil auch sehr verschiedene Musikstile darunter gefasst werden. Dazu ist der Begriff der "Klassik" auch einer, der eher über drei Komponisten als über anderes definiert ist. Ich helfe mir mit dem Begriff "Musik der Aufklärung". Da finde ich auch Holzbauer gut aufgehoben.


    LG Peter

  • Zitat

    Original von pbrixius


    Mit dem Begriff der Vorklassik komme ich auch nicht zurecht, weil auch sehr verschiedene Musikstile darunter gefasst werden. Dazu ist der Begriff der "Klassik" auch einer, der eher über drei Komponisten als über anderes definiert ist. Ich helfe mir mit dem Begriff "Musik der Aufklärung". Da finde ich auch Holzbauer gut aufgehoben.


    So was. Ebenso wie ich "E" und "U" mochte, hatte ich auch nie etwas gegen "Vorklassik" - ich mochte den Begriff geradezu, weil er im Gegensatz zu "Klassik" keinen so albernen herausstreichenden Charakter hat sondern das Transiente betont (das natürlich jeder Strömung anhaftet).
    :hello:

  • Ist ja in diesem Thread OT, daher nur kurz (sonst könnten die Mods die Beiträge verschieben):


    "Vor-" ist deswegen entwertend, weil es die Komponisten dieser Epoche lediglich als Vorläufer von etwas Vollendetem, quasi Höherwertigem, behandelt. Die Epoche wird als Übergangserscheinung wahrgenommen, was sie nicht ist. Jede musikalische Epoche ist der Vorgänger ihrer Nachfolgerin und in dieser Eigenschaft "Übergang" (wie KSM zu Recht bemerkt). Die Kompositionen dieser Zeit stehen jedoch als vollwertige künstlerische Leistungen neben denen späterer Komponisten.


    Der Begriff sollte meiner Meinung nach - wenn möglich - etwas Charakteristisches der musikalischen Periode enthalten. Musik der Aufklärung kommt daher der Sache deutlich näher, wenngleich nicht alle musikalischen Strömungen dieser Zeit mit dem Begriff "Aufklärung" getroffen werden (zB. nicht das deutschsprachige Lied oder das CPE Bachsche Klavierschaffen).

  • Zitat

    Original von Robert Stuhr
    Der Begriff sollte meiner Meinung nach - wenn möglich - etwas Charakteristisches der musikalischen Periode enthalten. Musik der Aufklärung kommt daher der Sache deutlich näher, wenngleich nicht alle musikalischen Strömungen dieser Zeit mit dem Begriff "Aufklärung" getroffen werden (zB. nicht das deutschsprachige Lied oder das CPE Bachsche Klavierschaffen).


    Ja eben. Es gibt doch eine Reihe von Bezeichnungen, die Charakteristisches beschreiben und demzufolge aber auch nur für einen Teilbereich der Vorklassik gelten:
    Galanter Stil
    Empfindsamer Stil
    Sturm und Drang
    Rokoko
    (Gibt es nicht noch ein paar mehr?)
    All das spielt sich überlappend zwischen 1730 und 1790 ab (Abel und CPE Bach wurden mW nie "hochklassisch").
    Die Zusammenfassung zur "Vor- und Frühklassik" halte ich (davon ausgehend, dass man weiß, worum es geht) für sehr zweckmäßig.
    :hello:

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  • Lieber KSM,


    ich höre jetzt



    Was ist Gluck: Vorklassik? Galanter oder empfindsamer Stil? Sturm und Drang? Rokoko? Wurde er nicht "hochklassisch" genug? Da muss man nur einmal Schillers Worte über Glucks "Iphigenie" lesen ...


    LG Peter

  • Ist doch immer wieder erstaunlich, was alles Diskussionspotenzial hat.
    :D
    Ich dachte bislang, dass man seinen Orfeo zur "Frühklassik" schlägt.
    In die 4 genannten Strömungen gehört das wohl kaum, oder?
    :hello:

  • Zitat

    Original von Kurzstueckmeister
    Ist doch immer wieder erstaunlich, was alles Diskussionspotenzial hat.


    Stimmt :yes:


    Zitat

    Ich dachte bislang, dass man seinen Orfeo zur "Frühklassik" schlägt.
    In die 4 genannten Strömungen gehört das wohl kaum, oder?


    Und der Ezio ist dann Früh-Früh-Klassik? Dabei ist der Begriff der "Klassik" ohnedies mE kein glücklicher (Epochen!)Begriff. Man könnte die Zeit zwischen Gluck und Beethoven aber ohne Probleme als "Musik der Aufklärung" nehmen, die - wie auch die geschichtliche - Strömung vom Rokoko bis zum Sturm und Drang umfasst, aber eben auch die sog. Klassik (Die Così ist eine Oper der Aufklärung, wie es die Nozze ist - und der Fidelio).


    LG Peter

  • den Begriff Vor-Klassik lehne ich ja auch ab, Robert hat das ja genau beschrieben was ich auch daran auszusetzen habe.


    Ich bezeichne diese Epoche einfach als Musik des Rokoko.


    Galanter Stil, Musik der Aufklärung... das passt nicht so recht.
    Zumal die "Galante Epoche" eigentlich den Zeitraum um 1700 beschreibt. Und die Aufklärung hat nur in wenigen Bereichen der Musik Niederschlag gefunden, das waren zwar teilweise epochale Werke, aber damit würde man den größten Teil der Musik dieser Zeit wieder in ein falsches Licht stellen.


    Ich bleibe bei Rokoko - der Begriff funktioniert bei der Architektur, der Malerei, der Literatur, warum nicht auch bei der Musik ?

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  • Zitat

    Original von der Lullist
    Ich bleibe bei Rokoko - der Begriff funktioniert bei der Architektur, der Malerei, der Literatur, warum nicht auch bei der Musik ?


    Wegen der Assoziation, die man bei "Rokoko" hegt (Porzellanschäferinnen), finde ich die Bezeichnung für zentrale Werke CPE Bachs und Glucks, den aus späterer Sicht bedeutendsten Komponisten der Zeit, ziemlich ungeeignet.


    Es ist immer schwierig, wenn ein Begriff von einer anderen Kunstgattung übernommen wird.
    Musik der Aufklärung ist da immerhin etwas allgemeiner, wenn auch nicht besonders scharf.
    Ich bin ebenfalls der Ansicht, dass an "Vorklassik" oder "Frühklassik" nichts auszusetzen ist. Wenn man in einzelnen Fällen konkreter werden will, kann man ja "Mannheimer Schule" oder was es sonst noch gibt verwenden.


    Klassizismus geht nicht. Klassizismus ist immer eine Zeit, in der die Kunst nach dem Vorbild einer als vorbildlich, "klassisch" geltenden Epoche ausgerichtet wird. Von etlichen Werken Mendelssohns und auch Brahms könnte man sagen, dass sie "klassizistisch" sind. Aber Haydn und Mozart komponieren nicht in diesem Sinne nach "klassischen" Vorbildern. Sie greifen höchstens Einflüsse unvollkommener Vorklassiker auf. :D


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Ich bin ebenfalls der Ansicht, dass an "Vorklassik" oder "Frühklassik" nichts auszusetzen ist.


    Sonst müßte man auch Frührenaissance bei Botticelli verwerfen, wenn man meint, dass es abwertend gegenüber der Hochrenaissance bei Leonardo ist.


    Ich empfinde vor-, früh-, spät- und nach- nicht als Abwertungen gegenüber hoch-


    Einfach weil ich weiß, dass es meistens in den vor-, früh-, spät- und nach-Phasen ebenso große Meister gibt wie in den hoch-Phasen.


    hoch- bedeutend nur, dass irgendeine stilistische Eigenschaft besonders rein ausgeformt ist - oder so ...
    :beatnik:


    (schließlich gibt es in den hoch-phasen auch immer massenhaft weniger geniale meister, die aber dennoch dem hoch-phasen-stil entsprechen)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Wegen der Assoziation, die man bei "Rokoko" hegt (Porzellanschäferinnen), finde ich die Bezeichnung für zentrale Werke CPE Bachs und Glucks, den aus späterer Sicht bedeutendsten Komponisten der Zeit, ziemlich ungeeignet.


    Gluck ist aber auch keine Vorklassik, er ist eher Anti-Klassizist.


    Zitat

    Musik der Aufklärung ist da immerhin etwas allgemeiner, wenn auch nicht besonders scharf.


    Die relative Unschärfe eines Epochenbegriffs ist nicht das Schlechteste an ihm. Man hat mir früher versucht beizubringen, dass ohnedies nur die zweite Garde einem Epochenbegriff genügt, die Großen ließen sich nicht eindeutig darunter fassen.


    LG Peter

  • Zitat

    Original von pbrixius
    Gluck ist [...] Anti-Klassizist.


    Angesichts JRs Zeilen ist das sebstverständlich.
    Denn Haydn und Mozart wären demnach auch Antiklassizisten.
    :hahahaha:
    Warum Gluck kein Vor- oder Frühklassiker sein soll, verstehe ich nicht.
    :hello:

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  • Zitat

    Original von Kurzstueckmeister
    Angesichts JRs Zeilen ist das sebstverständlich.
    Denn Haydn und Mozart wären demnach auch Antiklassizisten. [...]


    Warum Gluck kein Vor- oder Frühklassiker sein soll, verstehe ich nicht.


    Lieber KSM,


    das ist hier jetzt auch nicht so wichtig, das diskutiere ich gerne bei der nächsten Gelegenheit eines Gluckthemas. Hier nur noch einmal: Es entwickeln sich nach dem Barock eine Anzahl sich auch widersprechender Stile, die auch über die "Klassik" hinaus weisen. Man kann sie einfach in einem Vorfeld der so benannten "Klassik" stehen lassen, wobei man feststellt, dass diese daran durchaus teilhat, sie durchaus nicht aufhebt oder zur Vollendung bringt, sondern - siehe Sturm und Drang oder Empfindsamkeit - sie eine Sprengkraft haben, die neben der Klassik, über die Klassik hinaus in die Romantik wirken.


    LG Peter

  • Zitat

    Original von pbrixius
    Man kann sie einfach in einem Vorfeld der so benannten "Klassik" stehen lassen, wobei man feststellt, dass diese daran durchaus teilhat, sie durchaus nicht aufhebt oder zur Vollendung bringt, sondern - siehe Sturm und Drang oder Empfindsamkeit - sie eine Sprengkraft haben, die neben der Klassik, über die Klassik hinaus in die Romantik wirken.


    Ja eben: Vor-Klassik.
    Wegen der Vielschichtigkeit eine ungemein spannende Zeit.


    Übrigens macht doch der Begriff "Klassizismus" auch keinen Sinn, wenn es die klassische Antike nicht gegeben hätte ...


    Ist doch sowas von Wurst, was jetzt "Klassik" heißt und was nicht "Klassik" heißt, solange nicht jeder den Begriff nach eigenem Geschmack umwidmet.
    :pfeif:


  • Hallo zusammen,
    treiben wir das OT doch ein wenig weiter... :D Da ohnehin alle Epochenbegriffe Hilfskonstruktionen sind, mittels derer künstlich Übersichtlichkeit in das undisziplinierte Durcheinander der Geschichte gebracht wird (außer naklar dort, wo sie als programmatische Selbstbezeichnungen von Künstlerbewegungen verwendet werden; allerdings sind diese dann ja zumeist nicht wirklich deckungsgleich mit den späteren kulturhistorischen Epochenbegriffen), finde ich den Begriff der »Vorklassik« genausowenig despektierlich wie den des »Frühbarock« oder der »Spätromantik« oder der »Postmoderne« ;). »Klassik« oder »Hochbarock« sind keineswegs Qualitätssiegel, sondern Ordnungskategorien. Ich meine, man könnte (und sollte) die »Vor-«, Spät-«, »Nach-« oder »Post-«Begriffe positiv auffassen. Das was im Werden ist, im Übergang oder sich im Prozess der reflexiven Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Status Quo befindet, ist doch (womöglich) erheblich dynmamischer, ergebnisoffener, überraschender und interessanter als das »Fertige«, »Volkommene« und »Klassische«. Man sollte Epochenbegriffe schlicht als das begreifen, was sie sind: Krücken - und sollte sie eben nicht mit Qualitäts-/Wertigkeitszuschreibungen verwechseln.
    Herzlichst,
    Medard

  • Zitat

    Original von Klawirr
    Da ohnehin alle Epochenbegriffe Hilfskonstruktionen sind, mittels derer künstlich Übersichtlichkeit in das undisziplinierte Durcheinander der Geschichte gebracht wird (außer naklar dort, wo sie als programmatische Selbstbezeichnungen von Künstlerbewegungen verwendet werden; allerdings sind diese dann ja zumeist nicht wirklich deckungsgleich mit den späteren kulturhistorischen Epochenbegriffen), finde ich den Begriff der »Vorklassik« genausowenig despektierlich wie den des »Frühbarock« oder der »Spätromantik« oder der »Postmoderne« ;).


    Lieber Medard,


    da bin ich mit Dir einer Meinung. Das Problematische für mich ist weniger der Begriff Vorklassik, sondern der Begriff Klassik. Dieser ist mehrdeutig und meint eigentlich keine Epoche sondern das Werk dreier Komponisten. Für mich ist eben die Klassik im Begriff der Musik der Aufklärung mit einbegriffen.


    Zitat

    Man sollte Epochenbegriffe schlicht als das begreifen, was sie sind: Krücken - und sollte sie eben nicht mit Qualitäts-/Wertigkeitszuschreibungen verwechseln.


    d'accord!


    LG Peter

  • Zitat

    Original von pbrixius


    Lieber Medard,


    da bin ich mit Dir einer Meinung. Das Problematische für mich ist weniger der Begriff Vorklassik, sondern der Begriff Klassik. Dieser ist mehrdeutig und meint eigentlich keine Epoche sondern das Werk dreier Komponisten. Für mich ist eben die Klassik im Begriff der Musik der Aufklärung mit einbegriffen.


    Lieber Peter,
    Du hast meine vollste Zustimmung!! Der Begriff des »Klassischen« ist ja tatsächlich zu einem Hochwertwort oder Qualitätssiegel geworden und hat sich (landläufig) weit davon entfernt ein Epochenbegriff unter anderen zu sein (Beispiel: Wir schreiben/diskutieren im »Tamino Klassikforum« über die Musik von Beethoven, Mozart und Hayden aber eben auch über Gluck, Monteverdi, Schönberg und Rihm - alles »Klassik«, oder was? Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang ja auch symptomatisch, daß unter den »Themen die weitergeführt werden wollen« der Link zum Thema »Marco Tutino - ein italienischer Avantgardist?« zum Thread »Klangbilder - Mozart und seine Interpreten führt« :D ). Da liegt IMO das eigentliche Problem. Angefangen hat das schon mit dem Klassiker Goethen, der bekanntlich dereinst verlauten ließ: »Klassik ist das Gesunde, Romantik dagegen das Kranke«. Da erscheint die Romantik als »nach-klassische« Epoche bereits als dekadent, degeneriert, als Niedergang - während das Klassische zur Referenz, zum Maß aller Dinge stilisiert wird (auch wenn Goethen selbst es womöglich gar nicht so gemeint haben mag).
    Vielleicht müssen wir uns einfach von den begrifflichen Setzungen emanzipieren und lernen, auf den Krücken zu gehen und dabei ihren prothetischen Charakter stets mitzudenken...
    Ganz herzlich,
    Medard

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  • DL:


    Zitat

    den Begriff Vor-Klassik lehne ich ja auch ab, Robert hat das ja genau beschrieben was ich auch daran auszusetzen habe. Ich bezeichne diese Epoche einfach als Musik des Rokoko.


    Hallo Lullist, also DAMIT machst du dir es denn doch ein bisschen zu einfach, denn das Schaffen von Georg Matthias Monn (1717-1750) ist ungefähr so rokokohaft, wie ein Bild des William Blake, der ja zeitlich dieser Epoche durchaus zuzurechnen ist, biedermeierhaft ist ! Rokoko beinhaltet für mich (im positiven wie im negativen) das klirren von Mokkatäschen, schmachtende Seufzervorhalte und dgl. mehr. Den eher rau und unwirsch daherkommenden CPE Bach würde ich so ganz gewiss nicht sehen wollen, aber es ist und bleibt nun mal vertrackt, Definitionen zu finden, die ein möglichst großes
    Spektrum abdecken.

    Das geht über das Sagbare hinaus. Das läßt sich nicht deuten und bedarf keiner Deutung. Es kann nur gehört werden. Es ist Musik. (H.H.Jahnn)

  • Zitat

    Original von musicophil
    Vielleicht kann ein Mod meinen Beitrag ändern und die jetzt kopierte Beitrage ersetzen durch den Originalbeiträge hierher zu verschieben.


    Lieber Paul,


    vielen Dank für Deine "Umleitung"


    Zitat

    Original von Klawirr


    Du hast meine vollste Zustimmung!! Der Begriff des »Klassischen« ist ja tatsächlich zu einem Hochwertwort oder Qualitätssiegel geworden und hat sich (landläufig) weit davon entfernt ein Epochenbegriff unter anderen zu sein (Beispiel: Wir schreiben/diskutieren im »Tamino Klassikforum« über die Musik von Beethoven, Mozart und Hayden aber eben auch über Gluck, Monteverdi, Schönberg und Rihm - alles »Klassik«, oder was? Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang ja auch symptomatisch, daß unter den »Themen die weitergeführt werden wollen« der Link zum Thema »Marco Tutino - ein italienischer Avantgardist?« zum Thread »Klangbilder - Mozart und seine Interpreten führt« :D ). Da liegt IMO das eigentliche Problem.


    Lieber Medard,


    die gegenseitige Durchdringung eines nur halbwegs geltenden Epochenbegriffs und dieses "Qualitätsbegriffs" liegt mir in allen Richtungen im Magen. Da mag man behaupten, dass "Vor-Klassik" keine Wertung beinhaltet, de facto ist aber die Konnotation eindeutig. Dass auf der anderen Seite die "Klassiker" in vielfacher Weise mit den unterschiedlichsten Strömungen verbunden sind, ist damit auch unterschlagen worden, ob das Rokoko bei Mozart, der Sturm-und-Drang bei Haydn bis hin zum Biedermeierlichen bei Beethoven. Es wird eine Identität der "Wiener Klassik" behauptet, die nie so bestand - man kann sich etwa keine unterschiedlicheren Opernkomponisten als Mozart, Haydn und Beethoven vorstellen ...


    Zitat

    Angefangen hat das schon mit dem Klassiker Goethen, der bekanntlich dereinst verlauten ließ: »Klassik ist das Gesunde, Romantik dagegen das Kranke«. Da erscheint die Romantik als »nach-klassische« Epoche bereits als dekadent, degeneriert, als Niedergang - während das Klassische zur Referenz, zum Maß aller Dinge stilisiert wird (auch wenn Goethen selbst es womöglich gar nicht so gemeint haben mag).


    Das darf man wohl jeder Epoche/Strömung unterstellen, dass sie sich als die Antwort auf die ästhetische Problemstellung ihrer Zeit verstanden hat.


    Zitat

    Vielleicht müssen wir uns einfach von den begrifflichen Setzungen emanzipieren und lernen, auf den Krücken zu gehen und dabei ihren prothetischen Charakter stets mitzudenken...


    Und dafür sollten wir den Begriff "Klassik" für die Epoche ersetzen und vornehmlich ihn als Synonym für "Kunstmusik" verwenden.


    LG Peter


  • Lieber Peter,
    da hast Du naklar recht. Der Begriff des »Klassischen« suggeriert ja, dass hier etwas eine vollkommene, gültige, letztlich unübertreffbare Form gefunden habe. Die »klassische Musik« erscheint als das Gestalt-Gewordene Ideal von Musik genauso wie »klassische Dichtung« als Gestalt-Gewordenes Ideal von Literatur. Alles was zuvor komponiert oder gedichtet wurde, gerät so zu einer Vorstufe, zu einer Bewegung auf dieses Ideal zu; alles spätere erscheint als Reflex, als Kommentar oder gar als Niedergang.


    Zitat

    Dass auf der anderen Seite die "Klassiker" in vielfacher Weise mit den unterschiedlichsten Strömungen verbunden sind, ist damit auch unterschlagen worden, ob das Rokoko bei Mozart, der Sturm-und-Drang bei Haydn bis hin zum Biedermeierlichen bei Beethoven. Es wird eine Identität der "Wiener Klassik" behauptet, die nie so bestand - man kann sich etwa keine unterschiedlicheren Opernkomponisten als Mozart, Haydn und Beethoven vorstellen ...


    Nun, das haben wir ja an anderer Stelle schon mal kurz andiskutiert. Es ist ein Charakteristikum von Epochenbegriffen (wie von allen Ordnungskategorien), daß sie der Komplexität ihres Gegenstandes nicht gerecht werden (können). Subsumtion unter einen Begriff bedeutet zugleich Homogenisierung, weil Gemeinsamkeiten deutlich betont werden, während differierende Aspekte eher ausgeblendet oder dann als »Personalstil« gefaßt werden. Allerdings habe ich auch so meine Schwierigkeiten damit, zu kleinschrittig zu differenzieren - dann machen Epochenbegriff als Ordnungskategorien irgendwann keinen Sinn mehr.


    Außerdem scheint es mir problematisch bestimmte Begriffe, insbesondere eher allgemein kulturgeschichtliche Kategorien wie etwa »Rokoko«, auf die Musikgeschichte (und übrigens auch auf die Literaturgeschichte) im speziellen übertragen zu wollen (»galanter Stil« scheint mir da sowohl hinsichtlich der Musik als auch der Literatur erheblich besser geeignet und ist zudem auch zeitgenössisch verwandt worden). Schon der Begriff des »Barock« ist ja nicht so richtig stimmig. Was ist das gemeinsam »Barocke« an der Musik zwischen 1600 und 1750? Was verbindet kulturgeschichtlich Monteverdi mit Telemann, so daß man sie in eine »Epoche« steckt (wenn auch mit den Präfixen »Früh« - bzw. »Spät-« versehen) und trennt zugleich etwa Telemann von Gluck, so daß man diese zwei verschiedenen »Epochen« zuordnet? Man könnte sogar zugespitzt fragen: Was verbindet kulturgeschichtlich den frühen Telemann mit dem späten, was eine Zuordnung seines Werks in eine Epoche rechtfertigen würde? Vielleicht wäre es angemessener, neutralere und zugleich spezifischere Begriffe zu finden, die womöglich eher auf technische Aspekte, denn auf letztlich kulturgeschichtliche gründen. »Generalbasszeitalter« etwa hinsichtlich der Musik (wurde oder wird ja durchaus auch verwendet); »Zeitalter der Emblematik« für die Literatur vielleicht. Man könnte naklar auch eher sozialgeschichtliche Kategorien bilden und die Musik und Literatur bis in die 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts schlicht als »höfisch« bezeichnen (was aber macht man dann etwa mit Händels Opern?). Ob sowas hilfreicher ist... Ich fürchte: Nein...


    Von der Romantik an hat man ja dann eigentlich weniger Probleme, weil man hier mit programmatischen Selbstbezeichnungen zu tun hat, die einem das Navigieren im zunehmend unübersichtlich werdenden Gelände (scheinbar) erleichtern. :D



    Zitat

    Das darf man wohl jeder Epoche/Strömung unterstellen, dass sie sich als die Antwort auf die ästhetische Problemstellung ihrer Zeit verstanden hat.


    Das stimmt wohl. Allerdings ist Goethens Sätzchen ein recht spätes Schätzchen - und Goethens Spätwerk (schon der 2. Faust) ist doch recht deutlich infiziert von der kranken Romantik...


    Zitat

    Und dafür sollten wir den Begriff "Klassik" für die Epoche ersetzen und vornehmlich ihn als Synonym für "Kunstmusik" verwenden.


    LG Peter


    Vielleicht hast Du recht. Allerdings funktioniert der Begriff »Klassik« als Synonym für »Kunstmusik« dann immer noch genauso qualifizierend bzw. abqualifizierend, weil das »Nicht-Klassische« (Jazz, Rock, Pop) automatisch als minderwertig gegenüber der »Klassik« erscheint. Das tut uns hier im Forum nicht weh, vielleicht fühlen wir uns dabei sogar ganz gut. Das Problem des »Klassik«-Begriffs als Kampfbegriff sind wir damit aber nicht los (abgesehen davon, daß die damit einhergehende Denkfigur IMO so auch nicht richtig ist. Denn wenn »Klassik« = »Kunstmusik«, dann müßte IMO so einiges aus dem Jazz- und Rocksektor zur »Klassik« gerechnet werden).


    Wie gesagt: ich finde man sollte den Begriff als das nehmen, was er ist: ein Epochenbegriff, ein Konstrukt, eine Ordungskategorie unter anderen - und eben kein Gütesiegel.


    Ganz herzlich,
    Medard

  • Egal, ob es sich um Geschichte, Literatur, Musik oder bildende Kunst handelt: Die Geschichte der Epochenbezeichnungen reicht doch selbst schon sehr lange zurück - und das Gewicht dieser Tradition hat einfach eine normierende Kraft, der man sich nur sehr schwer entziehen kann. Man mag sich darüber streiten, ob der Begriff "Klassik" für die Weimarer oder Wiener Ausprägung abgeschafft gehört. Die Erfolgsaussichten eines solchen Unterfangens dürften allerdings gleich Null sein.


    Viele Epochenbezeichnungen waren ursprünglich pejorativ gemeint ("Mittelalter", "Gotik"). Andere folgen problematischen Entwicklungstheorien: so die hier diskutierte und einem "organischen" Modell von Knospen-Blühen-Verwelken entsprechende Abfolge von Früh-, Hoch- und Spät- (-mittelalter, -gotik, -renaissance, -barock, -klassik, -romantik etc.). Selbst emphatische Selbstetikettierungen wie "Rinascimento" oder "Renaissance" verabsolutieren vielfach einen bestimmten Aspekt, der dann oft auch die Rezeptionsgeschichte dominiert. Das ist alles recht problematisch, aber kaum zu ändern. Jeder kann natürlich für sich selbst oder eine kleine Gruppe von Auserwählten andere Termini und Einteilungen verwenden. Für sinnvoll halte ich das nicht.


    Deshalb stimme ich voll und ganz Medards Vorschlag zu (der ja im allgemeinen auch schon recht oft befolgt wird):



    Zitat

    Original von Klawirr
    Vielleicht müssen wir uns einfach von den begrifflichen Setzungen emanzipieren und lernen, auf den Krücken zu gehen und dabei ihren prothetischen Charakter stets mitzudenken...



    Viele Grüße


    Bernd

  • Das die Begriffe Barock und Rokoko nur bedingt greifen und viele Komponisten damit einfach nicht wirklich in Verbindung zu bringen sind, weil man bei den Begriffen andere Assoziationen hat, ist mir natürlich vollkommen klar.


    Das greift im Grunde bei keiner Kunstform, es gibt immer Künstler die einfach herausstechen und nicht in eine Schublade gesteckt werden können.


    Mir geht es wohl eher um die zeitliche, epochale Bestimmung - und da greifen die Begriffe plötzlich wieder.


    Nur bin ich der Meinung das gerade die Epoche von 1790 - 1830 einen eigenen Namen in der Musik verdient.

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  • Zitat

    Original von der Lullist
    Nur bin ich der Meinung das gerade die Epoche von 1790 - 1830 einen eigenen Namen in der Musik verdient.


    Spät-Klassik? :yes::D
    Beethoven und Schubert haben noch soviel mit Klassik gemeinsam, daß dies keine schlechte Lösung wäre. Ich persönlich rechne sie noch immer zu der klassischen Epoche.


    LG, Paul

  • Für mich sind Beethoven und Schubert aber eher Romantiker als Klassiker. Es zeichnet doch die Romantik überall, auch in Literatur und Kunst, aus, dass sie noch viel mit Klassik gemeinsam hat. Ich zumindest merke deutlich die Entwicklung und den chronologischen Zusammenhang zwischen diesen Epochen. Man sollte die Romantik vielleicht auch in der Musik früher beginnen lassen (die deutsche Klassik ist ja, wahrscheinlich auch bedingt durch eine gewisse politische Instabilität, extrem spät - die internationale Romantik fällt mit dem deutschen Sturm und Drang hinsichtlich der Zeit und wahrscheinlich auch der Motivation ungefähr zusammen) und die Zeit nach ~1850/60 eher Ästhetizismus oder Fin de siècle nennen. Das passt m. E. weitgehend auch zu den betreffenden Werken.


    Für die Übergangszeit zwischen Renaissance und Barock hätten wir aus der Kunst den Manierismus zu vergeben; das trifft im Übrigen auf die Oper der damaligen Zeit durchaus zu: die Musik, die bei Peri und Monteverdi noch in erster Linie textausdeutend war, gerät zunehmend zum Selbstzweck (was auf keinen Fall negativ gemeint ist!).


    Auch gegen die Bezeichnung Rokoko habe ich eigentlich nichts einzuwenden. Es ist doch größtenteils auch in der Musik eine Entwicklung hin zu mehr Leichtigkeit, Verspieltheit und weniger Starrheit, was das Rokoko auch in der Kunst auszeichnet.


    Liebe Grüße,
    Martin

  • Ich bin - mal wieder - auf die Epocheneinteilung gestoßen, als ich im Feil blätterte. Er lehnt die Bezeichnung "Vorklassik" ab, und will die Epoche als "Frühromantik" bezeichnen. Für ihn ist der große Umbruch in der Musik die Zeit grob ab 1730-50. Für ihn passen - wenn ich das jetzt noch richtig in Erinnerung habe - die Wiener Klassiker nicht in die Einteilung. Er setzt sie neben die romantische Entwicklung in der Musik, als separate Linie. Ob das so unbedingt richtig ist, kann man bezweifeln. Immerhin waren Beethovens Symphonien für die Romantiker seiner Zeit der Inbegriff romantischer Musik überhaupt.


    Während ich seine Ansicht vom Umbruch durchaus teile, paßt mir der Begriff "Frühromantik" auch nicht recht. Das ist mir zu allgemein, denn Feil knüpft dabei an die Musik als Ausdruck persönlicher Empfindung, persönlicher Gefühle des Komponisten an, und sieht dies als zentrales Element aller Musik bis heute. Das ist dann aber wieder so allgemein, daß der Begriff als seinen Wert als Unterscheidungsmerkmal verliert.


    Mir geht es in erster Linie darum, die Komponisten dieser Zeit nicht als "Vor-" zu irgendetwas zu begreifen, sondern als Musiker in einer eigenständigen Epoche. Deshalb halt ich eine Anlehnung an den Epochenbegriff, der sonst in der Kunst für diese Zeit üblich ist, für besser als den jetzigen.

  • wie gesagt, die Epoche 1790 - 1830 empfinde ich als eine völlig eigenständige.
    Diese Musik ist - nach meinem Empfinden - viel stärker von der politischen Umwälzungen geprägt, als von der "Romantik"


    gerade Beethoven ist enorm von der Revolutionsmusik geprägt.
    Das ist etwas völlig anderes als der Stil von Mozart und Haydn - jedenfalls empfinde ich das so.
    Da schwingt auf der einen Seite diese Aufbruchstimmung mit, auf der anderen die Melancholie oder Trauer über das verlorene Zeitalter vor 1789.
    Ich glaube damals herrschte eine große Orientierungslosigkeit, diese "Suche", dieses "herumirren" dieses "Angst vor Veränderungen" ist in der Musik einfach mit dabei.


    Mann darf nicht vergessen, dass dort ein System in Frage gestellt wurde, was ja nicht nur die Regierung betraf, sondern das ganze gesellschaftliche Leben - diese Epoche zwischen den Revolutionen ist einfach etwas ganz eigenes.


    Robert Stuhr
    Eine ähnliche Überlegung hatte ich auch schon, denn die Romantik an sich ist ja schon im 18. Jahrhundert anzutreffen. Der "Sturm und Drang" ist für mich ganz klar der Ursprung der Romantik. Vielleicht ist das 18. Jahrhundert vielleicht die echte romantische Epoche.
    Also sollten wir uns mal überlegen wie wir die Musik des 19. Jahrhundert in Zukunft nennen :D

  • Zitat

    Original von der Lullist
    wie gesagt, die Epoche 1790 - 1830 empfinde ich als eine völlig eigenständige.
    Diese Musik ist - nach meinem Empfinden - viel stärker von der politischen Umwälzungen geprägt, als von der "Romantik"


    Lieber Matthias,


    Können wir die Einteilung der Aufklärung folgen? Dann würde Die Epoche 1790-1830 zu der Spät-Aufklärung gehören.


    LG, Paul

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