Historische Interpretationspraxis auf Tonträger im Laufe der Jahrzehnte - von den Wurzeln bis heute

  • Manchmal entgleisen Threads - und manchmal bringen diese Entgleisungen fruchtbares Hervor - nämlich neue Themen.


    So auch in diesem Fall, wenn ich mich nicht irre wurde im Thread über die Auswirkung von Tonaufnahmen auf Live Interpretationen begonnen über den Zeitpunkt der Wurzeln von "Historisierenden" (das trifft es IMO besser als "HIP") zu diskutieren.


    Und genau das soll nun hier geschehen, Wann waren die ersten Versuche (auf Schallplatte) "historisch korrekt" zu interpretieren, welche Wandlungen machte diese Bewegung im Laufe der Jahrzehnte durch - Wer waren ihre Protagonisten - wer ihre Gegener - Was wird heute als Irrweg angesehen, was als sinnvolle Vorstufe zur heutigen Praxis.
    Und last but not least - wie schätzt Ihr die herutigen, vom Zeitgeist des geginnenden 21. Jahrhunderts geprägten Aufnahmen ein ?


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt


    So auch in diesem Fall, wenn ich mich nicht irre wurde im Thread über die Auswirkung von Tonaufnahmen auf Live Interpretationen begonnen über den Zeitpunkt der Wurzeln von "Historisierenden" (das trifft es IMO besser als "HIP") zu diskutieren.


    Und genau das soll nun hier geschehen, Wann waren die ersten Versuche (auf Schallplatte) "historisch korrekt" zu interpretieren, ...


    Vielleicht sollte man auseinanderhalten, was das "Historisieren" und dessen Erscheinen auf Tonträger betrifft.
    Das Verwenden originaler Instrumente – von mir hier als Teildisziplin betrachtet – ist nie von einer Unterbrechung betroffen gewesen. Nur war es ein wenig aufs Abstellgleis geraten, noch nicht einmal so sehr im Blick der Öffentlichkeit, denn Aufführungen fanden sehr wohl ihr Publikum. Nur wurden sie als etwas Exotisches betrachtet. Hierher gehören solche Namen wie Boulanger, Poulenc, Dolmetsch und sicher noch andere.
    Weitgehend verloren gegangen war dagegen die Spielweise, die man auf diesen Instrumenten verwendet hatte.
    Die Musikwissenschaft ist vergleichsweise jung, als Hilfswissenschaft der ausführenden Musiker beginnt sie vielleicht in den 1880er oder -90er Jahren zu wirken. In Deutschland etwa waren es heftige Auseinandersetzungen innerhalb der Bach-Gesellschaft, die zu experimentellen Aufführungen führten, bei denen Cembali wieder als Generalbassinstrumente eingesetzt wurden. Und erst sehr viel später kamen Arbeiten über historische Fingersätze, Stricharten, Artikulation, Phrasierung und und und in Umlauf.
    Seit Beginn des 20. Jh. wurden die Bemühungen in vielerlei Hinsicht intensiviert. Eine Rolle, wenn auch keine allzu große, spielt hier auch die Wandervogelbewegung. Die Früchte wurden aber zunächst in privaten Zirkeln und akademischen Brutstätten geerntet.
    Auch hier waren die 1000 Jahre von 1933 bis 1945 eine Unterbrechung. Der wahrhaft wirksame Aufschwung in Wissenschaft und praktischer Umsetzung muss aber dann bald nach Ende des Krieges eingesetzt haben.


    An die gelb eingehüllten Single- und später Langspielplatten der DGA kann ich mich jedenfalls gut erinnern. Sie kamen mit Anspruch und Karteikarte daher und offerierten ein Repertoire, das es bisher kaum zu hören gab.
    Für mich war natürlich Walcha – auch wenn man ihn nicht einfach unter HIP einordnen kann – mit seiner ersten Bach-Gesamteinspielung wichtig, aber an Monteverdi-, Händel-, Locatelli- (:D), Schütz- und viele andere -Aufnahmen kann ich mich auch noch erinnern.
    Später sprang das "Alte Werk" von Telefunken auf den fahrenden Zug und hatte in Leonhardt einen starken Protagonisten.
    Mich würde allerdings auch interessieren, wie z. B. in den Niederlanden dieser Weg gegangen und wahrgenommen worden ist. Dort war doch ein früher Hort der "Historiker".



    Zitat

    welche Wandlungen machte diese Bewegung im Laufe der Jahrzehnte durch - Wer waren ihre Protagonisten - wer ihre Gegener - Was wird heute als Irrweg angesehen, was als sinnvolle Vorstufe zur heutigen Praxis.
    Und last but not least - wie schätzt Ihr die herutigen, vom Zeitgeist des geginnenden 21. Jahrhunderts geprägten Aufnahmen ein ?


    Das sind Fragen, mit deren Antwortversuchen man Bücher füllen könnte. Und ob es der Zeitgeist ist, der die neuesten Aufnahmen prägt? Man darf auch die immer gültigen Marktgesetze und ein bisschen vielleicht auch den alten Kumpel Schlendrian dahinter vermuten. Man hat sich eingerichtet. Die Zahl derer, die sich ernsthaft mit den Quellen auseinandersetzen, ist kleiner geworden. Eine Tradition wird beherrscht, auch wenn sie erst ein paar Jahrzehnte alt ist. Revolutionen sind eh nicht mehr zu erwarten, historische Aufführungspraxis ist ein Lehrfach geworden.
    Aber wissen wir alles? Können wir alles so umsetzen, dass es zu lebendiger Musik wird?
    Die frühen Aufnahmen, denen man noch den Versuch, die Vorläufigkeit, anhört, haben manchmal einen größeren Reiz als die mittlerweile so oft ins Aalglatte abgedrifteten neuesten Aufnahmen dieser Oper oder jenes Concertos.

  • Zitat

    Original von Hildebrandt
    Mich würde allerdings auch interessieren, wie z. B. in den Niederlanden dieser Weg gegangen und wahrgenommen worden ist. Dort war doch ein früher Hort der "Historiker".


    Das verlief nicht glatt, sondern mit Holpern und Stoßen. Es führte z.B. letztlich zu einem richtigen Bruch in der Bachverein. :D
    Wer sollte Bachs MP ausführen in der Kirche in Naarden? Die moderne HIPpers oder die eher Mengelbergartige Traditionalisten (gigantische Chöre, sehr schleppende Tempi).
    Danach wurde - wenn ich mich nicht irre - "neu" in Naarden gespielt, und gab die Splitterfraktion jährlich eine MP in Den Haag. Wie lange das so dauerte, weiß ich aber nicht und ob das auch jetzt noch so ist... Da habe ich keine blasse Ahnung.


    LG, Paul

  • Ich wusste nicht genau, wo ich es unterbringen sollte, aber hier scheint es mir einigermaßen zu passen.


    In der Frankfurter Rundschau gibt es ein interessantes Interview mit dem Dirigenten Thomas Hengelbrock zu lesen


    Hier


    Mit Gruß von Carola

  • Pro Musica Antiqua in Regensburg, die auch die dortigen Tage Alter Musik veranstalten und eine Zeitschrift (Toccata) herausgeben, haben vor Jahren zwei Broschüren zu diesem Thema herausgebracht, die in knapper Form die Geschichte der HIP-Bewegung zusammenfassen:



    EUR 6.55 (+ EUR 1,- Versandkosten)
    Inhalt:


    Geschichte der historischen Aufführungspraxis in Grundzügen
    Teil 2: Von 1970-1990
    Robert Strobl
    SCHRIFTEN von PRO MUSICA ANTIQUA, Nr, 7
    EUR7.60 (+ EUR 1,.- Versandkosten)
    Inhalt:



    Nicht optimal, aber ein erster Versuch, und nicht teuer.


    Ich stimme Hildebrandt zu, dass es solche Versuche eigentlich schon immer gegeben hat, z.B. in Frankreich, als man wie besessen versuchte, alles zu dokumentieren, was am Hof Ludwig XIV. wie genau gemacht wurde.
    Liest man Paul Hindemiths Aufsatz "Bach, ein verpflichtendes Erbe", möchte man ihn manchen selbstgefälligen Dirigenten, die sich HIP schimpfen, um die Ohren hauen!
    Vieles der offenen Ablehnung, die heutzutage der HIP (und ihren Liebhabern) entgegenschlägt, hat meiner Ansicht nach viel mit liebgewordenen Hörgewohnheiten zu tun, die weit mehr emotional als rational begründet sind, und der Angst vor Neuem, den wissenschaftlichen Ansprüchen und dem Unwillen, sich radikal in Frage zu stellen - letzteres zieht sich durch die ganze Gesellschaft.
    Mir erscheint das Festhalten an im 20. Jahrhundert etablierten Interpretationsgewohnheiten stärker rückwärtsgewandt als das Bestreben der HIP, mit einem ungewohnten Klangbild Hörgewohnheiten aufzubrechen und neue Hörerlebnisse zu ermöglichen. Nicht alles ist ein Fortschritt, was in den letzten 200 Jahren in Kultur und Gesellschaft aufgtaucht ist - ein gesunder Mix ist wie immer angebracht.
    Die Debatten erinnern mich oft sehr stark an die zwischen Vertretern der Schulmedizin und denen alternativer Heilverfahren, da wird auch nicht immer rational argumentiert, es geht eher um die Verteidigung etablierter Pfründe und hat Züge eines Glaubenskrieges. Von den kommerziellen Aspekten des Musikbetriebes ist das allles meiner Ansicht nach nicht zu trennen.


    Danke für den Link zum Interview mit Hengelbrock, der ja auch die Anfeindungen erwähnt - obwohl niemand sagt, dass es so oder so falsch ist, fühlen sich manche sofort angegriffen.

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  • Wobei ich schon sagen würde, dass sich auch "HIP" in den letzten 20 Jahren verändert und weiterentwickelt hat.


    Ich selber mag diesen Ansatz jedenfalls bei den frühen Aufnahmen aus den Achtzigern fast nie, das ist mir zu hart und zu harsch, zu wenig schwelgerisch und auf Schönklang hin interpretiert. Was aber vielleicht auch an der frühen Digitaltechnik liegen mag, das kann ich nicht beurteilen.


    Zum Beispiel diese Aufnahme, die offenbar schon etwas älter ist und die ich einfach grässlich finde:



    Man mag natürlich darüber streiten, ob Schönklang, Schwelgen, Weichheit überhaupt angemessene Kriterien sind für z. B. Barockmusik. Aber bei neueren HIP-Aufnahmen finde ich jedenfalls schon eher die ganze Bandbreite, z.B. bei Monica Huggett oder in der Kammermusik bei den "Mozartean Players" - und das gefällt mir sehr.


    Vermutlich werde aber auch ich, mit fortschreitendem Alter, zunehmend an der bei mir gerade sich verfestigenden Hörgewohnheit, genannt "HIP" uneinsichtig festhalten. Zumal ich mich nun gerade erst mit Mühe an den Klang des Fortepianos gewöhnt habe und ihn immer lieber mag.


    Mit Gruß von Carola

  • Zitat

    Original von miguel54
    Pro Musica Antiqua in Regensburg, die auch die dortigen Tage Alter Musik veranstalten und eine Zeitschrift (Toccata) herausgeben, haben vor Jahren zwei Broschüren zu diesem Thema herausgebracht, die in knapper Form die Geschichte der HIP-Bewegung zusammenfassen:


    Habe ich letzte Woche erst gekauft und gleich verschlungen. Danach hat es im 3.Reich offenbar keine Unterbrechung gegeben, wenn ich mir die Aktivitäten ua. von Hoesch und die Kabeler Musiktage ansehe. Im Elste wird noch auf die Bemühungen Hermann Dieners und seines Kammerorchesters eingegangen, auch eine Aufnahme mit ihm ist auf der dem Buch beiliegenden CD enthalten. Wo da aber die Grenzen zwischen HIP und "Neuer Sachlichkeit" zu ziehen sind, ist schwer zu sagen.


    Von der Tätigkeit der Schola Cantorum Basiliensis hatte ich schon gehört und gelesen. Aber wie sehr sich Paul Sacher schon vor 1939 für die Wiederbelebung alter Musik eingesetzt hatte, war mir neu (sehr spannend zu lesen).


    Leider fehlen in den beiden Pro Musica- Bänden die letzten Jahre, aber ein exzellenter Startpunkt in deutscher Sprache sind sie allemal.


    Meiner Meinung nach - ohne die Verdienste von Harnoncourt und Zeitgenossen schmälern zu wollen - die gedankliche Vorarbeit hat die Generation vor Ihnen geleistet. Den großen Durchbruch - gerade auch in der Musikindustrie und beim Publikum - hat aber die Harnoncourt-Generation geschafft.


    Ein Vergleich zwischen HIP und dem traditionellem romantischen Stil ist nicht immer einfach, zumal mE das Barockrepertoire im romantisierenden Stil doch recht begrenzt gewesen ist, jedenfalls im Vergleich zu heute und zum Material, das in den Archiven schlummert. Wieviel Alte Musik liegt nicht ausschließlich in HIP vor?


    Für mich sind zwei Schwerpunkte von Bedeutung:
    1. Wie klingt, über den rein musikwissenschaftlichen Aspekt hinaus - die Aufnahme musikalisch? (Hat ja auch Carola schon angemerkt). Ich mag keine "dogmatische" Interpretation, will sagen, wer beim musikwissenschaftlichen Ansatz steckenbleibt, hat das Klassenziel für mich nicht erreicht.


    2. Ich verfolge (Stichwort Schoonderwoerd) die Weiterentwicklung der HIP auf jüngeres Repertoire mit großem Interesse. Anthony Newman, Malcom Bilson, Steve Lubin, Immerseel, Grossmann sind da nur einige Namen. Chopin, Debussy auf Originalinstrumenten, das klingt für mich ganz neu, bisher "unerhört".


    Ein zentraler Aspekt bei der HIP it für mich der Respekt vor dem Komponisten und dem Werk in seiner Zeitgebundenheit.


    Ich will damit nicht sagen, daß bei der romantisierenden Interpretation respektlos mit dem Werk des Komponisten umgegangen worden ist, auch sie steht schließlich in einer langen Tradition. Aber der Umgang mit den beiden genannten Dingen war doch ein anderer, mehr eine Eingebundenheit des Werkes in den jeweils aktuellen Stand der Aufführungs- und Interpretationspraxis.

  • Zitat

    Original von Robert Stuhr
    Danach hat es im 3.Reich offenbar keine Unterbrechung gegeben, wenn ich mir die Aktivitäten ua. von Hoesch und die Kabeler Musiktage ansehe.


    Da bezog ich mich darauf:


    Dieter Gutknecht: Studien zur Geschichte der Aufführungspraxis


    Studien zur Geschichte der Aufführungspraxis Alter Musik. Ein Überblick vom Beginn des 19. Jh. bis zum Zweiten Weltkrieg


    2. Aufl., concerto Verlag, Köln, 340 S., ISBN 3-9803578-9-9, 24,80 €





    Aber das Regensburger Traktat bestelle ich jetzt auch. :yes: