Die Bachkantate (132): BWV77: Du sollt Gott, deinen Herren, lieben

  • BWV 77: Du sollt Gott, deinen Herren, lieben
    Kantate zum 13. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 22. August 1723)




    Lesungen:
    Epistel: Gal. 3,15-22 (Verheißung und Gesetz)
    Evangelium: Luk. 10,25-37 (Gleichnis vom barmherzigen Samariter)



    Sechs Sätze, Aufführungsdauer: ca. 17 Minuten


    Textdichter: unbekannt
    Choral: evtl. von David Denicke (1657)



    Besetzung:
    Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Oboe I + II, Tromba da tirarsi (Zugtrompete), Violino I/II, Viola, Continuo





    1. Chor SATB, Tromba da tirarsi, Streicher, Continuo
    Du sollt Gott, deinen Herren, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und vom ganzen Gemüte und deinen Nächsten als dich selbst.


    2. Recitativo Bass, Continuo
    So muss es sein!
    Gott will das Herz vor sich alleine haben.
    Man muss den Herrn von ganzer Seelen
    Zu seiner Lust erwählen
    Und sich nicht mehr erfreu’n,
    Als wenn er das Gemüte
    Durch seinen Geist entzünd’t,
    Weil wir nur seiner Huld und Güte
    Alsdenn erst recht versichert sind.


    3. Aria Sopran, Oboe I + II, Continuo
    Mein Gott, ich liebe dich von Herzen,
    Mein ganzes Leben hangt dir an.
    Lass mich doch dein Gebot erkennen
    Und in Liebe so entbrennen,
    Dass ich dich ewig lieben kann!


    4. Recitativo Tenor, Streicher, Continuo
    Gib mir dabei, mein Gott! ein Samariterherz,
    Dass ich zugleich den Nächsten liebe
    Und mich bei seinem Schmerz
    Auch über ihn betrübe,
    Damit ich nicht bei ihm vorübergeh’
    Und ihn in seiner Not nicht lasse.
    Gib, dass ich Eigenliebe hasse,
    So wirst du mir dereinst das Freudenleben
    Nach meinem Wunsch, jedoch aus Gnaden geben.


    5. Aria Alt, Trompete, Continuo
    Ach, es bleibt in meiner Liebe
    Lauter Unvollkommenheit!
    Hab’ ich oftmals gleich den Willen,
    Was Gott saget, zu erfüllen,
    Fehlt mir’s doch an Möglichkeit.


    6. Choral SATB, Trompete, Oboe I + II, Streicher, Continuo
    (Herr, durch den Glauben wohn’ in mir,
    Lass ihn sich immer stärken,
    Dass er sei fruchtbar für und für
    Und reich in guten Werken;
    Dass er sei tätig durch die Lieb’,
    Mit Freuden und Geduld sich üb’,
    Dem Nächsten fort zu dienen.)






    Das Evangelium des heutigen Sonntags beinhaltet die bekannte Geschichte vom barmherzigen Samariter, der sich als einziger um das hilflos am Wegesrand liegende Opfer eines brutalen Raubüberfalls kümmert, während ein Priester und ein frommer Levit (achtbare Leute also, von denen man eine selbstlose Hilfeleistung erwarten würde) zuvor achtlos an diesem vorübergegangen waren.
    Der Samariter hingegen, obwohl einer Gegend entstammend, deren Bewohner von den Judäern und Galiläern eher gering geschätzt wurden, hilft sofort uneigennützig – versorgt die Wunden des Opfers mit Wein und Öl, transportiert dieses in eine Herberge und lässt sogar noch Geld zurück, damit eine weitere Pflege vor Ort gewährleistet ist.
    Diese Geschichte, mit der Jesus ein Beispiel wahrer Nächstenliebe demonstrieren möchte, erzählt er einem Schriftgelehrten, der Jesus prüfen möchte und von ihm wissen will, wie man das ewige Leben erlangen könne. Auf die Gegenfrage Jesu, was denn dazu im Gesetz stehen würde, antwortet der Schriftgelehrte mit den Worten, die die hier besprochene Kantate eröffnen (Lukas, Kapitel 10 Vers 27). Jesus antwortet darauf lapidar: „Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.“ Auf die Frage des Schriftgelehrten, wer denn dieser ominöse „Nächste“ sei, den man lieben solle, wie sich selbst, erzählt Jesus das erwähnte Gleichnis vom barmherzigen Samariter.


    Für Jesus ist die Bedeutung der Liebe zu sich und seinem Nächsten (und natürlich zu Gott) das Zentrum der gesamten mosaischen Gesetzgebung, auf der ja das Judentum fußt. Alle zahl- und detailreich formulierten Gebote, die „das Gesetz“ enthält, sind nichts weiter als eine oft bis in kleinste Details gehende Auslegung dieser Liebesbotschaft. Das ganze Gesetz wäre eigentlich überflüssig, wenn die Menschen ohne Vorbehalt nach diesem Liebesgebot leben würden.


    Bach veranschaulicht diese für das Christentum ja ganz zentrale theologische Botschaft in verblüffend einfacher wie überzeugender Manier:
    Der Eingangschor, der aus dem erwähnten Bibelwort besteht, wird von einer alle übrigen Stimmen überstrahlenden Trompetenstimme „gekrönt“, die die Choralmelodie von “Dies sind die heil’gen zehn Gebot’“ vorträgt. Sinnfällig wird hiermit demonstriert, dass diese Gebote allesamt im vom Chor vorgetragenen Liebesgebot enthalten sind und sie quasi „nur“ ein Bestandteil dieser Forderung sind. Um dem Ganzen quasi einen Rahmen zu geben und die Universalität dieser Botschaft zu demonstrieren, erklingt die Choralmelodie nicht nur in der alles überstrahlenden Trompetenstimme, sondern auch im Bassfundament des Continuo (hier allerdings in langsameren Notenwerten als in der Trompetenstimme).
    Alfred Dürr weist in dem Zusammenhang darauf hin, dass der mehrfach unterbrochene Choralvortrag der Trompete von Bach offenbar ganz bewusst so konzipiert wurde, dass die Trompete in diesem Satz genau zehn Mal neu einsetzt.
    Ich finde es wirklich bewundernswert, wie viel Gedankenfülle und Ideen Bach in Sätze wie diesen gesteckt hat – und dieser Satz ist ja nur ein typisches Beispiel für viele andere aus seinem Oeuvre!
    Was da alles an Kreativität, Phantasie und Symbolhaftigkeit verarbeitet wurde – man mag es manchmal kaum glauben. Und es sind oft so verblüffend einfache und sinnfällige Ideen, die einem dort begegnen – mehr kann man dazu nicht sagen: Bach ist für mich da ein singuläres Phänomen. :jubel::jubel:


    Die Arie Nr. 3 ist ein inniges Bekenntnis zur Liebe zu Gott, was durch den Einsatz der beiden Oboen unterstrichen wird – die Arie klingt dadurch sehr nachdrücklich und eindringlich, bzw. beseelt. :angel:


    Die Arie Nr. 5 enthält ein weiteres Trompetensolo – interessanterweise ist der Satz nicht wie sonst bei derartigen Trompeteneinsätzen in strahlendem C-Dur oder D-Dur gehalten, sondern steht in d-moll.


    Der Schlusschoral ist ohne Text überliefert worden. Die Melodie ist die des Chorals “Ach Gott, vom Himmel sieh darein“ und es hat anscheinend im Lauf der Zeit einige (auch unpassende) Vorschläge gegeben, welche Textstrophe hier wohl passenderweise zu singen wäre. Die auch von Alfred Dürr favorisierte Choralstrophe von David Denicke scheint am ehesten zu dem vorher in der Kantatendichtung gesagten (bzw. gesungenen) zu passen.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)