1. Geschichtlicher, biographischer Hintergrund
Eigentlich war alles gut. Das erste Scherbengericht („Chaos statt Musik“) lag lange zurück und Schostakowitsch hatte sich seine herausragende Stellung zurückerobert. Mit der Leningrader Sinfonie war er zum verdienten Volkskünstler geworden und hatte er für seine Werke verschiedenste Auszeichnungen erhalten (u.a.: 1942: Stalinpreis I. Klasse für die Symphonie Nr. 7, 1946: Stalinpreis II. Klasse für das Klaviertrio, Leninorden, 1947: Volkskünstler der RSFR).
Dann jedoch, 1948, wurde Schostakowitsch der Boden unter den Füßen weggezogen.
Am 20.02.1948 beschloss das ZK der KPdSU (zitiert nach Gojowy: „Schostakowitsch“, S. 75 f.):
„Schon im Jahre 1036 wurden im Zusammenhang mit der Oper Die Lady Macbeth von Mzensk in der Prawda die formalistischen, volksfremden Verzerrungen im Werke Schostakowitschs einer scharfen Kritik unterzogen und die Gefahr und Schädlichkeit dieser Richtung für die Sowjetmusik enthüllt…Ungeachtet dieser Warnungen und entgegen diesen Weisungen… traten keinerlei Veränderungen in der sowjetischen Musik ein… Besonders schlecht steht es um das sinfonische und um das Opernschaffen. Es handelt sich dabei um Komponisten, die die formalistische, volksfremde Richtung weiter aufrechterhalten. Ihren stärksten Ausdruck fand diese Richtung in den Werken von Komponisten wie Gen. Schostakowitsch, Prokofjew, Chatschaturjan, Popow, Mjaskowski und anderen, in deren Werken formalistische Verzerrungen und antidemokratische Tendenzen, die dem Sowjetvolk und seinem künstlerischen Geschmack fremd sind, besonders anschaulich vertreten sind… Diese Musik hat ihren Geist vollständig der zeitgemäßen, übermodernen bürgerlichen Musik Europas und Amerikas überantwortet, die die Altersschwäche der bürgerlichen Kultur widerspiegelt… Die formalistische Richtung in der Sowjetmusik erzeugte bei einem Teil der Komponisten eine einseitige Begeisterung für schwierige Formen der instrumentalen, sinfonischen textlosen Musik und eine geringschätzige Einstellung zu Musikgattungen wie Oper, Chormusik, volkstümliche Musik für kleinere Orchester, für Volksinstrumente, Gesangsensembles usw.“
Es folgte ein Komponistenkongress, auf dem die Vorgabe umgesetzt wurde. Chrennikow fiel zu Schostakowitsch u. a. ein (abermals zitiert nach Gojowy, S. 77):
„Eine eigentümliche Chiffriertheit und Abstraktheit der musikalischen Sprache verbirgt oftmals im Hintergrund Gestalten und Emotionen, die der sowjetischen realistischen Kunst fremd sind: expressionistische Übertreibung, Nervosität, eine Hinwendung zur Welt der degenerierten, abstoßenden pathologischen Erscheinungen.“
Die Angriffe setzten sich fort. Schostakowitschs Werke wurden faktisch mit einem Aufführungsverbot belegt (mit wenigen Ausnahmen). Er verlor seine Lehrämter, geriet in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Seine Frau musste wieder arbeiten.
Galina Wischnewskaja schildert die damaligen Vorgänge in ihrer Biographie („Galina“) wie folgt (S. 214 f.):
„Im edlen Wettstreit, die Musiker mit Dreck zu bewerfen, bestieg ein Maulheld nach dem andern die Rednertribüne. Und weil es in einem Ein Parteien-System nach solchen Attacken keine Überlebenschancen für den Betroffenen gibt, ist alles, was Schostakowitsch und Prokofjew je geschaffen hatten, an einem Tag zerstört worden. An wen hätten sie sich wenden können – eine Opposition existierte ja nicht. Gewiss gibt es manche, die sich abseits halten und an der Schlägerei nicht teilnehmen, doch kommen auch sie dem Opfer nicht zu Hilfe. Wohin also soll einer gehen? Zur Presse? Die ist fest in den Händen der Partei. Und sollte ein einzelner sich entschließen, ihm beizuspringen, wären ihm von da aan sämtliche Türen zu den Regierungsbüros verschlossen. Auch ein Versuch des Opfers, sich durch Plakatanschläge an die Öffentlichkeit zu wenden, wäre zum Scheitern verurteilt, er zöge seine sofortige Verhaftung nach sich. Ebenso sinnlos wäre es, sich bei einer Versammlung zu Wort zu melden: die organisierte Mehrheit brächten den Redner schnell zum Schweigen.
Schostakowitsch saß in jener Februar-Versammlung, in deren Gedränge keine Stecknadel mehr Platz gefunden hätte, allein in einer leeren Sitzreihe. Das ist bei uns so üblich: Niemand setzt sich neben das Opfer – wie bei einer öffentlichen Hinrichtung. Und das war eine. Mit dem einzigen Unterschied, dass sie dich bei einer Hinrichtung umbringen, hier aber gnädig mit dir verfahren. Sie lassen dich leben. Für diese Gnade aber musst du hier sitzen bleiben, angespuckt wie du bist, und dir alles anhören, was sie dir um die Ohren hauen. Und du musst bereuen. Nicht etwa für dich allein und privat. Nein, du musst dich auf die Rednertribüne begeben und mit lauter Stimme bereuen, deine Ideale in der Öffentlichkeit verraten! Mehr noch, du musst der Partei, der Regierung und dem Genossen Stalin persönlich dafür danken.“
Zweiundvierzig Jahre war Schostakowitsch alt, als ihm das widerfuhr. Er befand sich auf der Höhe seiner schöpferischen Kunst. Was er nun gezwungenermaßen schrieb, war Filmmusik. Als Belohnung für sein Wohlverhalten erhielt Schostakowitsch 1950 den Stalinpreis I. Klasse für das Lied von den Wäldern. Man kann nur den Kopf schütteln. Werke höheren Anspruchs komponierte Schostakowitsch nur noch für die Schublade.
Endlich dann, im März 1953, stirbt Stalin, über den es in Schostakowitschs Memoiren (nach Wolkow) heißt (S. 226):
„Stalin war eine Spinne, die jeden, der in die Nähe ihres Netzes geriet, umbrachte.“
Die Reaktion von Schostakowitsch: Schon im Juli beginnt er seine 10. Sinfonie. Acht Jahre lang hatte er keine Sinfonie mehr geschrieben, die längste Zeit seines Lebens. Im Oktober ist Schostakowitsch fertig. Im November wird die Sinfonie Nr. 10 unter der Leitung von Mrawinski uraufgeführt.
2. Werkbeschreibung
Die Sinfonie besteht aus vier Sätzen: Moderato, Allgero, Allegretto und Andante. Sie dauert insgesamt rund fünfzig Minuten.
Auffällig ist ein zeitliches Missverhältnis insbesondere zwischen den ersten beiden Sätzen. Während die Sätze drei und vier rund zwölf Minuten lang sind, ist der erste rund dreiundzwanzig, der zweite nur viereinhalb Minuten lang.
Die zehnte Sinfonie ist eine von denen, über die man streiten kann: Inwieweit liegt ihr ein Programm zugrunde? Der zweite Satz beinhaltet ein Porträt von Stalin, darüber dürfte vor dem Hintergrund der Memoiren nach Wolkow Einigkeit bestehen. Gibt es aber im dritten Satz ein weiteres Porträt? Sind auch die Sätze eins und vier programmatisch zu verstehen? Haben sie, hat die Sinfonie insgesamt eine außermusikalische Aussage oder Thematik?
Im Booklet der Barshai-CD heißt es: „This personal motto [gemeint ist das DSCH-Motiv] has amongst other signs and the reminiscences given to Solomon Volkov at the end of Shostakovich´s life, led to a suggestion that the Tenth Symphony is a programmatic attack on the Stalin Years. Thus, the first movement represents repression and frustration, the second is a portrait of Stalin as the evil tyrant, the third shows the uncaring State whilst the fourth rather obviously represents hope growing from the dark days”.
In diese Richtung denke ich auch, mit deutlichen Unterschieden bzgl. der Sätze drei und vier. Ich erlaube mir daher, die einzelnen Sätze mit schlagwortartigen, in den Klammern hinter den Satzbezeichnungen zu findenden Überschriften zu versehen.
1. Satz: Moderato (Repression und Frustration)
a) Von Beginn an ist die Musik bedrückend und schwermütig. Sie wird es den gesamten Satz über bleiben. Schostakowitsch verwendet in diesem Satz ganz überwiegend dunkle Töne – mit Ausnahme der Pikkolo-Flöte am Ende – und erzeugt auf diese Weise ein negativ gefärbtes Grundgefühl, ein Gefühl der Niedergeschlagenheit, der Beklemmung, der Frustration.
Eröffnet wird die Sinfonie von Celli und Bässen. Das von ihnen vorgetragene erste Thema besteht aus sechs Noten, die sich unterteilen in zwei aufsteigende Phrasen aus jeweils drei Noten. Den gesamten Satz wird uns dieses Motiv begleiten. So wichtig ist es Schostakowitsch, dass es rund zwei Minuten lang durchgehend präsent ist.
Ab 2:12 (die Zeitangaben beziehen sich wie stets auf die Barshai-CD) spielt die Klarinette eine überaus sangliche, schöne (Viertelnoten-) Melodie, die bei 2:37 von den Violinen übernommen und fortgeführt wird.
Sodann beginnt eine langsame Steigerung. Instrumente treten hinzu. Die Intensität wächst. Bald ist der der erste Höhepunkt erreicht. Auf diesem spielen die Hörner mehrfach die Umkehrung des Anfangsmotivs (ab 4:16), d. h., die drei Noten sind nicht mehr steigend, sondern fallend.
Es folgt ab 4:53 eine kurze choralartige Überleitung, nach der die Klarinetten ab 5:09 erneut ihre Weise spielen
Das zweite Thema erklingt (bei 6:04) in der Soloflöte vor Pizzicato-Hintergrund. Auch hier übernehmen die Violinen die Melodie (6:40). Auch hier kommt es zu einer Steigerung, die jedoch schon im Ansatz wieder abebbt. Die Violinen reichen das Thema weiter zu den Klarinetten (bei 7:30).
Das Fagott beginnt bei 8:52 die Durchführung. Meisterhaft mischt Schostakowitsch die Themen durcheinander. Motive, Motivteile erscheinen in immer neuen Zusammenhängen. Doch nie entsteht der Eindruck eines Mischmasches. Vielmehr entwickelt sich alles vollkommen natürlich, klingt alles, als gehörte es so.
Innerhalb der Durchführung kommt es zum zweiten, zum großen Höhepunkt des Satzes. Auch hier spielen die Hörner an exponierter Stelle mehrfach die Umkehrung des Anfangsmotivs (ab 12:21). Immer wieder fahren die drei Töne hinab, begleitet von gewaltigen Schlägen auf das Tam-Tam und wiederholten Posaunencrescendi. Das Blech schreit (bei 13:52).
Erst bei 15:28 führen die Streicher die Musik vom Erregungsgipfel hinab. Bei 15:51 (dann wieder bei 16:08 ) ist erneut der Überleitungschoral zu hören. Hoffnung keimt auf. Gleich, so denkt der Hörer erleichtert, werden wir wieder die Klarinetten mit ihrer schönen Melodie hören. Aber nein! Zwar ertönen die Klarinetten (bei 16:18 ). Doch die Musik, die sie spielen, ist nicht mehr schön, nicht mehr sanglich, sondern auf eigentümliche Weise substanzlos, fahl und schaurig.
Ab 19:52 beginnt die Coda mit leisem Paukenrollen. Die Pikkolo-Flöte bringt den Satz leise zu Ende und erinnert uns an das Gewesene.
Beim nochmaligen Durchlesen dieser Beschreibung habe ich den Eindruck, dass ich dem Satz nicht gerecht werde. Das liegt nicht daran, dass man noch ein drittes Thema benennen und die motivische Arbeit exakter beschreiben kann, denke ich. Vielmehr scheint mir der Eindruck, den dieser Satz hervorruft, weniger durch die einzelnen – durchaus beachtenswerten – musikalischen Vorgänge hervorgerufen zu werden, sondern wesentlich durch die verwendeten Klangfarben und den tragischen Tonfall der Musik. Der Hörer wird den Satz daher gefühlsmäßig selbst dann verstehen, wenn er sich keinerlei Gedanken über einzelne Motive macht.
b) Was bedeutet nun dieser erste Satz?
Ich erinnere mich an ein Interview mit Kurt Sanderling. Der Interviewer fragte, ob die heutigen Hörer, die die Stalinzeit nicht kennen gelernt hätten, diesen Satz überhaupt begreifen könnten. „Nicht wirklich“, antwortete Sanderling sinngemäß. „Wir, die wir damals gelebt, die wir Zeit durchlitten haben, verstanden die Musik unmittelbar, ohne jede weitere Erklärung. Dieses Verständnis geht verloren.“
Ein solch unmittelbares Verständnis nehme ich für mich selbstredend nicht in Anspruch. Jedoch höre auch ich deutlich heraus, dass die Musik düster, dass sie beklemmend ist. Vor dem geschichtlich-biographischen Hintergrund der Sinfonie ist es daher meines Erachtens mehr als nahe liegend in der düsteren Stimmung des ersten Satzes eine Entsprechung der düsteren Zeiten des Stalinismus zu sehen. „Repression and frustration“, ja, das ist passend.
Man kann noch weiter gehen und sich Gedanken über die Bedeutung des Dreitonmotivs machen. „Climb…, only to slide back“, heißt knapp es zur Beschreibung des aufsteigenden Dreitonmotivs in Blokker/Dearlings Buch über die Sinfonien („The Music of Dmitri Shostakovich, The Symphonies“). Und in der Tat erscheint es möglich, das aufsteigende Dreiton-Motiv als Symbol für das Bemühen des unterdrückten Individuums (Schostakowitschs?) in der Diktatur zu verstehen, standhaft zu bleiben, sich stets wieder aufzurappeln, nicht aufzugeben. Die Umkehrung des Dreitonmotivs stünde dann folgerichtig für die Niederwerfung des Individuums durch das Regime (für das Scherbengericht Schostakowitschs? Ist es nur ein Zufall, dass es zwei Scherbengerichte gab, genau wie es im ersten Satz zwei Ausbrüche gibt). Am Ende, darauf sei in diesem Zusammenhang ausdrücklich hingewiesen, erklingt das Anfangsmotiv in ursprünglicher Form, rappelt sich das Individuum (Schostakowitsch?) erneut wieder auf.
Interessant an dieser Interpretationsmöglichkeit ist die Erkenntnis, dass Gutes (das Aufsteigen) und Schlechtes (Das Niederwerfen) aus demselben Material bestehen (dem Dreitonmotiv).
2. Satz: Allegro (Stalin)
Der zweite Satz ist ein rasendes, brutales Allegro. A short ride in a fast machine, könnte man meinen. Tatsächlich aber heißt es in den Memoiren (S. 230):
„Ich konnte keine Apotheose auf Stalin schreiben, konnte es einfach nicht. Mir war klar, worauf ich mich einließ, als ich die Neunte schrieb. Stalin habe ich später dennoch in Musik gesetzt, und zwar in meiner nächsten Symphonie, in der Zehnten. Ich komponierte sie unmittelbar nach Stalins Tod. Und niemand hat bis heute erraten, worum es in dieser Symphonie geht: um Stalin und die Stalin-Ära. Der zweite Satz, ein Scherzo, ist, grob gesagt, ein musikalisches Porträt von Stalin. Natürlich enthält der Satz auch noch sehr viel anderes. Aber er basiert auf diesem Porträt.“
3. Satz: Allegretto (Rettung aus tiefster Einsamkeit und wieder gewonnene Zuversicht)
Den dritten Satz eröffnen abermals die Streicher. Ein ruhiges und beschwingtes Thema stellen sie vor (die zweiten Violinen als Kanon, 0:22). Nach einer Minute ertönt in den Klarinetten und im hohen Holz ein kecker Marsch. Eine Spielzeugkapelle, könnte man meinen. Innerhalb dieses Marsches, von dieser Kapelle wird (1:06 und 1:12) ein ganz besonderes Motiv eingeführt: DSCH (S = Es) - Schostakowitschs Initialen.
Die Violinen übernehmen das Themas (1:37), werden unterbrochen durch eine Klarinettenüberleitung (2:06), die wieder zurückführt zum beschaulichen Anfangsthema (2:29). Dieses übernehmen bei 2:48 die Holzbläser, die es scheinbar ziellos fort spinnen, so dass der Hörer sich fragt, wo die Musik hin will.
In diesem Moment taucht plötzlich (bei 3:11) in den Celli und Bässen erneut das DSCH auf, nicht exponiert, aber unüberhörbar.
Exkurs: Wir erinnern uns. Am Anfang des ersten Satzes wird das aufsteigende Dreitonmotiv ebenfalls von den Celli und Bässen gespielt. Dort, so hatten wir überlegt, könnte das aufsteigende Dreitonmotiv für ein unterdrücktes Individuum, für Schostakowitsch stehen. Hier nun, im dritten Satz, wird uns mitgeteilt: Celli + Bässe = DSCH. Liegt es da nicht nahe, die Gleichung zu erweitern: aufsteigendes Dreitonmotiv = Celli + Bässe = DSCH? Ende des Exkurses.
Nachdem das DSCH erklungen ist, nimmt die Musik gewissermaßen Anlauf, um dem folgenden Hornruf eine angemessene Bühne zu bauen. Eindringlich und gebieterisch ruft das Horn (3:32). Es gemahnt uns an… Ja, an was?
Exkurs: Elmira Nazirova war neunzehn Jahre alt, als sie, eine vielversprechende aserbaidschanische Komponistin, 1947 in Schostakowitschs Komponistenklasse aufgenommen wurde. 1948, nach dem zweiten Scherbengericht, bewies sie Zivilcourage, indem sie sich in einem Moskauer Konzert in Schostakowitschs Nähe setzte, dorthin, wo die Plätze üblicherweise frei blieben. „Haben Sie keine Angst?“, fragte Schostakowitsch erstaunt. Die beiden kamen sich näher. Elmira kehrte 1948, nachdem sie geheiratet hatte, nach Baku zurück. Dort besuchte Schostakowitsch sie in den folgenden Jahren regelmäßig. Es entstand eine tiefe Freundschaft. Schostakowitsch tauschte sich mit Elmira über die jeweiligen musikalischen Projekte intensiv aus, auch über die Sinfonie Nr. 10 (eine Behauptung, die mich an der ganzen Geschichte etwas zweifeln lässt, liest man doch ansonsten überall, dass Schostakowitsch es stets vermied, über seine Musik zu reden). In der Zeit von 25.06. bis zum 30.10.1953, also während der Entstehungszeit der zehnten Sinfonie, schrieb Schostakowitsch Elmira achtzehn Briefe! Am 21.08 teilte Schostakowitsch Elmira mit, dass das Thema im dritten Satz ihren Namen tragen werde. Und tatsächlich: Betrachtet man die Noten des Hornrufs, stellt man fest: E L(a) MI R(e) A. Zufall ausgeschlossen. Einzelheiten zur Beziehung zu Elmira Nazirova findet man hier: http://www.dschjournal.com/journal17/10thsy.htm. Nähere Hinweise zum Gebrauch musikalischer Signaturen hier: http://azer.com/aiweb/categori…1_melodic_signatures.html. Ende des zweiten Exkurses.
Der Hornruf gemahnt also an… Elmira! Allerdings neige ich dazu, dieses „Elmira“ nicht wörtlich, sondern symbolisch zu verstehen. Das Horn ruft nach meinem Verständnis zurück zur Humanität, weg vom Unrecht. Es erinnert an menschliche Werte. Der Hornruf steht für das Gute, für Optimismus, für Zuversicht.
Einmal wird der Hornruf wiederholt. Dann antworten die Streicher, und zwar mit einem aufsteigenden Dreitonmotiv!!! (3:55).
Ich bin in Anlehnung an den oben genannten Interpretationsvorschlag versucht zu behaupten, dass Schostakowitsch mittels dieses Dreitonmotivs auf den Hornruf, auf den Optimismus Elmiras antwortet. „Ja, ich stehe wieder auf“, scheint Schostakowitsch zu antworten. Der Hornruf an dieser Stelle ist a brick in the wall, könnte man in Anlehnung an Pink Floyd formulieren.
Immer wieder, unermüdlich ruft das Horn. Das Orchester erprobt verschiedene Antworten, weiß nicht wirklich mit dem Ruf umzugehen. Erst nach drei Minuten greift das Englischhorn das Anfangsthema wieder auf (6:27).
Bei 7:34 ist das zweite Thema, ist der Marsch erneut zu hören, laut und lärmend. Es ist, als ob die lärmende Welt mit Macht hereinbricht (Schostakowitsch steht hier ganz in der Nachfolge Mahlers). Schostakowitsch hört auf, sich einzuigeln, öffnet die Fenster und lässt das Leben wieder an sich heran, könnte man interpretieren. Doch die Musik kippt um, verliert ihre Fröhlichkeit, wird aggressiv. Es kommt zu einem brutalen Ausbruch (8:49), zu einer Passage von größter Eindringlichkeit.
Wir erinnern uns an den ersten Satz. Dort hatte auf der Höhe des Ausbruchs das Regime in Gestalt des fallenden Dreitonmotivs obsiegt. Hier aber, im dritten Satz, obsiegt Schostakowitsch. Immer wieder ertönt laut sein DSCH, immer wieder aufgefordert, angefeuert vom Elmira des Horns (9:13, 9:21).
Ab 9:46 kommt die Musik zur Ruhe. Pauken sind zu hören, dann erneut, um nochmals klarzustellen, wer gewonnen hat, der Hornruf.
Die Solovioline spielt erneut das Anfangsmotiv (10:14). Die Pauke verleiht der gesamten Passage Bedeutung. Erneut der Hornruf. Und schließlich, am Ende des dritten Satzes spielen Pikkolo-Flöte und Flöte noch drei Mal das Motiv Schostakowitschs: DSCH!
The Uncaring State? Nein, damit hat das Alles nichts zu tun. Rettung aus tiefster Einsamkeit und wieder gewonnene Zuversicht, das ist die Thematik des dritten Satzes, wie ich ihn verstehe.
4. Satz: Andante (Das Gute siegt)
Zu Beginn des Finales versetzen uns Celli und Bläser erneut in die bedrückende Stimmung des ersten Satzes. Bei 0:21 beginnt die Klarinette einen Klagegesang, den die Flöte übernimmt (1:21). Das Eingangsthema wird wiederholt (1:40). Ein Fagott spielt, angekündigt von einem Pizzicato, ein Solo (1:52). Einwürfe von Oboe und Flöte folgen. Ab 3:12 scheint sich eine neue Melodie zu entwickeln. Es geht damit aber nicht recht voran.
Abrupt beginnt bei 4:08 ein Allegro voller Freude. Die Musik wird zunehmend ausgelassener und turbulenter, behält aber noch ihre fröhliche Natur. Dieser Abschnitt mag uns, zudem er auch Marschmotive beinhaltet, an den Marsch aus dem dritten Satz erinnern (auch dieser war bei 7:34 urplötzlich hereingebrochen), so wie uns der Anfang des vierten Satzes im Tonfall an den ersten Satz der Sinfonie erinnert. Die Frage liegt nahe, ob es auch eine Erinnerung an den zweiten Satz geben wird. Wir werden sogleich sehen, es wird.
Die Turbulenzen werden stärker. Die Musik bekommt einen bedrohlichen Unterton, wird wilder und wilder. Aggressivität macht sich breit, Panik gar. Und dann, ganz deutlich bei 8:20, bekommt das hier erneut nach der Macht greifende Böse ein Gesicht. Es ist ein Thema aus dem zweiten Satz, das wir hören, die Fratze Stalins, die wir sehen.
Doch das Gute siegt. Mit einem einzigen gewaltigen DSCH, machtvoll und lautstark vom Orchester unterstützt, bringt Schostakowitsch das Böse zum Schweigen (8:28 ).
Eine längere ruhige Phase folgt, bis, vorbereitet ab 9:48 vom Schlagwerk, die Fröhlichkeit zurückkehrt.
Die Machtverhältnisse sind geklärt. Als bei 11:19 noch einmal der zweite Satz seine Rückkehr versucht, weisen ihn die Hörner mit einem sechsfachen, sich beschleunigenden DSCH in die Schranken – die Hörner waren es auch, die das Elmira-Motiv gespielt hatten, erinnern wir uns.
Sieghaft und freudvoll geht der Satz zu Ende. Zuletzt wiederholen die Pauken nochmals das sechsfache DSCH. Und Schostakowitsch ruft uns zu: „Der Sieg ist mein!“
3. Interpretationen auf CDs
Zunächst sei auf die unter diesem link zu findende Zusammenstellung hingewiesen.
Ich besitze neun Aufnahmen der Sinfonie, sehe jedoch vorerst davon ab, diese hier jeweils zu benennen und zu bewerten. Zum einen, um den Rahmen dieses Beitrags nicht zu sprengen. Zum anderen, weil mir daran liegt, zunächst über das Werk selbst zu sprechen.
Lasst uns also bitte die Interpretationsvergleiche zurückstellen. Zu den Fragen, ob Karajans Einspielungen gut sind, ob nur Roschdestwenski es versteht, den Schrecken des zweiten Satzes zu vermitteln und ob Mrawinskis Aufnahme trotz des nicht konkurrenzfähigen Orchesters bestehen kann, kommen wir noch früh genug.
4. Schlussbemerkung
Abschließend möchte ich noch einige Gedanken zur musikgeschichtlichen Einordnung der Sinfonie in den Raum stellen. Alfred Schnittke äußert in dem Gesprächs-Buch „Über das Leben und die Musik“ auf Seite 107:
„Als ich Schostakowitsch noch ziemlich kritisch gegenüberstand, unterhielt ich mich einmal mit Solmon Wolkow, der mich davon überzeugte, dass dank Schostakowitsch es zu einem Kontakt zu nicht mehr existierenden Welten und zu hingeschiedenen Menschen kommt, die darin weiterleben. So ist es tatsächlich.“ Und auf die Frage Alexander Iwaschkins, was er meine, wenn er von Hingeschiedenen spreche, ergänzt Schnittke: „Wen du willst: Sollertinski, Achmatowa – die ganze Umgebung, die im Begriff war zu gehen oder schon fortgegangen ist. Das sind die zwanziger, die dreißiger, die vierziger, die fünfziger und auch die sechziger Jahre – all das existierte bei ihm weiter – als Reflexion. Und wir spürten das. Deshalb kam es auch zu einer gewissen Entfremdung, zu einem abnehmenden Interesse an Schostakowitsch… Der Eindruck, dass man Schostakowitsch bereits müde geworden sei, war [im Jahre 1975] allgemein.“
Dieses Zitat benennt, was ich vor der Lektüre nur erfühlt hatte. Die zehnte Sinfonie ist eine zeitgeschichtliche Zäsur. Mit ihr wird das Kapitel Stalin – und das seiner Opfer – abgeschlossen.
Die Aussage, dass Schostakowitsch fortan nichts mehr zu sagen hatte, wäre allerdings falsch, hat er doch auch nach der zehnten Sinfonie herausragende Werke geschaffen.
Nur wird Schostakowitsch in der öffentlichen Wahrnehmung mehr und mehr als ein außerhalb des Systems Stehender, gar als Regimekritiker verstanden – ob er das wirklich war, soll hier nicht diskutiert werden. Und diese spezielle Rolle des Widerparts Stalins, die der Stimme des Leids und der Opfer der stalinistischen Schergen, die endet mit der 10. Sinfonie (mag Schostakowitsch später auch noch weiterhin regimekritisch tätig gewesen sein, man denke an Babi Yar und die jüdische Volkspoesie). Insofern, und das empfinde ich ganz deutlich, ist die zehnte Sinfonie ein Abgesang.
Freundlich grüßt
Thomas