Hat Bruckners Musik Aggressionspotential ??

  • Was soll der Titel ?
    Wieso kann Bruckners Musik als aggressiv eingestuft werden ?


    Dieser grundgütige tief religöse Mann konnte doch keiner Fliege etwas zuleide tun. Allen wollte er es recht machen und hat deshalb seine Sinfonien etliche Male überarbeitet, wenn seine Freunde und seine Kritiker es denn so wünschten.


    Aber dennoch: Irgendwie gibt es sie die verschworene Brucknergemeinde, die wie eine Ersatzreligionsgemeinschaft das Erbe des Meisters hütet wie einen Augapfel, die bestimmt was denn da sein darf und was nicht. Gewisse Parallellen mir den "Wagnerianern" drängen sich (mir) auf :P


    Die Gurus dieser Gemeinde wechselten im Laufe der Zeit - aber es fanden sich immer wieder strahlende "Lichtfiguren" die zu ihrer Zeit als das Non-plus-Ultra ihrer Zeit in Sachen Bruckner angesehen waren.( Spontan fallen mir Eugen Jochum, Bernard Haitink und Celibidache ein)


    So etwas hat weder Brahms noch Dvorak geschafft. Sicher haben die auch ihre Anhänger, aber eine "Brahmsgemeinde" oder ein "Dvorakianer" sind mir bislang noch nicht begegnet.


    Wie lässt sich dieses Phänomen erklären ???


    mfg
    aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred,


    ein ganzes Bündel fruchtbarer Fragen schnürst Du da auf...


    Bruckner - ein "grundgütiger Mann"?
    Ich glaube, das wird der Komplexität seines Innenlebens nicht völlig gerecht. Sicher war Bruckner kein aggressiver oder missgünstiger Mensch, aber er war eine in Teilbereichen sehr problembeladene Persönlichkeit. Ich erinnere an seine zwanghaften Züge wie periodisch auftretende Zählzwänge oder Kontrollzwänge, ganz zu schweigen von seiner ans Neurotische grenzenden Faszination mit dem Tod in Gestalt des Betastens von Gebeinen seiner Vorgänger oder wiederholter Bemühungen, zu Hinrichtungen als Zuschauer zugelassen zu werden. Das deutet auf eine erheblich komplexere Persönlichkeit hin als man oft denken möchte, wenn man sich die populären Anekdoten über ihn vor Augen hält.


    Bruckner - Aggressionspotential in seiner Musik?
    Hier bewegen wir uns auf sehr subjektivem Terrain - ich wundere mich immer wieder, wie unterschiedlich Bruckners Musik erfahren wird. Ich kann mir jedenfalls sehr gut vorstellen, dass seine gern in apokalyptischen Blechausbrüchen endenden, obsessiv sequenzierend hoch sich schraubenden Steigerungszüge als aggressiv erlebt werden können (bei Verwendung zeitgenössischen Instrumentariums schaut's freilich ein wenig milder aus).


    Die Brucknergemeinde
    Schon seine Persönlichkeit lädt zur Grabenbildung ein: die einen sehen ein missverstandenes Genie, die anderen einen psychisch auffälligen Eigenbrötler, wieder andere einen erleuchteten Propheten...


    Hinzu kommt die komplexe Geschichte der Fassungen, die dauernden Überarbeitungen und ihr Geflecht von Motivationen, alles gekrönt von der Problematik des Finales zu seiner IX. Symphonie.


    Ich würde sagen: eine perfekte Mischung für Projektionen, Interpretationen und Missbrauch jeder Art. Für jeden ist etwas geboten: für den nachschaffenden Propheten, für den katholisierenden Weihrauchwaberer, für den akribischen Philologen - und natürlich auch für herausragende Musiker, die sich vom Reichtum und der Originalität dieser Musik angezogen fühlen.


    Und das Beste daran: für (fast) alles lassen sich (mehr oder weniger) plausible Argumente finden die gerne auch sehr stark weltanschaulich und/oder emotional gefärbt sind. Und fertig ist das Pulverfass.


    Und für mich selbst?
    Das ist jetzt zwar möglicherweise OT, aber ich selbst sehe diese Situation als dem Werk auf fast schon unheimliche Weise angemessen. Die zwanghaften Überarbeitungen, die formalen Eigenheiten, die religiösen Obertöne von der "Jakobsleiter" bis zum Blechbläser-Choral: das alles scheint mir in dieser zerklüfteten, widersprüchlichen, auch irgendwie manischen Rezeption und Interpretation auf eine faszinierende Weise gewahrt, und zwar als lebendes, über den Konzertbetrieb hinausreichendes Phänomen.


    :hello:
    Flo

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Zitat

    Original von Barockbassflo


    Die Brucknergemeinde
    Schon seine Persönlichkeit lädt zur Grabenbildung ein: die einen sehen ein missverstandenes Genie, die anderen einen psychisch auffälligen Eigenbrötler, wieder andere einen erleuchteten Propheten...


    Es fehlt noch die dritte Gruppe: Diejenigen, die der "Person" Bruckner gar nicht auf die Spur kommen möchten. Seine Musik sagt so viel aus - auch ohne allzu viele Details um des Meisters Vergangenheit zu kennen. :yes:


    Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Die Gurus dieser Gemeinde wechselten im Laufe der Zeit - aber es fanden sich immer wieder strahlende "Lichtfiguren" die zu ihrer Zeit als das Non-plus-Ultra ihrer Zeit in Sachen Bruckner angesehen waren.( Spontan fallen mir Eugen Jochum, Bernard Haitink und Celibidache ein)


    So etwas hat weder Brahms noch Dvorak geschafft. Sicher haben die auch ihre Anhänger, aber eine "Brahmsgemeinde" oder ein "Dvorakianer" sind mir bislang noch nicht begegnet.


    Wie lässt sich dieses Phänomen erklären ???


    Warum nicht ganz einfach anhand der außergewöhnlichen Musik? Diese bietet halt einige Aspekte, die sich sonst praktisch nicht finden. Weit ausholende Melodiebögen, meisterhafte Verwebung von Motiven innerhalb einer Sinfonie - und das bei perfekter Satzstruktur. Und dann kommt halt noch das religiöse Element hinzu. Dadurch kann man diese Musik durchaus so hören, dass sie einen in höhere Sphären schwingt. :-) Das trifft auf mich manchmal durchaus zu, obwohl ich Agnostiker bin. Aber wenn ich mir z. B. vorstelle, welche Empfindungen Bruckner wohl beim Höhepunkt des Adagios der Achten gehabt hätte, ist das auch für mich erhebend. :angel:

  • Zur Frage der "Gemeinden": Ich denke, die gibt es fast ueberall. Von Lully ueber Mozart, Rossini, Verdi usw. Viele Komponisten haben Fangemeinden, Dirigenten und Interpreten, die sich einem bestimmten Komponisten regelrecht verschworen haben. Die meisten dieser Fangemeinden haben einen harten Kern von Fanatikern, und das ist gewiss nichts Brucknerspezifisches.


    Zum "Aggressionspotential": Bruckners Musik beinhaltet so viele gerade der aesthetischen Elemente, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr salonfaehig sind. Wagners Musik steht daher mit der Bruckners vor einem aehnlichen Problem. Fuer die "Entnazifizierung" Wagners (viele der aethetischen Elemente wurden naemlich mit nationalsozialistischer Aesthetik gleichgesetzt) hat man den Weg Neubayreuths gewaehlt - Sachlichkeit und Intellekt gegenueber Weihrauch und Bombast. Ob das der richtige Weg war oder nicht, sei dahingestellt.


    Ich finde Bruckners Musik nicht aggressiv sondern ernst und kraftvoll und demuetig. Sie wirkt dann aggressiv, wenn ich sie mit denen in Verbindung bringe, die sie missbraucht haben. Aber das macht wenig Sinn und tut dem grossen Bruckner grosses Unrecht.


    :hello:
    M.

  • Man darf auch nicht vergessen, dass die Gewichtung all dieser vielen Aussagen, die in Bruckners Werken zu finden sind, sehr von der Interpretation abhängig sind: Ich beschäftige mich noch nicht sehr lange mit Bruckner, habe aber bereits von einigen Sinfonien eher nüchterne und daneben hoch-pathetische Interpretationen gehört (v.a. auch in Konzerten). Ja, ich behaupte sogar, dass Bruckners Musik einen der größten Spielräume für verschiedenste Interpretationen zulässt.
    Auch ich kann in seinen Sinfonien sehr viele Gesichtszüge finden: Demut, Glauben, Kampf, Hoffnung, Verzweiflung und eben auch Aggression (z.B. im 1. Satz der Achten, wenn das Blech gegen Ende des Satzes ausbricht: taaaaa-ta-taaaaaa! taaaaa-ta-taaaaa! Das sind nicht irgendwelche Fanfaren. Das hat wahrlich Aggressionspotential!)


    Aber all diese vielen Facetten gehören doch zu einem wirklich interessanten Komponisten dazu, findet zumindest


    Gerald (ein Bewunderer der Musik Anton Bruckners)

    "Das Höchste in der Kunst - vor Gott besagt's nicht viel.
    Hat doch die Welt zuletzt nur ein moralisch Ziel."
    (Hans Pfitzner)

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  • Aggressionspotential von


    Bruckners Musik: :no: Wie auch? ?( (ich hör sonst ja wesentlich Extremeres... :D )


    Bruckners Jünger/Fans: Ça m'est égal! => auch :no:


    :hello:
    Stefan

    Viva la libertà!

  • Hallo,
    wenn hier schon so oft die 8. Sym. erwähnt wird....
    der Beginn des 4. Satzes stünde auch der Badezimmerszene im Film Psycho
    gut zu Gesicht. :D
    Da sehe ich tatsächlich Aggressionspotential...das geht ab wie Heavy Metal :evil:


    Mich überläufts da regelmäßig eiskalt, so richtig aber nur bei Böhm auf DGG :jubel:


    Gruß
    embe

  • Aber was? Meine Frau reagiert ausgesprochen allergisch auf Bruckner (leider, obwohl sie sich größte Mühe gibt, es nicht zu tun ;). Sie kann die Schostakowitsch-Sinfonien auswendig, behauptet aber, keinen Satz Bruckners vom anderen unterscheiden, geschweige denn einer seiner Sinfonien zuordnen zu können.


    Ein Rätsel.

  • Mit Verlaub, Helmut:


    Mir wäre eine Frau, die total in Bruckner aufginge, ziemlich unheimlich. Sei doch froh: deine Gattin steht auf dynamische, teilweise aggressive und dennoch tiefgehende Musik. Das klingt unglaublich aufregend :beatnik:


    (entschuldige, heute bin ich etwas übermütig.....)


    :hello:
    Wulf

  • Zitat

    Original von helmutandres
    Sie kann die Schostakowitsch-Sinfonien auswendig, behauptet aber, keinen Satz Bruckners vom anderen unterscheiden, geschweige denn einer seiner Sinfonien zuordnen zu können.


    Ein Rätsel.


    Das ist kein Rätsel. Ich kenne keine nach 1750 entstandene Werkreihe, deren Exemplare einander so ähnlich klingen wie Bruckners Sinfonien. Es gibt ein paar Ausnahmen (besonders 5-7), aber gewisse Grundstrukturen werden praktisch immer eingehalten, häufig sind ganze Sätze nach sehr ähnlichen Schemata aufgebaut, die Motive ähneln ebenfalls einander usw. Der Brucknerianer, der alles in und auswendig weiß, merkt das vielleicht nicht mehr.


    Das muß natürlich keine Agressionen auslösen...;)


    Aber zu dieser Ausgangsfrage halte ich Barockbassflos Beitrag für ziemlich aussagekräftig.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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  • Stehst wohl weniger auf Klosterfrau Melissengeist? :D


    :hello:
    Stefan


    PS: Kann am ehesten noch die Scherzi bei Bruckner zuordnen... :rolleyes:

    Viva la libertà!

  • Zitat

    Original von helmutandres
    Aber was? Meine Frau reagiert ausgesprochen allergisch auf Bruckner (leider, obwohl sie sich größte Mühe gibt, es nicht zu tun ;). Sie kann die Schostakowitsch-Sinfonien auswendig, behauptet aber, keinen Satz Bruckners vom anderen unterscheiden, geschweige denn einer seiner Sinfonien zuordnen zu können.


    Ein Rätsel.


    Hallo Helmutandreas,


    ich denke mal, Deine Frau hat sich noch nicht wirklich mit Bruckner beschäftigt und hat ihn gleich von vorne herein abgelehnt --- dann kann das auch nichts werden. Ich habe schon öfter gehört, das "Bruckner nur eine Sinfonie geschrieben haben soll". das aber nur von solchen Leuten, die Bruckner nicht wirklich kennen - bei denen kann natürlich kein Aggressionspotential vorhanden sein.
    Für mich klingen die Bachschen Brandenburgischen Konzerte an jeder Stelle auch gleich. Das liegt aber daran, weil ich mich nicht mit diesen Werken nicht beschäftige !


    Zudem hängt es auch von der Interpretation ab, ob ein Bruckner-Satz auf den Hörer spannend mit Aggression ankommt. Höre ich verschiedene Aufnahmen der Sinfonie Nr.6 / 1.Satz so reisse ich meine Ohren immer weiter auf um die Paukenstellen wahrzunehmen - leider ohne Erfolg, weil die vom Dirigenten einfach zurückgenommen werden (auch leider bei Klemperer).
    Lege ich meine Solti-Aufnahme auf, so verspüre ich die volle Spannung - 100% Aggression.
    -----------------


    Hallo embe,


    Zitat

    Hallo,
    wenn hier schon so oft die 8. Sym. erwähnt wird....
    der Beginn des 4. Satzes stünde auch der Badezimmerszene im Film Psycho
    gut zu Gesicht.
    Da sehe ich tatsächlich Aggressionspotential...das geht ab wie Heavy Metal


    Mich überläufts da regelmäßig eiskalt, so richtig aber nur bei Böhm auf DGG


    :yes: nicht nur bei Böhm, auch Solti hat hier ganz weit die "Aggressionsnase" vorn.



    :no: Schon bei diesen beiden Satzbeispielen frage ich mich was bei Bruckner gleich klingen soll !????!

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl


    Das ist kein Rätsel. Ich kenne keine nach 1750 entstandene Werkreihe, deren Exemplare einander so ähnlich klingen wie Bruckners Sinfonien. Es gibt ein paar Ausnahmen (besonders 5-7), aber gewisse Grundstrukturen werden praktisch immer eingehalten, häufig sind ganze Sätze nach sehr ähnlichen Schemata aufgebaut, die Motive ähneln ebenfalls einander usw. Der Brucknerianer, der alles in und auswendig weiß, merkt das vielleicht nicht mehr.


    ...


    So muß es wohl sein. Die unbestreitbare (als nervend empfundene?) Kohärenz von Bruckners Werk einerseits und andererseits die im Unterbewußtsein nagende Frage, was es mit ihm auf sich haben könnte, könnten schon Abwehraggressionen hervorrufen. So habe ich übrigens Alfreds Fragestellung verstanden - und nicht, ob Bruckners Musik aggressiv sei.


    :hello: