BWV 179: Siehe zu, dass deine Gottesfurcht nicht Heuchelei sei
Kantate zum 11. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 8. August 1723)
Lesungen:
Epistel: 1. Kor. 15,1-10 (Paulus über das von ihm verkündigte Evangelium von Christus und sein Apostelamt)
Evangelium: Luk. 18,9-14 (Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner)
Sechs Sätze, Aufführungsdauer: ca. 19 Minuten
Textdichter: unbekannt
Choral: Christoph Tietze (1663)
Besetzung:
Soli: Sopran, Tenor, Bass; Coro: SATB; Oboe I + II, Oboe da caccia I + II, Violino I/II, Viola, Continuo
1. Chorus SATB, Streicher, Continuo
Siehe zu, dass deine Gottesfurcht nicht Heuchelei sei,
und diene Gott nicht mit falschem Herzen!
2. Recitativo Tenor, Continuo
Das heut’ge Christentum
Ist leider schlecht bestellt:
Die meisten Christen in der Welt
Sind laulichte Laodizäer
Und aufgeblas’ne Pharisäer,
Die sich von außen fromm bezeigen
Und wie ein Schilf den Kopf zur Erde beugen;
Im Herzen aber steckt ein stolzer Eigenruhm.
Sie gehen zwar in Gottes Haus
Und tun daselbst die äußerlichen Pflichten;
Macht aber dies wohl einen Christen aus?
Nein! Heuchler können’s auch verrichten!
3. Aria Tenor, Oboe I + II, Streicher, Continuo
Falscher Heuchler Ebenbild
Können Sodomsäpfel heißen,
Die mit Unflat angefüllt
Und von außen herrlich gleißen.
Heuchler, die von außen schön,
Können nicht vor Gott besteh’n.
4. Recitativo Bass, Continuo
Wer so von innen wie von außen ist,
Der heißt ein wahrer Christ.
So war der Zöllner in dem Tempel:
Der schlug in Demut an die Brust,
Er legte sich nicht selbst ein heilig’ Wesen bei;
Und diesen stelle dir,
O Mensch, zum rühmlichen Exempel
In deiner Buße für!
Bist du kein Räuber, Ehebrecher,
Kein ungerechter Ehrenschwächer:
Ach, bilde dir doch ja nicht ein,
Du seist deswegen engelrein!
Bekenne Gott in Demut deine Sünden,
So kannst du Gnad’ und Hülfe finden!
5. Aria Sopran, Oboe da caccia I + II, Continuo
Liebster Gott, erbarme dich:
Lass mir Trost und Gnad’ erscheinen!
Meine Sünden kränken mich
Als ein Eiter in Gebeinen,
Hilf mir, Jesu, Gottes Lamm,
Ich versink’ in tiefen Schlamm!
6. Choral SATB, Oboe I + II, Streicher, Continuo
Ich armer Mensch, ich armer Sünder
Steh’ hier vor Gottes Angesicht.
Ach Gott, ach Gott, verfahr’ gelinder
Und geh’ nicht mit mir ins Gericht!
Erbarme dich, erbarme dich,
Gott, mein Erbarmer, über mich!
Zum heutigen Sonntagsevangelium verweise ich mal auf das im Thread zu BWV 199 Gesagte.
Die hier besprochene Kantate mahnt – am Beispiel des selbstgefälligen Pharisäers aus dem Gleichnis – den heutigen Christen zu ehrlicher und aufrichtiger Bußfertigkeit und Reue und warnt vor eitler Selbstgerechtigkeit und Heuchelei.
Passend dazu findet sich als Eingangschor ein Bibelwort mit einem Spruch aus dem Alten Testament (Jesus Sirach, Kapitel 1 Vers 34), den Bach als zweiteilige Fuge komponiert hat (der zweite Teil beginnt mit den Worten “Und diene Gott nicht“).
Die erste Fuge ist hierbei eine sogenannte Gegenfuge, in der jeder neue Stimmeinsatz die Themenumkehrung des vorhergehenden Stimmeinsatzes darstellt. Eine wahre Lehrstunde in Kontrapunktik vom Meister der Fuge höchstpersönlich!
Bach hat diesen Satz offenbar sehr geschätzt, denn er hat ihn knapp 20 Jahre später als Kyrie in seiner Lutherischen Messe in G-Dur (BWV 236) in einer Umarbeitung nochmals verwendet.
In der Arie Nr. 5 (in a-moll) tauschen die beiden Oboisten ihre Instrumente gegen 2 Oboi da caccia aus – ein wirkungsvoller Gegenpart zur hohen Sopranstimme! Man möge mir meine unpassende Albernheit verzeihen, aber beim Abschreiben des Textes dieser Arie musste ich bei der Stelle “Hilf mir, Jesu, Gottes Lamm,/ Ich versink’ in tiefen Schlamm!“ spontan lachen – es geht doch nichts über die Barockdichtung mit ihren herrlich direkt-drastischen Formulierungen! :]
Eine heutige Sängerin dieser Arie muss sich ernsthaft bemühen, diese Stelle mit dem gebotenen Ernst rüberzubringen, um bei ihren Zuhörern nicht ebenfalls ein ja eigentlich unpassendes Schmunzeln über diese Formulierung aufkommen zu lassen...
Auch diese Arie hat Bach später noch in einer seiner Lutherischen Messen übernommen – sie taucht in angepasster Form als Qui tollis (ein Teil des Gloria) in seiner Messe in A-Dur (BWV 234) wieder auf. Auch diese Messe entstand etwa 20 Jahre später (um 1742).
Die hier besprochene Kantate, die recht knapp gehalten ist, könnte – so vermutet es Alfred Dürr – zusammen mit der Kantate BWV 199 zu einer zweiteiligen Aufführung im selben Leipziger Gottesdienst (vor und nach der Predigt) kombiniert worden sein.