Die Bachkantate (124): BWV101: Nimm von uns, Herr, du treuer Gott

  • BWV 101: Nimm von uns, Herr, du treuer Gott
    Kantate zum 10. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 13. August 1724)




    Lesungen:
    Epistel: 1. Kor. 12,1-11 (Verschiedene Gaben, aber ein Geist)
    Evangelium: Luk. 19,41-48 (Jesus verkündigt die Zerstörung Jerusalems und vertreibt die Händler aus dem Tempel)



    Sieben Sätze, Aufführungsdauer: ca. 25 Minuten


    Textdichter: unbekannt, inspiriert aber vom titelgebenden Choral
    Choral (Nr. 1 und 7, sowie in Nr. 3 und 5): Martin Moller (1584)



    Besetzung:
    Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Traversflöte, Oboe I + II, Oboe da caccia, Zink, Posaune I-III, Solo-Violine, Violino I/II, Viola, Continuo





    1. Chor SATB, Traversflöte, Oboe I + II, Oboe da caccia, Zink, Posaune I-III, Streicher, Continuo
    Nimm von uns, Herr, du treuer Gott,
    Die schwere Straf’ und große Not,
    Die wir mit Sünden ohne Zahl
    Verdienet haben allzumal.
    Behüt’ für Krieg und teurer Zeit,
    Für Seuchen, Feu’r und großem Leid.


    2. Aria Tenor, Solo-Violine, Continuo
    Handle nicht nach deinen Rechten
    Mit uns bösen Sündenknechten,
    Lass das Schwert der Feinde ruh’n!
    Höchster, höre unser Flehen,
    Dass wir nicht durch sündlich Tun
    Wie Jerusalem vergehen!


    3. Recitativo + Choral Sopran, Continuo
    Ach! Herr Gott, durch die Treue dein
    Wird unser Land in Fried’ und Ruhe sein.
    Wenn uns ein Unglückswetter droht,
    So rufen wir,
    Barmherz’ger Gott, zu dir
    In solcher Not:
    Mit Trost und Rettung uns erschein’!
    Du kannst dem feindlichen Zerstören
    Durch deine Macht und Hülfe wehren.
    Beweis’ an uns deine große Gnad’
    Und straf’ uns nicht auf frischer Tat,

    Wenn uns’re Füße wanken wollten
    Und wir aus Schwachheit straucheln sollten.
    Wohn’ uns mit deiner Güte bei
    Und gib, dass wir
    Nur nach dem Guten streben,
    Damit allhier
    Und auch in jenem Leben
    Dein Zorn und Grimm fern von uns sei!


    4. Aria Bass, Oboe I + II, Oboe da caccia, Continuo
    Warum willst du so zornig sein?
    Es schlagen deines Eifers Flammen
    Schon über unser’m Haupt zusammen.
    Ach, stelle doch die Strafen ein
    Und trag’ aus väterlicher Huld
    Mit unser’m schwachen Fleisch Geduld!


    5. Recitativo + Choral Tenor, Continuo
    Die Sünd’ hat uns verderbet sehr.
    So müssen auch die Frömmsten sagen
    Und mit betränten Augen klagen:
    Der Teufel plagt uns noch viel mehr.
    Ja, dieser böse Geist,
    Der schon von Anbeginn ein Mörder heißt,
    Sucht uns um unser Heil zu bringen
    Und als ein Löwe zu verschlingen.
    Die Welt, auch unser Fleisch und Blut
    Uns allezeit verführen tut.

    Wir treffen hier auf dieser schmalen Bahn
    Sehr viele Hindernis’ im Guten an.
    Solch’ Elend kennst du, Herr, allein:
    Hilf, Helfer, hilf uns Schwachen,
    Du kannst uns stärker machen!
    Ach, lass uns dir befohlen sein!


    6. Aria Sopran, Alt, Traversflöte, Oboe da caccia, Continuo
    Gedenk’ an Jesu bitter’n Tod!
    Nimm, Vater, deines Sohnes Schmerzen
    Und seiner Wunden Pein zu Herzen!
    Die sind ja für die ganze Welt
    Die Zahlung und das Lösegeld;

    Erzeig’ auch mir zu aller Zeit,
    Barmherz’ger Gott, Barmherzigkeit!
    Ich seufze stets in meiner Not:
    Gedenk’ an Jesu bitter’n Tod!


    7. Choral SATB, Traversflöte, Oboe I + II, Oboe da caccia, Zink, Posaune I-III, Streicher, Continuo
    Leit’ uns mit deiner rechten Hand
    Und segne unser’ Stadt und Land;
    Gib uns allzeit dein heil’ges Wort,
    Behüt’ für’s Teufels List und Mord;
    Verleih’ ein sel’ges Stündelein,
    Auf dass wir ewig bei dir sein.






    Dieser Choralkantate liegt die Melodie des zu Bachs Zeiten noch sehr geläufigen Luther-Chorals Vater unser im Himmelreich zugrunde.
    Aufgrund der Popularität dieser Weise (und des Respekts vor deren Autor) lässt sich vielleicht erklären, warum sich Bach bei der Komposition dieser Kantate ungewöhnlich eng an dieser orientiert hat und sich in allen Sätzen (vielleicht abgesehen von der Arie Nr. 2) zahlreiche Anspielungen und Zitate derselben finden.
    Oder anders ausgedrückt: Es gibt zahllose andere Choralkantaten Bachs, in denen der durchgehende musikalische Bezug auf den zugrundeliegenden Choral weitaus weniger eng ist, als in der hier besprochenen.


    Thematisch passt der gewählte Choral gut zum heutigen Sonntagsevangelium, in dem es unter anderem um die bevorstehende Bestrafung des sündigen Jerusalems geht. Die hieraus gezogene Parallele zur Jetzt-Zeit der jeweiligen Dichtung ist eine Bitte der Gläubigen um göttliche Gnade vor (verdienter) Bestrafung und die Stärkung der Seele vor Versuchung und Sünde.


    Der Eingangschoral, bei dem wie gewöhnlich die Choralmelodie im Sopran liegt, erhält einen ehrwürdig-archaischen Charakter durch den vierstimmigen Posaunenchor (dessen Oberstimme von einem Zinken übernommen wird), der zum eh schon reichhaltig mit Bläsern besetzten Orchester hinzutritt – ein weiterer Hinweis auf die „althergebrachte“ Luther-Weise des von Martin Moller gedichteten Chorals?


    Wie schon in den Choralkantaten der Vorwochen (BWV 178 und BWV 94) finden sich auch in der hier besprochenen Kantate wiederum 2 charakteristische Sätze (Nr. 3 und 5), in denen jeweils eine ganze Choralstrophe des der ganzen Kantate zugrundeliegenden Chorals zitiert, jedoch immer wieder von thematisch weiterführenden, hinzugedichteten Einwürfen unterbrochen wird. Ich vermute, dass jeweils derselbe – uns heute leider unbekannte – Dichter für diese Kantaten zuständig war – das „Strickmuster“ ist zu offensichtlich. Interessant ist auch, dass die Einwürfe der Choralzeilen in diesen Kantaten nicht, wie in mehreren anderen Choralkantaten Bachs üblich, durch den Chor geschehen, sondern von der den übrigen Rezitativtext vortragenden Solostimme jeweils mit übernommen werden.


    Die Arie Nr. 4 wartet mit gleich dreifacher Oboenbesetzung auf, das als Arie Nr. 6 bezeichnete wundervolle Duett zwischen Sopran und Alt wird von Traversflöte und Oboe da caccia begleitet. Bach scheint zu der Zeit über einige fähige Bläser verfügt zu haben!

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)