Der Kammerton

  • Auf den sogenannten Kammerton werden bekanntlich alle Instrumente eines gemeinsam spielenden Ensembles eingestimmt. Es handelt sich nicht um einen absoluten Wert, sondern um eine per Konvention festgelegte Frequenz.


    Wenn man den Informationen im entsprechenden Wikipedia-Artikel glauben darf, dann hat sich der Kammerton folgendermaßen entwickelt:


    - Im 17. und 18. Jahrhundert existierten völlig unterschiedliche Kammertöne: Frankreich 392 Hertz, Deutschland 415 Hertz, Italien 466 Hertz. Allerdings gab es außer dem "Kammerton" (von der fürstlichen "Kammer" abzuleiten) auch den sog. Kirchenton oder Chorton, der wesentlich höher lag.


    - Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hat es mehrfach Versuche gegeben, einen einheitliche internationale Regelung zu erzielen: 1788 die "Pariser Stimmung" (409 Hz), 1858 die Regelung der französischen Akademie (437,5 Hz), 1885 die Vereinbarung einer internationalen Stimmtonkonferenz in Wien (435 Hz) und schließlich die Übereinkunft der letzten internationalen Stimmtonkonferenz 1939 in London: Hier wurde die Frequenz des Kammertons auf 440 Hz bei 20° für den Ton a' festgelegt.


    - Tatsächlich gibt es aber bis heute keine einheitliche Praxis. So ist bis in die jüngste Vergangenheit die spätestens seit etwa 1800 vorhandene Tendenz, den Kammerton in die Höhe zu treiben, fortgesetzt worden: manche Orchester sind angeblich bis zu 450 Hz hochgestimmt worden (dazu unten mehr). Insbesondere durch die HIP-Praxis hat aber auch eine Gegenbewegung eingesetzt, wobei offenbar auch bei den HIP-Ensembles sehr unterschiedlich gestimmt wird.



    In diesem Thread können alle Probleme diskutiert werden, die in irgendeiner Form mit dem Kammerton zusammenhängen, z.B.
    - absolutes/relatives Gehör
    - Konsequenzen unterschiedlicher Stimmungen für den Orchesterklang, für den Instrumentenbau oder für Singstimmen
    - Auswirkungen der HIP-Bewegung auf die Höhe des Kammertons
    - praktische Probleme von Musikern beim Umgang mit verschiedenen Stimmungen
    etc. etc.


    Ausgangspunkt für diesen Thread waren einige Postings im Thread [url=http://www.tamino-klassikforum.at/thread.php?threadid=46&page=7,]Was ist dran an Karajan ? - Versuch einer Analyse[/url], die sich auf Aussagen von Heinz Holliger zu der hohen Stimmung der Berliner Philharmoniker unter Karajan bezogen.


    Das Problem, das mich zunächst interessiert: wie hoch liegt eigentlich der Kammerton heute bei den Orchestern und Ensembles?


    Zu den Berliner Philharmonikern fand ich in einem Artikel der "Zeit" aus dem Jahr 2003 ("http://images.zeit.de/text/2003/01/Philharmoniker") folgende Passage:


    „In Frankreich spielt man offener, heller. In England und in den USA ist der Ton deutlich dünner, hat weniger Kern“, schwört ein Oboist. Dafür liegt in Amerika der Kammerton etwas tiefer. Karajan hatte ihn sehr hochtourig, auf 445 Hertz, gefahren, nun haben ihn die Berliner Philharmoniker tiefer gelegt, auf 443 Hertz; eine subtile Korrektur, die Musiker mit absolutem Gehör gerade noch tolerieren.



    Im Thread zur siebten Symphonie Beethovens schrieb Khampan über die Aufnahme Carlos Kleibers mit den Wiener Philharmonikern:


    Eine einzige Sache an der Kleiber Aufnahme mit Wien Phil hat mich 20 Jahre lang genervt, jetzt endlich habe ich es geschafft, für mich eine private Kopie herzustellen, bei der das Problem behoben ist: Die Wiener Philharmoniker stimmten damals statt mit Kammerton a=440...444 Hz auf sagenhafte runde 450 Hz. Es ist schon manchmal ein Pech mit absolutem Gehör. Das war für mich eindeutig zu viel des guten, immerhin 1/4 Halbton zu hoch.



    Michael Schlechtriem berichtete (im Karajan-Thread) folgendes:


    Ich muß allermeistens auf 443Hz spielen und deshalb ist mein Instrument auf diese Tonhöhe vom Geigenbauer her eingerichtet. Wenn ich dann einmal auf 440Hz spielen muß, was jedes mal zuhause der Fall ist, da mein Flügel auf etwa den normalen 440Hz gestimmt ist, dann muß ich herunterstimmen.



    Außerdem nahm er zu der Aussage Holligers Stellung, amerikanische Orchester seien in der Regel tiefer gestimmt als deutsche bzw. kontinentaleuropäische:


    Zitat

    Original von Michael Schlechtriem
    Seit wann sind denn die amerikanischen Orchester tiefer eingestimmt als die europäischen?


    Man lernt doch immer wieder etwas dazu.
    Oder auch nicht.....


    Wenn Holliger so etwas behauptet, dann ist das m.e. einfach Quatsch.



    Das zumindest muss man doch herausfinden können. Bei einer oberflächlichen Google-Suche bin ich zunächst auf den englischen Wikipedia-Artikel über den "standard pitch" gestoßen. Hier wird behauptet:


    Despite such confusion, A = 440 Hz is arguably the most common tuning used around the world. Orchestras in the United States and United Kingdom tend to adhere to this standard as concert pitch. In other countries, however, higher pitches have become the norm: A = 442 Hz is common in continental European orchestras, while A = 445 Hz is heard in Germany, Austria, and China.


    Einige Stimmen aus der Praxis sind unter "http://www.ptg.org/pipermail/caut/2004-April/011570.html" nachzulesen. Hier erfährt man, dass z.B. in Cleveland auf 440 Hz gestimmt wird, in Philadelphia und Washington auf 442 Hz. Das wäre tatsächlich eine tiefere Stimmung als z.B. in Berlin (unter Karajan 445 Hz, heute 443 Hz).


    Stimmt das? Und habt ihr andere oder zusätzliche Informationen?



    Viele Grüße


    Bernd

  • Servus Bernd,


    ergänzend zu deiner Einleitung und weil´s so prima hier hereinpasst, möchte ich auf mein Beitrag zum letztjährigen Tamino-Adventskalender hinweisen, in dem es auch um den Kammerton bzw. Stimmton geht: Sechzehntes Türchen: 16.12.2006


    herzliche Grüße,
    Thomas

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -

  • Hallo Zwielicht,

    Zitat

    in Philadelphia und Washington auf 442 Hz


    Ja, 442Hz ist völlig normal.
    Wir stimmen auch angeblich auf 442Hz ein, aber schon während des Einstimmens rutscht der Ton ein wenig nach oben. Instrumente können auch in der Tonhöhe während des Spiels steigen, also kommt es letztendlich doch auf 443 aus.


    Aber ein Unterschied von einem Herz ist so ziemlich gar nichts.
    Deutlicher ist da schon ein Unterschied von 443Hz zu 440Hz.
    Ich habe mir mal den link angeschaut:
    Hui, da posten ja Kapazitäten!


    Sehr interessant, diese Diskussion über 442Hz.
    Mir als Streicher ist es eigentlich letztendlich egal, ob ich auf 440Hz oder 442Hz einstimme, das entscheidet der Oboist.
    Und da fand ich die Erklärung von Fred Sturm (mit dem habe ich eine tolle CD mit der HR-Big Band) sehr aufschlußreich.



    LG,
    Michael

  • Zitat

    Original von salisburgensis
    Servus Bernd,


    ergänzend zu deiner Einleitung und weil´s so prima hier hereinpasst, möchte ich auf mein Beitrag zum letztjährigen Tamino-Adventskalender hinweisen, in dem es auch um den Kammerton bzw. Stimmton geht: Sechzehntes Türchen: 16.12.2006


    herzliche Grüße,
    Thomas



    Hallo Thomas,


    vielen Dank für die Ergänzung - an diese komplizierten Geschichten mit dem Chorton und den Orgelstimmungen hab ich mich gar nicht drangewagt...


    Interessant finde ich, dass es zumindest im 19. Jahrhundert sogar innerhalb ein und derselben Stadt enorme Differenzen bezüglich des Kammertons gegeben hat. Im "Österreichischen Musiklexikon" wird unter dem Lemma "Stimmton" berichtet, dass 1834 in Wien fünf verschiedene Stimmtöne nebeneinander existierten: 434, 437, 439, 441 und 445 Hz (die letzten beiden entsprechen ja schon ganz heutigen Gepflogenheiten). Eine Stimmgabel von 1859 aus der Wiener Klavierbauerwerkstatt Streicher soll sogar auf 456 Hz (!) geeicht gewesen sein. Und "obwohl 1860 an der Wiener Oper der französische Opernton (a’ = 434 Hz) eingeführt und 1862 per kaiserliches Dekret der Stimmton der Wiener Hofmusikkapelle und der Hoftheater auf a’ = 435 Hz festgelegt wurde (bis 1869 gültig), stieg dieser in den 1870er Jahren wieder bis a’ = 447 Hz an."


    In diesem Kontext scheinen die verschiedenen Normierungsversuche im 19. und 20. Jahrhundert weniger die realen Verhältnisse widerzuspiegeln als vielmehr einen mehr oder weniger aussichtslosen Kampf gegen den permanenten Drang zum Heraufschrauben des Kammertons zu führen. Die ganz hohen Stimmungen sind demnach offenbar nicht erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgekommen, sondern existierten ab und zu auch schon im 19. Jahrhundert.






    Hallo Michael,


    in einem Interview ("http://www.morgenpost.de/content/2004/10/30/feuilleton/712866.html") weist Daniel Barenboim darauf hin, dass die Berliner Staatskapelle (wie die Philharmoniker) mit 443 Hz stimmt, die Wiener Philharmoniker aber sage und schreibe auf 447 Hz raufgehen. Das finde ich schon ganz beachtlich...



    Für diejenigen, die es ganz genau wissen wollen, gibt es übrigens folgendes preiswertes Büchlein ( :rolleyes: ) über die Geschichte des Kammertons:


    )



    Viele Grüße


    Bernd

  • Ich habe mit großem Interesse die Beiträge hier gelesen. Dennoch vermisse ich etwas.
    Nirgendwo wurde der Grund angegeben, warum dieser "A" immer höher klingen muß. Und über die Konsequenzen für Sänger habe ich gar nichts gelesen.
    Aloysia Weber muß also in der Zauberflöte damals das dreifach gestrichene "F" um mehr als eine halbe Ton tiefer gesungen haben.


    LG, Paul

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  • Zitat

    Original von musicophil
    Ich habe mit großem Interesse die Beiträge hier gelesen. Dennoch vermisse ich etwas.
    Nirgendwo wurde der Grund angegeben, warum dieser "A" immer höher klingen muß. Und über die Konsequenzen für Sänger habe ich gar nichts gelesen.
    Aloysia Weber muß also in der Zauberflöte damals das dreifach gestrichene "F" um mehr als eine halbe Ton tiefer gesungen haben.


    LG, Paul



    Hallo Paul,


    die immer höheren Anforderungen an die Singstimmen sind ganz bestimmt eine wichtige Konsequenz, die sich aus dem Heraufschrauben des Kammertons ergibt. Unter "http://www.dirigentenverband.ch/pdf/maestro_3_04.pdf" habe ich folgende Aussage des Dirigenten Ralf Weikert gefunden:


    Man muss das Phänomen der immer höheren Stimmung in historischem Zusammenhang sehen. Natürlich klingt die heutige hohe Stimmung auf einem grossen Streicherkörper sehr brillant und den Bläsern bleibt kaum etwas anderes übrig, als Ihre Instrumente ebenfalls nach oben zu manipulieren. Wer aber auf der Strecke bleibt, sind u.a. die Sänger in Verdi-Opern. Ein Bariton z.B., dessen höchster Ton bei Verdi normalerweise das gis ist, muss heute fast auf das a hinauf brüllen, weil unsere Stimmung gegenüber der in der Zeit Verdis fast einen halben Ton höher liegt. Dabei geht die schöne Stimmfarbe leider verloren und das tut mir in der Seele weh. Ich wäre dafür, sich endlich zu besinnen und wieder zumindest unter 440 Hz zu gehen. Aber da müssten eben alle mitmachen und in diesem Punkt habe ich nicht viel Hoffnung.


    Irgendwo habe ich auch mal ein Gespräch mit einem Sänger gelesen, in dem sich dieser bitter über die verschieden hohen Stimmtöne in den großen Opernhäusern dieser Welt beschwert hat (naturgemäß besonders über die sehr hohen Stimmtöne). Leider habe ich vergessen, welcher Sänger das gewesen ist... :rolleyes:


    Mir scheint allerdings, dass man auch hier relativieren muss: Wenn der Kammerton schon im Wien des 19. Jahrhunderts häufig über 440 Hz gelegen hat (wie oben dargelegt), muss es schon damals diese Schwierigkeiten gegeben haben. Und Thomas weist ja oben auf seinen Beitrag hin, in dem er das Phänomen des sogenannten Chortons erwähnt: Danach sind (laut Ton Koopman) Bachs Werke in der Leipziger Thomaskirche mit einer Stimmhöhe von 465 Hz musiziert worden! Und im barocken Italien waren (wenn ich das richtig sehe) Kammer- und Chorton mit 466 Hz identisch.



    Viele Grüße


    Bernd

  • Ich möchte hier eine kleine Anekdote beisteuern, aus der Zeit von vor ca. 20 Jahren, als das immer-weiter-in-die-Höhe-schrauben gerade groß in Mode war:


    Ein Klavierstimmer, der für eine sehr bekannte Firma auch hochklassige Konzertstimmungen zu betreuen hatte, erzählte mir, daß er bei Konzerten mit Klavier und Orchester den Stimmton quasi freihändig festlegt. Mitunter stimmt er schon mal auf 450 Hz, damit das Klavier noch halbwegs zum Orchester paßt, wenn es sich im Verlauf eines Konzertabends von 446 auf geschätzte 456 hochschraubt.
    Das war kein Witz, und es ging nicht um ein Provinzorchester (näheres obliegt meiner Schweigepflicht).


    Die Situation hat sich inzwischen deutlich gebessert, vermutlich auch unter dem Eindruck von HIP und vibratoärmerem Spiel.


    Gruß,
    Khampan
    (Lieblingsstimmton: 438 Hz)

  • Irgendwie habe ich etwas verpaßt, denn an solch hohe Stimmungen kann ich mich nicht erinnern.
    Ich habe mein ganzes Leben irgendwo zwischen 438Hz und 443Hz zugebracht.


    Die Flügel am Theater sind alle auf 442Hz gestimmt und das Orchester übernimmt bei einem Klavierkonzert selbstverständlich das "A" des Flügels.


    Gruß,
    Michael

  • Zitat

    Original von Zwielicht



    Mir scheint allerdings, dass man auch hier relativieren muss: Wenn der Kammerton schon im Wien des 19. Jahrhunderts häufig über 440 Hz gelegen hat (wie oben dargelegt), muss es schon damals diese Schwierigkeiten gegeben haben. Und Thomas weist ja oben auf seinen Beitrag hin, in dem er das Phänomen des sogenannten Chortons erwähnt: Danach sind (laut Ton Koopman) Bachs Werke in der Leipziger Thomaskirche mit einer Stimmhöhe von 465 Hz musiziert worden! Und im barocken Italien waren (wenn ich das richtig sehe) Kammer- und Chorton mit 466 Hz identisch.


    Dass Bachs Werke einheitlich im Chorton musiziert wurden, stimmt so nicht. Es gibt eigenhändige Vermerke "tief Kammerton" in den Noten verschiedener Kantaten. Und auch in Italien gab es verschiedene Stimmtonhöhen. Die 392 Hz in Frankreich waren auch nicht generell verbindlich; sie sind wohl wegen der Beliebtheit der Blockflöten eingerissen, die so tief etwas voller und runder klingen. Aber gerade bei den erhaltenen Originalflöten (Block- wie Travers-) gibt es einige, die mehrere Mittelstücke zum Auswechseln besitzen, um für jede Stimmtonhöhe gerüstet zu sein.

  • Zitat

    Original von Hildebrandt
    Dass Bachs Werke einheitlich im Chorton musiziert wurden, stimmt so nicht. Es gibt eigenhändige Vermerke "tief Kammerton" in den Noten verschiedener Kantaten. Und auch in Italien gab es verschiedene Stimmtonhöhen. Die 392 Hz in Frankreich waren auch nicht generell verbindlich; sie sind wohl wegen der Beliebtheit der Blockflöten eingerissen, die so tief etwas voller und runder klingen. Aber gerade bei den erhaltenen Originalflöten (Block- wie Travers-) gibt es einige, die mehrere Mittelstücke zum Auswechseln besitzen, um für jede Stimmtonhöhe gerüstet zu sein.



    Es kristallisiert sich ja doch heraus, dass die mehr oder weniger friedliche Koexistenz extrem unterschiedlicher Stimmungen (sogar am gleichen Ort!) bis ins 19. Jahrhundert eher die Regel als die Ausnahme war. Die Bestrebungen, eine einheitliche Regelung für den Kammerton zu finden, passen insofern ganz gut zur oft beschworenen bzw. beklagten Normierung des Instrumenten- und Orchesterklangs seit dem 19. Jahrhundert.


    Viele Grüße


    Bernd

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