Liebe Taminoanerinnen und Taminoaner,
da ich seit einiger Zeit hoffnungslos den »Rosenkranz-Sonaten« Heinrich Ignaz Franz Bibers verfallen bin und feststellte, daß es zu diesem Werk bisher keinen eigenen Thread gibt, dachte ich mir mal einen solchen über diesen IMO exeptionellen Zyklus von Violinsonaten anzuregen. Nun hat dies länger gedauert als ich eigentlich geplant hatte. Nachdem der bereits angekündigte Thread nun von einigen Forianern freundlich und ganz zu Recht eingeklagt worden ist, hab' ich heute kurz entschlossen den Eröffnungsbeitrag fertig gestellt. Er ist nun etwas heterogen geraten und vieles, was ich ausführlicher diskutieren wollte ist nur angedacht. Was soll’s – manchmal ist weniger auch mehr. Vorausschicken muß ich allerdings, daß ich mich als Laie mit Bibers »Rosenkranz-Sonaten« beschäftige – dies insofern, als ich selbst kein Violinist bin und folglich über keinerlei spielpraktische Erfahrung mit diesen Werken verfüge sondern ausschließlich über (allerdings recht intensive) hörpraktische Erfahrungen.
Heinrich Ignaz Franz Biber, der am 12. August 1644 als Sohn eines Jägers in Wartenberg (Böhmen) geboren wurde, gehört neben seinem mutmaßlichen Lehrer Johann Heinrich Schmelzer, zu den bedeutendsten Violinvirtuosen des 17. Jahrhunderts – und zu den hervorragendsten Komponisten des Barock im deutschsprachigen Raum vor Bach, Händel und Telemann. Nachdem Biber zunächst einige Zeit im Dienste des Prinzen von Eggenberg gestanden hatte, gehörte er nachweislich spätestens seit 1668 zu den Musikern des Fürstbischofs Karl von Lichterstein, den er allerdings bereits 1670 wieder verließ, um sich in Salzburg niederzulassen und in die Dienste des Fürst-Erzbischof Max Gandolf zu treten. Bis zu dessen Tod im Jahr 1687 sind alle Werke Bibers dem Fürst-Bischof zugeeignet. Zu den Werken dieser Phase gehören einige der bedeutendsten Kompositionen Bibers, so die 6 teilige »Mensa Sonara« aus dem Jahr 1680, die berühmten 8 Sonaten für Violine und Basso Continuo aus dem Jahr 1681 sowie nicht zuletzt der unter dem Namen »Rosenkranz-« bzw. »Mysterien-Sonaten« bekannt gewordene Zyklus, der vermutlich um 1675 entstanden ist.
Im Jahr 1684 wurde Biber zum Kapellmeister ernannt und ihm zugleich der Titel eines Truchseß verliehen.
Nach dem Tode Max Gandolfs wurde Biber im Dienst von dessen Nachfolger Johann Ernst Graf Thun übernommen. Als Biber schließlich im Jahr 1690 von Kaiser Leopold I in den Adelsstand gehoben wurde – er durfte sich von nun an Heinrich Ignaz Franz Biber von Bibern nennen – hatte er sich bereits einen außerordentlichen Ruf als Virtuose und Komponist an vielen Fürstenhöfen Europas erarbeitet. Biber starb hochangesehen am 3. Mai 1704 in Salzburg.
Bibers »Rosenkranz-Sonaten« entstanden, wie bereits erwähnt, in der Mitte der 1670er Jahre und sind in vielerlei Hinsicht exeptionell im Rahmen von Bibers ohnehin exeptionellen Gesamtwerk. Der Zyklus von 15 Sonaten für Violine und Basso Continuo, der von einer »Passagaglia« für Violine allein beschlossen wird, ist den 15 Mysterien des Rosenkranzes gewidmet, wobei die jeweiligen Sontane weniger illustrativ verfahren als vielmehr als Meditationen über die einzelnen Mysterien des Rosenkranzes zu begreifen sind.
Gemäß der Struktur des katholischen Rosenkranzgebetes ist Bibers Sonatenzyklus in 3 mal 5 Sonaten untergliedert: Jeweils fünf Sonaten sind den fünf freudenreichen Mysterien gewidmet, den fünf schmerzensreichen Mysterien und den fünf Glorreichen Mysterien; die abschließende »Passagaglia« ist dem Schutzengel zugeeignet.
Der Zyklus gestaltet sich somit folgendermaßen:
Die fünf freudenreichen Mysterien
Sonate I (d-moll): »Den du vom Heiligen Geist empfangen hast« (Praeludium / Aria allegro – Variatio / Finale)
Sonate II (A-Dur): Den Du zu Elisabeth getragen hast« (Sonata / Allemande / Presto)
Sonate III (h-moll): »Den du geboren hast« (Sonata / Courante – Double / Adagio)
Sonate IV (d-moll): »Den du im Tempel aufgeopfert hast« (Ciaconia)
Sonate V: (A-Dur): »Den du im Tempel wiedergefunden hast« (Praeludium / Allemande / Gigue / Sarabande – Double)
Die fünf schmerzensreichen Mysterien:
Sonate VI (c-moll): »Der für uns im Garten Blut geschwitzet hat« (Lamento / Presto / Adagio)
Sonate VII (F-Dur): »Der für uns gegeißelt worden ist« (Allemande – Variatio / Sarabande – Variatio)
Sonate VIII (B-Dur): »Der für uns mit Dornen gekrönt worden ist« (Sonata / Gigue – Double – Double 2)
Sonate IX (a-moll): »Der für uns das Kreuz getragen hat« (Sonata / Courante – Double / Finale)
Sonate X (g-moll): »Der für uns gekreuzigt worden ist« (Praeludium / Aria – Variatio)
Die fünf glorreichen Mysterien:
Sonate XI (G-Dur): »Der für uns von den Toten auferstanden ist« (Sonata / »Surrexit Christus hodie« / Adagio)
Sonate XII (C-Dur): »Der für uns in den Himmel aufgefahren ist« (Intrada / Aria Tubicinum / Allemande / Courante – Double)
Sonate XIII (d-moll): »Der uns den Heiligen Geist gesandt hat« (Sonata / Gavotte / Gigue / Sarabande)
Sonate XIV (D-Dur): »Der dich in den Himmel aufgenommen hat« (Praeludium / Aria / Guige)
Sonate XV (C-Dur): »Der dich im Himmel gekrönt hat« (Sonata / Aria / Canzona / Sarabande)
Sonate XVI (g-moll): »Schutzengelsonate« (Passagaglia für Violine solo).
Bereits ein Blick auf die Satzfolge der einzelnen Sonaten zeigt, daß Biber eine ungeheure stilistische Vielfalt walten ließ. Neben strengen Formen stehen – im sakralen Kontext vielleicht zunächst verblüffend – Tanzsätze. Besondere Bedeutung erhalten Ostinato-Techniken, entweder in den vertrauten Formen von Ciaconia und Passacaglia oder in der Reihung von Variationen.
Die Zuordnung der Sonaten zu den einzelnen Mysterien des Rosenkranzes erfolgt nicht über die hier von mir zugeordneten Überschriften, sondern durch einen kleinen Kupferstich, der in der Originalhandschrift den jeweiligen Sonaten vorangestellt ist. Allerdings hat Biber auch in der Widmung an den Fürst-Bischof auf den Kontext des Rosenkranzes explizit hingewiesen:
»Du wirst meine mit vier Saiten bespannte und in fünfzehnfachem Wechsel gestimmte Leyer in verschiedenen Sonaten, Prälusien, Allemanden, Sarabanden, Arien, Chaconnen, etc. in Verbindung mit dem Basso Contiunuo vernehmen, in Stücken wie ich es vermochte, mit großer Kunstfertigkeit ausgearbeitet wurden. Wenn Du die Ursache für diese Zahl wissen willst, werde ich es Dir erklären: All das habe ich nämlich zur Ehre der heiligen fünfzehn Geheimnisse geweiht, die Du auf das leidenschaftlichste fördern mögst.«
Neben dem Hinweis auf den Rosenkranz enthält diese kurze Passage aus der Widmung einen weiteren wichtigen Hinweis: einen Hinweis auf eine spezifische Besonderheit des Rosenkranz-Zyklus. Die in »fünfzehnfachem Wechsel gestimmte Leyer« verweist auf die Technik der Skordatura, das Umstimmen der Saiten. Nun war die Technik der Skordatur im 17. Jahrhundert ein nicht unbekanntes oder gänzlich unübliches Mittel um spezifische Klangeffekte zu erzielen (indem die Saitenspannung signifikant verändert wurde) oder um bestimmte Doppel- und Mehrfachgriffe zu ermöglich, doch macht Biber in den Rosenkranzsonaten in wohl einzigartiger Weise ausgiebigen Gebrauch davon. Allein die erste Sonate und die abschließende »Passagaglia« für Violine solo fordern die normale Quintstimmung der Violine; in allen anderen Sonaten sind Umstimmungen der Violine vorgeschrieben, die von der II. Bis zur X. Sonate immer kühner werden, in der XI. Sonate eine beinahe aberwitzige Verstimmung der Violine in überkreuzten Oktaven (g – g‘ – d‘ – d‘‘) und dann bis einschließlich zur XV. Sonate sich nach und nach wieder der Normalstimmung annähern. Auch Biber nutzt die Skordatur, um Mehrfachgriffe zu ermöglichen und spezifische Klangeffekte zu erzielen – darüber hinaus wird die Verstimmung der Saiten allerdings auch mit symbolischen Konnotationen aufgeladen: Besonders evident wird dies in der bereits angesprochenen XI. Sonate: anstatt von vier übereinanderliegenden Tönen, schreibt Biber eine Stimmung in zwei Gruppen von einander überkreuzenden Oktaven vor. Die beiden oberen Saiten werden um einen ganzen Ton herunter gestimmt (auf g‘ und d‘‘ statt a‘ und e‘‘). Zudem schreibt Biber vor, daß die beiden mittleren Saiten hinter dem Steg und hinter dem Sattel überkreuzt werden: Das Kreuz wird visualisiert und durch die Überkreuzung der Saitenstimmung wird die normale Beziehung zwischen notiertem und klingendem Ton völlig aufgehoben. Mit der Auferstehung ist alles, was bisher gültig war, im wahrsten Sinne des Wortes verkehrt.
Die extreme Verwendung der Skordatur eröffnet dann ein weites Feld des Mystischen: denn notiert hat Biber sämtliche Sonaten so, als sei die Violine normal gestimmt. Der notierte Text bildet damit nicht einmal ansatzweise die klingende Musik ab – er gerät (gleich einer Tabulatur) zu einer Ausfühungsvorschrift für Griffe – die Musik wird – selbst für den Interpreten – erst in der Ausführung erfahrbar. Neben diesen explizit musikalischen Techniken der Mystifizierung, sind die Rosankranzsonaten mit zahlreichen zahlensymbolischen Verweisen auf den biblisch-religiösen Kontext (so erklingen im Zyklus zum Beispiel insgesamt 2772 Takte – der Kanon der katholischen Bibel umfaßt 72 Bücher von denen 27 das Neue Testament bilden) wie auch auf Keplers Harmonices Mundi gespickt, die der Violinist und Musikwissenschaftler Rüdiger Lotter auf beeindruckende Weise dechiffriert hat. Lotters Untersuchungen können hier nachgelesen werden.
Mystisch werden die »Rosankranz-Sonaten« aber wohl glücklicherweise trotz all dieser Dechiffrierungen und Auslegungen bleiben. Biber selbst hat diesen Zyklus übrigens selbst niemals für den Druck vorbereitet, sondern sie stets gleich einem Geheimnis bewahrt, das sich allein in der Ausführung offenbaren kann.
Nun sind in den letzten 15 Jahren ja eine ganz Reihe von sehr guten Einspielungen der »Rosenkranz-Sonaten« erschienen, die einen oftmals sehr unterschiedlichen Zugriff deutlich machen: von estrovertierter musikantischer Virtuosität (R. Goebel oder P. Bismuth) über eher meditative Zugänge (J. Holloway oder A. Pierot) bis zu introvertierter Kontemplativität (A. Manze oder W. Reiter). Meine persönliche Favoritin habe ich ja bereits an anderen Stellen mehrfach geoutet. Dennoch möchte ich die Interpretation von Alice Pierot und dem Ensemble »Le Veilleurs de Nuit« kurz vorstellen.
Alice Pierot wählt einen eher meditativ Zugriff auf den Zyklus. Darin unterscheidet sie sich deutlich etwa von R. Goebel und der Musica Antiqua, die sehr das Virtuos-Spielerische der Sonaten betonen. Pierot wählt moderate Tempi (Goebel oder Bismuth sind insgesamt deutlich schneller unterwegs, Manze oder insbesondere Reiter oftmals deutlich langsamer). Auf wunderbare Weise gelingt es Pierot die virtuosen wie auch die kontemplativ-religiösen Momente des Werks mit einander zu vermitteln und den Rosenkranz geradezu einem sinnlichen Ereignis zu machen. Wenn Frau Pierot in der Auferstehungssonate das »Surrexit Christus hodie« intoniert möchte man tatsächlich gläubig werden.... Alice Pierot und ihr Ensemble »Le Veilleurs de Nuit« präsentieren das Mysterium der Rosenkranzes als ein klanggewordenes, sehr, sehr sinnliches Gebet.
Mich würde nun interessieren, wie ihr Bibers Rosenkran-Zyklus erfahren habt, welche Einspielungen ihr kennt und wie ihr diese empfunden habt. Freue mich auf eure Beiträge und auf die Diskussion!!!
Herzlichst,
Medard