Hallo, liebe Freunde der Klaviermusik,
die Waldszenen sind einer der seltener gespielten Zyklen von Schumann, aber vor allem das Stück "Vogel als Prophet" verdient großes Interesse. Lange Jahre hatte Schumann nicht mehr für das Klavier komponiert, bis dann 1848 das "Album für die Jugend" und die "Waldszenen" entstanden. Die "Waldszenen" enthalten die Stücke "Eintritt", "Jäger auf der Lauer", "Einsame Blumen", "Verrufene Stelle", "Freundliche Landschaft", "Herberge", "Vogel als Prophet", "Jagdlied" und "Abschied". Der "Vogel als Prophet" wurde erst nachträglich den anderen acht Stücken hinzugefügt. Wie schon die Toccata op. 7 fällt es völlig aus dem gewohnten Rahmen.
Schumann hat nach der Komposition allen Stücken literarische Motti vorangestellt, diese jedoch außer für die "Verrufene Stelle" wieder gestrichen. Für den "Vogel als Prophet" war "Hüte dich! Sei wach u. munter!" nach Eichendorff vorgesehen. Der gesamte Zyklus erhielt als Motto: "Komm mit, verlaß das Marktgeschrei, / Verlaß den Qualm, der sich dir ballt / Um's Herz, und athme wieder frei; / Komm mit uns in den grünen Wald". Das ist eine Gedichtstrophe der 1850 von Gustav Pfarrius veröffentlichten Gedichtsammlung "Die Waldlieder".
Die Veröffentlichung zog sich lange hin, da Schumann wegen fehlender befriedigender Arbeitsmöglichkeiten Dresden verlassen musste und nach Düsseldorf umzog, wo ihm aussichtsreichere Stellen angeboten worden waren. Wie sich zeigen sollte, war das nur von kurzer Dauer. "Vogel als Prophet" zeigt die innere Umbruchsituation - und ist vielleicht auch prophetisch?
Der Wald war eine romantische Metapher der Weltflucht. Schumann befindet sich schon im Übergang zu einem harmloseren, idyllischen Verständnis. Doch der "Vogel als Prophet" steht gegen diese Tendenz.
Jürgen Uhde und Renate Wieland charakterisieren es sehr schön in ihrem Buch "Denken und Spielen":
"Ist dieser Vogel Prophet, so spricht er wahr, aber die Wahrheit ist rätselhaft. Seine Stimme steht merkwürdig indifferent zwischen Sprache und Tanz; die Melodie bleibt durch die dissonanten langen Vorhalte, Boten fremder Tonalität, selber wie fremd, und so hält sich in dieser Stimme einn abseitiger, beunruhigender Ton. Vom Interpreten ist nicht gefühlvolles Espressivo, sondern eine Haltung des Lauschenden gefordert. (...) So entsteht hier ein Fragment subjektiven Ausdrucks, der gewaltlos wieder im Naturlaut, dem unverändert rätselhaften, untergeht. Gegenüber der subjektiven Sprache behält hier gerade in einem romantischen Stück das Objektive das letzte Wort."
Dass dieses Stück etwas getroffen hat, das bis heute hochaktuell ist, zeigt der sehr unterschiedlich aufgenommene Roman "Mister Aufziehvogel" von Haruki Murakami, erschienen 1994 in Japan. Der entscheidende mittlere Teil steht unter dem Titel "Vogel als Prophet" und schildert einen etwa 30-jährigen Mann, der in einer Lebenskrise von obsessiven Träumen verfolgt wird und zahlreichen hellseherischen Frauen begegnet.
Viele Grüße,
Walter