Welche Dirigenten polarisieren - und warum ?

  • Liebe Forianer,


    Wenn man in Kritiken von Klassikzeitschriften list, im Bekanntenkreis Meinungen austauscht, oder die Beiträge im Tamino Klassikforum vervolgt - dann stösst man immer wieder auf die Tatsache, daß es verschiedene Gruppen von Dirigenten gibt.


    a) Solche die gar nicht auffallen - bei guten Leistungen wohlgemerkt


    b) solche die hochgelobt werden - es gibt immer wieder Threads über sie, eine Empfehlung folgt der anderen.


    c) solche die ebenfalls hochgelobt werden - aber eigentlich scheint es wenig Interesse zu gebe, sich mit ihnen näher zu befassen.


    d) Dirigenten, welche polarisieren - zumeist von einen relativ fanatischen Anhängerschaft umgeben - und desgleichen von einer ebenso fanatisch Schar von Kritikern. Ihre Karriere verläuft zumeist glänzend - vielleicht sogar exzeptionell - Die Fachpresse ist voll von Informationen über sie - ihre Tonaufnahmen verkaufen sich (zumeist) glänzend.


    Genau dieser letzten Gruppe möchte ich meinen Thread widmen.
    Welche Namen fallen Euch spontan zu diesem Thema ein - was ist das "Aussergewöhnliche" an diesen Dirigenten, von denen ihre Gegener meist sagen, sie wären maßlos überschätzt ?


    viel Vergnügen mit diesem Thema
    wünscht
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • In den letzten Wochen hörte ich einige Live-Mitschnitte, bei denen Klaus Tennstedt Spitzen-Orchester der USA aus New York, Boston und Philadelphia dirigierte, und zwar Werke von Mahler und Strauss. Wenn ich mich recht erinnere, gehörte Tennstedt zu jenen Dirigenten, die unterschiedlich geschätzt wurden : im englischen Sprachraum zu einer Kultfigur stilisiert, im deutschen Sprachraum eher abfällig beurteilt. Ohne dass mein Urteil jetzt auf Studio-Produktionen beruht (ich hörte Tennstedt diverse Male live), hat er mich oftmals begeistert, besonders bei Brahms, Mahler und Strauss, weniger bei Mozart.
    Ich erinnere mich, dass er nach einem Krach mit seinem damaligen Stammorchester, den Sinfonikern des Norddeutschen Rundfunks, ausschied und Guenter Wand sein Nachfolger wurde. Offenbar nicht nur ein verkannter, sondern auch ein schwieriger Dirigent.


    Gruesse


    Mikko

  • Ad hoc, lieber Alfred fällt mir da sofort Herbert von Karajan ein, der wohl kaum sachlich beurteilt wird.


    Unter den Lebenden würde ich die Herren Barenboim, Thielmann und Rattle herausgreifen. Besonders Thielmann ist mir in den vergangenen Jahren dadurch aufgefallen, daß man -ähnlich bei Karajan- außerkünstlerisch gegen ihn argumentiert. Ein ihm zugeschriebenes antisemitisches Zitat wurde munter kolportiert, seine breiten Tempi werden nicht als musikalisches Credo begriffen, überdies spielt er Pfitzner, das reicht offensichtlich aus, um ihn in eine bestimmte Ecke zu drängen.


    Die Polarisierungsfähigkeit von Simon Rattle lässt sich hier im Forum nachlesen.


    Und noch ein guruähnlicher Verstorbener mit fanatischer Anhängerschaft: Sergiu Celibidache. Seine vordergründige Weigerung Tonaufnahmen gegenüber -was faktisch nicht stimmt: das rumänische Label Electrocord hat das eine oder andere im Archiv, in der direkten Nachkriegszeit gab's Einspielungen für die DGG und die vielen auf LP, später auf CD vertriebenen Rundfunkmitschnitte aus den RAI-Archiven dürften ihm wohl kaum entgangen sein, Selbstäußerungen zur Musik und auch eine geschickte Selbstinszenierung hatten schon zu Lebzeiten die Jagd auf Celis Tonschnipsel und Konzertkarten eröffnet. Ein fast sektenähnliches Phänomen.


    Von der Wahrnehmung her:


    Karajan als Exponent einer sich selbst als gehoben ansehenden Gesellschaftsschicht, Respräsentant eines Jet Set und


    Celibidache als Exponent metaphysischer Grübler.


    Täusche ich mich?


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Dass Harnoncourt ebenfalls zu den durchaus polarisierend wirkenden Dirigenten gehört, haben wir hier im Forum in einer lebhaften Diskussion vor einiger Zeit erlebt.



    Die Diskussion habe ich als gehaltvoller in Erinnerung als die Karajan-Debatten. Vielleicht liegt das daran, dass Harnoncourts Aufnahmen ebenfalls ... Psssst. :untertauch:


    In der Diskussion geht es zunächst einmal um die Frage, inwieweit Harnoncourts Aufführungspraxis z.B. der Mozartopern in der jüngeren Zeit anhand des zugrunde liegenden Textes als textgemäß und original gelten kann. Zum anderen wirkt die z.T. etwas "ruppige", tänzerische und auf manchen etwas hart wirkende Gangart polarisierend. Spannend und kontrovers diskutiert werden u.a. auch seine Bruckner-Einspielungen.


    Freundliche Grüße, Andrew

    „Nichts auf Erden ist kräftiger, die Traurigen fröhlich, die Ausgelassenen nachdenklich, die Verzagten herzhaft, die Verwegenen bedachtsam zu machen, die Hochmütigen zur Demut zu reizen, und Neid und Hass zu mindern, als die Musik.“

  • Warum polarisiert jemand?


    Das scheint mir u.a. dann zu passieren, wenn folgender Eindruck entsteht:


    - Er hat die "Wahrheit gepachtet", tritt also mit dem Anspruch auf, dass seine unkonventionellen, oder gar "revisionären" Interpretationen (allein) richtig seien, der Rest verstaubte Konvention oder jedenfalls falsch (HIP allgemein, Harnoncourt oder Rifkin im besonderen, aber auch z.B. Celibidache).


    Das liegt bei *allen* als unkonventionell empfunden Interpretationen nahe, auch wenn der Künstler gar nicht explizit behauptet hat, es "besser" zu wissen (Boulez oder Thielemann).
    Es ist natürlich auch immer vom Hintergrund abhängig, was als unkonventionell gilt. Ich weiß nicht, ob Furtwängler 1925 als unkonventionell galt, wenn heute einer wie Furtwängler dirigierte, währe es hochgradig unkonventionell...
    Aber immerhin geht es hier im Kern um die Sache, um Fragen, wie Musikstücke oder bestimmte Passagen angemessen darzustellen seien, daher haben hier die polarisierenden Diskussionen eine gewisse Chance auf Gehalt... (sofern man einräumt, dass X nicht einfach nur provozieren will, sondern diskutable Gründe für seine Lesarten anführen kann)


    - Es geht weniger um den Dirigenten selber, aber um ein extremes Auseinandertreten von Publicity, "Hype" und tatsächlicher Bedeutung. Die Anhänger behaupten, dass der Hype voll gerechtfertigt sei, die Kritiker sehen das entsprechend anders (Karajan, Rattle u.a.)
    (wenn dann als Argument für die Bedeutung gebracht wird, dass X doch so außerordentlich berühmt sei, beginnt man sich im Kreise zu drehen)


    Auch das gibt es in Variationen, der notorische Lokalpatriotismus der britischen Musikpresse (und die entsprechenden Gegenreaktionen) seien nur als ein Beispiel erwähnt.


    Ich glaube, dass der Bekanntheitsgrad, die Publicity eine stark verschärfende Rolle spielt. Scherchens oder Leibowitz' Interpretationen, nicht nur von Beethoven, hätten in vieler Hinsicht extrem polarisieren können. Aber keiner dieser Dirigenten war so berühmt wie Karajan, Toscanini oder Furtwängler, daher hielt sich das wohl im Rahmen. Oder sie wurden (und das galt lange für den gesamten HIP-Bereich und gilt auch heute dort noch teilweise) hauptsächlich in einem Umfeld wahrgenommen, das mit ihnen im Wesentlichen einverstanden war und von denen, die sich provoziert hätten fühlen können, weitgehend ignoriert.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Interessantes Thema,


    klar gibt es Dirigenten, die polarisieren wie man an einigen Threads unschwer erkennen kann. Bei den Namen kann man wohl schnell Einigkeit erzielen, als da wären u.a. Karajan, Thielemann, Rattle, Harnoncourt, Celebidache. Ich glaube, dass Santoliguido recht hat mit seiner Annahme, dass oft außermusikalisch vor allem gegen einen Dirigenten argumentiert wird.


    Warum ist das so? Wenn ich mein Inneres befrage, spielen die folgenden Faktoren eine Rolle:


    1. Marketing / Werbung. Ich bin mittlerweile komplett allergisch gegen Werbung jeder Form. Wenn für einen Künstler geworben wird, und das auch noch reißerisch als sei’s der neue Messias, gibt es schonmal reichlich Minuspunkte. Bis dahin habe ich zwar noch gar nichts gehört aber ich bin irgendwie schon voreingenommen. Gefällt dann das Ergebnis nicht, ist es eine wunderbare Bestätigung einer üblen Marketingkampagne. Ging mir bis jetzt so mit Thielemann dessen Tristan und Parsifal mich enttäuscht haben.


    2. Besonders bei Dirigenten spielt m.E. Sympathie und Charisma eine große Rolle. Ist ein Dirigent erstmal unsympathisch, muss er sich besonders anstrengen, dieses Manko auszugleichen. Das ging mir so mit Barenboim, der mir immer noch nicht so recht sympathisch ist, den ich aber für einen sehr guten Dirigenten halte. Das Gleiche gilt natürlich auch im Umkehrschluss: z.B. finde ich, dass Carlos Kleiber ein außerordentliches Charisma hat. Ist er vielleicht daher nicht so polarisierend?


    Die Verbindung aus 1. Und 2. Ist natürlich fast letal. Simon Rattle z.B. werde ich mich nie über ein Video nähern können, dazu finde ich diese affektierten Posen und Grimassen zu unerträglich.


    Viele Grüße,
    calaf

    Without deviation from the norm, progress is not possible.
    (Frank Zappa)

    Einmal editiert, zuletzt von calaf ()

  • Hallo Johannes,

    Zitat

    Das liegt bei *allen* als unkonventionell empfunden Interpretationen nahe, auch wenn der Künstler gar nicht explizit behauptet hat, es "besser" zu wissen (Boulez oder Thielemann).


    Das hat Boulez aber nie behauptet. Wenn er etwas "besser" weiß, steht es genau so in der Partitur. Und daß sich verschiedene Konventionen eingeschlichen haben, von denen es gut ist, wenn man sie beseitigt, wirst Du doch wohl nicht bestreiten.


    Abgesehen davon hat Boulez eher durch polemische (allerdings auch sehr kluge) Artikel polarisiert und viel weniger durch seine Interpretationen.


    Die wirklich polarisierenden Dirigenten sind meiner Meinung nach jene, die Calaf nennt: Karajan, Thielemann, Rattle, Harnoncourt, Celebidache. Daß sie polarisieren, ist kein Zufall: Sie haben eine fanatische Anhängerschaft um sich geschart, die ihnen eine nahezu religiöse Verehrung entgegenbringt. Ein solcher Status erzeugt zwangsläufig eine Gemeinschaft der Nicht-Anhänger. Ich sehe das also eher als gruppendynamisches Phänomen denn als musikalisches.


    :hello:

    ...

  • Hallo!


    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    ...
    Die wirklich polarisierenden Dirigenten sind meiner Meinung nach jene, die Calaf nennt: Karajan, Thielemann, Rattle, Harnoncourt, Celebidache. Daß sie polarisieren, ist kein Zufall: Sie haben eine fanatische Anhängerschaft um sich geschart, die ihnen eine nahezu religiöse Verehrung entgegenbringt.
    ...


    Nur fürs Protokoll: Ich höre gern Aufnahmen oder Konzerte von und mit Thielemann wie auch Rattle (wahrscheinlich ist es an sich schon eine gewagte Kombi, beide zu schätzen.) Ich sehe mich aber nicht als fanatischer Anhänger und habe mich auch noch nicht beim Anbeten der beiden Kapellmeister erwischt.


    :hello:


    Gruß, l.

    "Jein".

    Fettes Brot

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Karajan, Thielemann, Rattle, Harnoncourt, Celebidache. Daß sie polarisieren, ist kein Zufall: Sie haben eine fanatische Anhängerschaft um sich geschart, die ihnen eine nahezu religiöse Verehrung entgegenbringt.


    das fällt wohl eher in die rubrik "märchenstunde". der große meister, der die schäfchen um sich schart, um sie mittels musikalischer gehirnwäsche hörig zu machen. ich weis zwar nicht, was harnoncourt oder rattle den ganzen tag so treiben, aber das doch sicher nicht.


    ihre popularität, wie auch ihre polarisierung liegt wohl eher an den musikalischen leistungen, die manchmal gepaart sind mit affektiertem gehabe (celibidache, karajan), manchmal mit übermäßiger medien/marketingpräsenz (rattle, thielemann) und manchmal mit kontroversiellen oder besserwisserischen äußerungen (harnoncourt, boulez). allen polarisierenden ist jedoch gemeinsam, dass sie aus der masse herausragen, warum auch immer.


    auch wenn ich mit einigen oben genannten personen nichts anfangen kann und manche sogar dezidiert ablehne, finde ich doch, dass gerade solche persönlichkeiten wichtig für die kunst sind. ich möchte keinen von ihnen missen (nicht mal karajan :D).


    greetings, uhlmann

  • Zitat

    das fällt wohl eher in die rubrik "märchenstunde". der große meister, der die schäfchen um sich schart, um sie mittels musikalischer gehirnwäsche hörig zu machen.


    Na, na, Du weißt schon, wie ich das gemeint habe. Oder soll ich's für Dich in einem längeren Essay ausführen? :D
    :hello:

    ...

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner


    Das hat Boulez aber nie behauptet. Wenn er etwas "besser" weiß, steht es genau so in der Partitur. Und daß sich verschiedene Konventionen eingeschlichen haben, von denen es gut ist, wenn man sie beseitigt, wirst Du doch wohl nicht bestreiten.


    Abgesehen davon hat Boulez eher durch polemische (allerdings auch sehr kluge) Artikel polarisiert und viel weniger durch seine Interpretationen.


    Das ist ein Mißverständnis, das ich befürchtet habe. Ich meinte eigentlich Boulez als ein Beispiel für Polarisation durch unkonventionelle Interpretation (zB Wagner), auch ohne "besserwisserische" Kommentare. Auch von Thielemann waren mir bisher eher politisch als musikalisch problematische Äußerungen bekannt. Mag sein, dass es schlechte Beispiele sind. Aber häufig ist es doch genauso wie bei den Regisseuren: irgendwas ist anders als gewohnt, und die erste Reaktion ist nicht, nachzudenken, warum er es anders macht (oder gar was in der Partitur steht), sondern zu quäken: Der will uns doch nur provozieren!


    Zitat


    Die wirklich polarisierenden Dirigenten sind meiner Meinung nach jene, die Calaf nennt: Karajan, Thielemann, Rattle, Harnoncourt, Celebidache. Daß sie polarisieren, ist kein Zufall: Sie haben eine fanatische Anhängerschaft um sich geschart, die ihnen eine nahezu religiöse Verehrung entgegenbringt. Ein solcher Status erzeugt zwangsläufig eine Gemeinschaft der Nicht-Anhänger. Ich sehe das also eher als gruppendynamisches Phänomen denn als musikalisches.


    Also die religiösen Rattle- und Harnoncourt-Verehrer sind mir jedenfalls noch nicht aufgefallen. Und wie gesagt, würde ich Rattle und Karajan (deren Interpretationen mir, soweit ich sie kenne, nicht sehr auffällig scheinen) hier ganz anders einordnen. Wenn Celi über Bruckner und Zen schwadroniert und meint, dass alle anderen Stümper sind oder Harnoncourt behauptet, ein bestimmtes Stück von Mozart würde fast immer falsch dirigiert, dann verstärkt das die Reaktion, die man aufgrund ihres unkonventionellen Musikmachens ohnehin erwarten kann, immens. Das kommt vor jeglicher Gruppendynamik.
    Bei den gehypten (oder charismatischen) Stars ist die Anhängerschaft natürlich wichtig. Aber der Grund, warum z.B. Karajan solch heftige Gegenreaktionen auslöst, liegt m.E. weniger in seinen Interpretationen als in der Tatsache, dass gewisse Anhänger ihn über alles stellen. Seine Interpretationen sind, von ein paar Ausnahmen (wie 4 Jahreszeiten) abgesehen nur dann polarisierend, wenn man sie als Nonplusultra hinstellt.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
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    (Bob Dylan)

  • Interessant, daß einige bisher gar nicht genannt wurden - Ich denke da in erster Linie an Roger Norrington - und wenn auch nicht ganz so ausgeprägt an - Karl Böhm.


    mfg


    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Und den guten alten Lennie habt ihr mal wieder vergessen. Und das in Wien. Wo er Euch doch beigebracht hat, wie man Mahler richtig spielt... :D


    :hello:


    GiselherHH

    "Mache es besser! (...) soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen."


    (Gotthold Ephraim Lessing: Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt)

  • Ich glaube, dass Zinman im Zweifelsfalle mehr polarisiert als Norrington. Böhm polarisiert weniger, dazu ist die Abscheu der meisten Böhm-Ächter nicht stark genug.



    Ich denke, dass die meisten genannten Dirigenten aus verschiedenen Gründen polarisieren. Harnoncourt und Celibidache wegen ihrer Interpretationen polarisieren, sind es bei Rattle und Thielemann eher die Umstände, dass sie als die neuen Kultdirigenten gesehen, was von vielen einfach abgelehnt wird. Mit anderen Worten ihre Gegner regt auf, dass sie als die Elite unter den Dirigenten gesehen werden. Bei Karajan gilt beiden, wie wir auch schon im Forum des öfteren sehen durften.



    LG
    Georg

    Früher rasierte man sich wenn man Beethoven hören wollte. Heute hört man Beethoven wenn man sich rasiert. (Peter Bamm)

  • Zitat

    Original von georgius1988
    Ich glaube, dass Zinman im Zweifelsfalle mehr polarisiert als Norrington. Böhm polarisiert weniger, dazu ist die Abscheu der meisten Böhm-Ächter nicht stark genug.


    Die Polarisierung, die die HIP-Dirigenten, nicht nur Norrington, Harnoncourt, sondern ein ganzer Schwung mehr auslösten, hat sich in vielen Fällen nach 20-30 Jahren verständlicherweise etwas abgestoßen. ;)


    Bei Böhm stimme ich Dir zu. Ich halte ihn für einen ausgezeichneten Wagner- und Brahms-Dirigenten (vermutlich auch Richard Strauss), bloß sein Mozart (Haydn, Beethoven) ist größtenteils hoffnungslos überschätzt (laaaangweilig). Aber eben auch wieder nicht so fürchterlich, dass man sie verabscheuen müßte...


    Lennie wurde in der Tat vergessen. Hier gibt es gewiß eine Kombination
    der Polariationsursachen strittige Interpretationen und Kultgemeinde aufgrund seines unbezweifelbaren Charismas.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
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    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Zitat Johannes Roehl
    Also die religiösen Rattle- und Harnoncourt-Verehrer sind mir jedenfalls noch nicht aufgefallen.


    Bei Rattle mag es stimmen. Aber just Harnoncourt ist einer, der wirklich aktiv das getan hat, worüber sich Uhlmann weiter oben mokiert: Nämlich ganz aktiv für eine Gemeinde gesorgt.


    Die Wurzeln dafür liegen in Wien, und zwar ganz konkret beim "Concentus musicus", dessen Anfänge tatsächlich im Rahmen einer relativ kleinen eingeschworenen Hörergemeinde stattfanden. Zusammengeschweißt wurde sie dadurch, daß niemand, der in Wien einen Stellenwert hatte, den "dirigierenden Cellisten" ernst nahm oder ihn gar als Dirigenten großer Projekte engagierte. Das kam erst viel später.
    Natürlich ist Harnoncourt jetzt ein Stardirigent, den man liebt - aber für die ursprüngliche Concentus-musicus-Gemeinde ist er wesentlich mehr. Hier schwingt durchaus eine Verehrung mit.


    Übrigens bin ich auch bei Celibidache der Meinung, daß er sich seinen Nimbus ganz gezielt aufgebaut hat und sich mit seinem Gefasel über den Buddhismus mit Absicht mit der Aura des Weisen umgeben hat. Also hat auch er relativ gezielt für eine Gemeinde gesorgt.


    Bernstein hingegen hat eigentlich nie wirklich polarisiert. Ich weiß zwar, daß viele seine Aufführungen nicht mochten, aber der Haß auf Bernstein scheint mir eher eine Ausnahmeerscheinung.


    Auch Böhm ist solch ein Fall: Natürlich gab es Leute, die ihn ablehnten, weil er sich seiner Vergangenheit nicht stellen wollte und weil er die Wiener Staatsoper seiner eigenen Karriere unterordnete. Aber diese Aversionen haben wenig mit seinen Interpretationen zu tun. Ähnlich auch Lorin Maazel, der als Direktor der Wiener Staatsoper kapitalen Mist baute und so unbeliebt war, daß einmal eine Stehplatzbesucherin dem Reporter ins Mikro geiferte: "Ich hasse ihn, ich hasse ihn ganz einfach". Kaum war Maazel zurückgetreten, wurde er als Dirigent wieder heißer geliebt, als er es eigentlich verdient.


    Von den lebenden Dirigenten, die aus musikalischen, also interpretatorischen Gründen polarisieren bzw. polarisierten (ab einem gewissen Alter wird offenbar jeder nur noch milde beurteilt und für einen Heilsbringer gehalten), fallen mir eigentlich nur Harnoncourt, Gielen, Abbado (vor allem in seiner Frühzeit), Zinman, Thielemann und Rattle ein, wobei ich auch bei den beiden letztgenannten glaube, daß es weniger um musikalische Gründe geht als um solche der medialen Präsenz bzw. der öffentlichen Auftritte außerhalb von Konzertsaal und Opernhaus.


    :hello:

    ...

  • Hallo Edwin,


    also bei Maazel kenne ich schon ein paar Leute, die den Menschen Maazel irgendwie nicht riechen können - "unerträgliche Arroganz" ist dann ein Stichwort was fällt.


    Nach außen hin macht er auch auf mich einen solchen Eindruck, seine dämliche Rolex-Werbung unterstütze dieses Image.


    Aber ich habe ihn dafür in seinen frühen Aufnahmen für seine untrügliches Ohr in Sachen Zeitmaß immer sehr geschätzt (also, die alten Aufnahmen meine ich!!)


    :hello:
    Wulf

  • Hallo


    Dass Abbado irgendwann als Dirigent polarisiert haben soll, ist mir völlig entgangen...


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Zitat

    Original von Theophilus
    Hallo


    Dass Abbado irgendwann als Dirigent polarisiert haben soll, ist mir völlig entgangen...


    :hello:


    Schade, sonst wüßtest Du um die heftigen Konflikte, die er in Italien auslöste, als er die Musik von Luigi Nono propagierte. Auch Abbados Tätigkeit an der Mailänder Scala war heftig umkämpft, zumal er für Italien höchst unbequeme Komponisten brachte und schließlich auch noch einen zeitgemäß inszenierten "Ring" durchsetzen wollte.
    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Wulf
    also bei Maazel kenne ich schon ein paar Leute, die den Menschen Maazel irgendwie nicht riechen können - "unerträgliche Arroganz" ist dann ein Stichwort was fällt.


    Nach außen hin macht er auch auf mich einen solchen Eindruck, seine dämliche Rolex-Werbung unterstütze dieses Image.


    Aber ich habe ihn dafür in seinen frühen Aufnahmen für seine untrügliches Ohr in Sachen Zeitmaß immer sehr geschätzt (also, die alten Aufnahmen meine ich!!)


    Ich hab sogar gegen Ende seiner Herrschaft über das Symphonieorchester des Bayer. Rundfunks erlebt, wie ihn seine Musiker nicht leiden konnten - da war spürbar einiges im Argen und die Zuschauer in den vorderen Reihen des Konzerts erzählten sogar, dass sie gesehen haben, wie die Musiker ihm heimlich Grimassen geschnitten haben sollen :D


    :hello:
    Stefan

    Viva la libertà!

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  • Wurde auch höchste Zeit, daß der Name Maazel hier fällt :D


    Ist etwas schwierig, die Frage. Die üblichen Verdächtigen sind zweifellos schon benannt. Objektiv kann man feststellen: ja, das sind sie, die Polarisierer. Daran schlösse sich an die subjektive Sicht: wie hält man es selbst mit ihnen? Und wer sonst noch?


    Ich nenn' mal einen Kandidaten, um den es nach meinem Eindruck nach seinem Tod allerdings merklich ruhig geworden ist: Sir Georg Solti.


    Ach so, warum: dieses immerwährende, ewig 'temperamentvolle' bei Solti ging/geht mir gewaltig gegen den Strich :untertauch:

  • Und einen dritten außermusikalischen Grund habe ich vergessen: politische Äußerungen.
    Ich habe erst jetzt zur Kenntnis genommen, dass sich der bereits erwähnte Christian Thielemann mehrfach durch - für mich völlig inakzeptable- Instinktlosigkeiten und allerdings dementierte Äußerungen hervorgetan hat. Für mich persönlich heißt das, solange in dieser Hinsicht irgendein Zweifel besteht bekommt dieser Herr keinen Cent mehr aus meinem CD-Budget und könnte er noch so gut dirigieren - was er nicht tut.

    Without deviation from the norm, progress is not possible.
    (Frank Zappa)

    Einmal editiert, zuletzt von calaf ()

  • Zitat

    Original von Wulf
    also bei Maazel kenne ich schon ein paar Leute, die den Menschen Maazel irgendwie nicht riechen können - "unerträgliche Arroganz" ist dann ein Stichwort was fällt.


    Und liefert dabei Interpretationen von distanzierter Langeweile...


    Zitat


    Aber ich habe ihn dafür in seinen frühen Aufnahmen für seine untrügliches Ohr in Sachen Zeitmaß immer sehr geschätzt (also, die alten Aufnahmen meine ich!!)


    Der junge Maazel der späten 50er und 60er muß eine der größten Dirigierbegabungen des 20 Jhds. gewesen sein. Brillante Technik, photographisches Gedächtnis, scheinbar mühelose Aneignung hochkomplexer Partituren, etwa der klassischen Moderne, und transparente, dabei klangsinnliche Umsetzung. Man vergleiche seine DG-Aufnahmen um 1960 (Schubert, Mendelssohn, Beethoven, Tschaikowski usw.) mit den etwa gleichzeitig entstandenen Karajans... der junge Maazel war häufig der bessere Karajan! ;)
    Von den in der DG-Box gesammelten Aufnahmen ist keine weniger als sehr gut, etliche hervorragend.


    Aber dann folgte irgendwann Abgleiten ins so-so-lala- oder schlimmer... :wacky:


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
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    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl


    ...der junge Maazel war häufig der bessere Karajan! ;)...


    ... und wollte das wohl insgeheim auch unbedingt sein... oder werden... was ihm m. E. dann zum Verhängnis geworden ist - indem er mehr und mehr bei seiner Karriere eher das Publikum und die Medien im Auge hatte als die Musik.


    Als die Berliner ihm Abbado vorzogen, soll er doch auch geschmollt haben nie mehr die Berliner...


    http://www.tamino-klassikforum….php?postid=9684#post9684


    Lorin Maazel - Eine Hommage zum 75sten


    :D :D :D


    Viele Grüße


  • Das ist bei Maazel in der Tat äußerst schade!

  • Der junge Maazel dürfte tatsächlich fuminant gewesen sein: Er dirigierte zwar auch auf äußeren bis äußerlichen Glanz abzielend (was ich persönlich nicht so sehr mag), aber seine Interpretationen waren wesentlich weniger steril als die Karajans und klanglich seinem ungenannten Vorbild weit überlegen.


    Das Problem bei Maazel ist jedoch seine immer stärker wachsende Arroganz, die nicht nur den menschlichen Bereich betrifft (die Clevelander etwa waren heilfroh, als er ging), sondern auch den musikalischen: Man mußte sehen, um es zu glauben, wie gelangweilt und merklich desinteressiert er etwa in der Wiener Staatsoper die "Lulu" herunterpinselte.


    Mittlerweile stellt er nur noch sein Ego dar, was mitunter ganz spannend sein kann, zumeist aber ein langweiliges Klangbad ergibt.


    :hello:

    ...