Tonaufnahmen als "Zeitfenster"

  • Liebe Forianer


    Hat sich (ausser mir) schon mal wer Gedanken darüber gemacht, welch Glück uns beschieden wird, Tonaufnahmen der Vergangenheit hören zu dürfen ?


    OK, mancher wird meinen die "historischen" Schellackaufnahmen um 1900 wären nicht geeignet sich ein Bild über Interpretationen zu machen, aber das ist ja auch gar nicht notwendig, bereit um 1935 klangen die Aufnahmen weitgehend Klangfarbentreu - wenn man nicht versuchte das wasserfallartige Rauschen zu eliminieren. Spätestens ab 1955 als die Stereoaufnahme den Durchbruch schaffte waren die Aufnahmen soweit klangfarbentreu, daß sie sich, von einem leisen aber unüberhörbaren Grundrauschen nur wenig von heute gemachten unterschieden.


    Was aber den großen Unterschied ausmachte war - die Interpretation.
    Man ist geneigt von interpetatorischen "Moden" zu sprechen.


    Manch einer will die alten Aufnahmen nicht mehr hören, sie seien "überholt" so sagt man. Man muss sich aber vor Augen halten, daß wir uns mit jedem Jahr das verstreicht EMOTIONELL vom "Original" entfernen, und wir sollten zur Kenntnis nehmen, daß vergangene Generationen auch "historisch informiert" waren, dies aber aus den verschiedensten Gründen ignorerten.
    Die Interpetationsgeschichte ist voll von Sackgassen und Irrwegen - aber auch von beglückenden Darstellungen , weit entfernt von jeder Authenzität.


    Es gab Eigen- und Unarten Schwächen und Stärken von Orchestern Dirigenten, Sängern und Solisten.


    Was davon hat euch beeindruckt - was abgestossen.


    Wenn die Mehrheit der Meinung ist, ältere Interpretationen seien obsolet und nicht mehr anhöraber, dann würde dieser Standpunkt meiner Ansicht nach jeder Tonaufzeichnung ad absurdum führen....


    mfg
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber Alfred,


    mit zunehmendem Anwachsen des Bestandes an Aufnahmen seit dem Ende des vorletzten Jahrhunderts (von denen gleichzeitig immer mehr gleichzeitig greifbar sind) wird immer deutlicher, dass auf diese Weise ein Schatz an Kulturdokumenten heranwächst, der wohl eher das Potential eines Wurmlochs als das eines unschuldigen Fensterleins in die Vergangenheit hat.


    Entsprechend weit ist dieses Feld.


    Ich kann Dir nur voll zustimmen und meine persönliche Note beifügen. Ich denke, ich habe einmal bei Jens Malte Fischer gelesen, dass wir mit den Aufnahmen keine Reise in die Vergangenheit machen, sondern die Vergangenheit zu uns holen. Eine ziemlich auf der Hand liegende Äußerung, in der viel Wahrheit steckt, denn die Reaktion auf das zu Hörende wird immer von unserer Zeit aus erfolgen. Das kann im Einzelfall zu befremdlichen Eindrücken führen, wenn man z.B. zeitgenössische Lobeshymnen über einen Sänger oder Instrumentalisten liest und dann die Aufnahmen hört. Und zwar hört mit wahlweise Belustigung oder Entsetzen, weil heute dieselben Vokabeln für ganz andere Dinge gebraucht werden, da die Maßstäbe sich mit dem Fluss der Zeit kontinuierlich mitverschieben. Wer vor 80 Jahren ein weltberühmter Geiger war würde heute in jeder Konservatoriumsabschlusprüfung durchfallen bzw. gar nicht so weit vordringen - Fritz Kreislers Aufnahme des Beethoven'schen Violinkonzerts von 1926 ist das Beispiel, auf das ich mich hier beziehe.


    Und dann gibt es Dokumente, die auf eine andere Weise nachdenklich machen: die Violinaufnahmen Sarasates oder Rosés etwa, die nachdrücklichst vor Ohren führen, welchen Kulturbruch der erste Weltkrieg und die stürmische Entwicklung in der Nachkriegszeit bewirkt haben: einen solch differenzierten Ton von so unendlichem Schattierungsreichtum findet man erst jetzt ansatzweise bei Altinstrumentlern wie Midori Seiler wieder - dazwischen war er in der Kreisler-Heifetz'schen Vibrato"kultur" untergegangen.


    Ähnlich dramatisch sind die Kontraste zwischen den zwei Einspielungen von Beethovens fünfter Symphonie, die die Berliner Philharmoniker 1913 bzw. 1926 unter ihren damaligen Chefdirigenten Nikisch resp. Furtwängler gemacht haben. Bei Nikisch findet man Eleganz, Raffinesse und Delikatesse (wenn man sich lange genug quält mit der Tonqualität) - das heute als Standard akzeptierte Maß an Dauervibrato gibt es z.B. dort nur an ein paar ausgewählten Stellen, die Celli vibrieren am Anfang des langsamen Satzes kaum und artikulieren sehr deutlich - bei Furtwängler, nur 13 Jahre später, hört man schon das heute Cello-typische Dauervibrato, die große romantische Schmalzlocke.


    Wenn ich dazu lese, wie Siegfried Eberhardt wort- und kenntnisreich den "Untergang der Kunst des Geigens" aufgrund der "kunstfeindlichen Stahlsaite" beklagt oder mir vor Augen halte, dass Nikisch zu seiner Zeit als ein romantisch-exzessiver Beethoveninterpret kritisiert wurde - dann kann ich mir nicht mehr vorstellen, dass ein Wilhelm Furtwängler so besonders nahe an der Tradition dran gewesen sein soll.


    Wobei Furtwängler natürlich der Paradekandidat ist für die Kategorie "so beglückend wie unhistorisch", weil am Ende doch immer der Mensch zum Menschen spricht, was starken Künstlerpersönlichkeiten immer die Möglichkeit gibt, sich unabhängig von objektivierbaren Kriterien mit einem Kunstwerk zu identifizieren und so dauerhaft interessante Lesarten zu produzieren.


    Auf diese Weise wird die Schallplattengeschichte zur Schatztruhe menschlichen Kunstempfindens "ohne Worte" - ob es nun um Dirigenten wie Furtwängler oder Sänger wie Caruso geht, die als Monumente aus der Zeit herausragen - das wird man in 100 Jahren sicher deutlicher sehen können als heute.


    Gleichzeitig hat die Schallplatte ihre eigene Ästhetik auf beiden Seiten der Apparatur ermöglicht: sowohl der Interpret als auch der Hörer haben einen "Studiomodus", der oft zu sterilen Resultaten führt, oft und meinem Eindruck nach mit steigender Tendenz aber auch zu einem Gewinn an Abgewogenheit, zu einer gewissen meditativ-sorgfältigen Qualität führt.


    Überdies ist es ja leider so, dass hohe Frequenzen von der Luft stark gedämpft werden, das spezifische Timbre Alter Instrumente sich also in größeren Sälen nur für einen Bruchteil des Publikums entfalten kann. Da schafft die CD Abhilfe und transportiert auch noch den letzten Oberton zum Hörer.


    Außerdem wächst man als Kunstrezipient in der Auseinandersetzung mit dem Erbe der Vergangenheit, kann das Musikleben der Gegenwart in die historische Perspektive stellen und an sich wandelnden Einschätzungen die eigene Entwicklung nachvollziehen - noch vor wenigen Jahren kaufte ich beinahe ausschließlich monaurale Aufnahmen, bis mich dann der HIP-Wahn mit voller Breitseite erfasste...


    Schließen möchte ich daher auf einer mir gemäßen windelweich-vollkompromisslerischen Note: ja, es ist ein großes Glück, und ja, gelegentlich denke ich ein wenig drüber nach.


    :hello:
    BBF

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Lieber Alfred, lieber Barockbassflo,


    ich beschäftige mich in erster Linie mit Gesangsaufnahmen und habe dabei einige Zeitfenster weit geöffnet, aus unterschiedlichen Gründen:


    Wenn ich mir heute eine Opernaufführung ansehe, spielen neben der musikalischen Darbietung auch Kriterien wie Regie, Bühnenbild, szenisches Darstellungsvermögen eine wichtige Rolle.
    Auch bei Aufnahmen mit zeitgenössischen Interpreten steht für mich oft die Person im Vordergrund.
    Höre ich ältere Aufnahmen, so kann ich mich stärker auf die Interpretation der Rolle selbst konzentrieren.
    Sternstunden der Rollenidentifikation waren für mich Callas als Norma, Björling als Riccardo, Alfredo oder Manrico, Pears als Peter Grimes, Horne als Glucks Orfeo.


    Zu Puccinis Werken hatte ich lange Zeit keinen richtigen Zugang, trotz hervorragender Interpreten. Bis mir Aufnahmen mit Nellie Melba, Frances Alda, Claudia Muzio in die Hände fielen. Die fin-de-siècle-Stimmung, die diese Aufnahmen ausstrahlen, kann einer heutigen nicht mehr künstlich übergestülpt werden. Ich kann aber Puccinis impressionistische Züge und die musikalischen Finessen auch in heutigen Aufnahmen höher schätzen.


    Als ich in der Schule mit dem Kunstlied konfrontiert wurde, war Dietrich Fischer-Dieskau das Maß aller Dinge. Da mir sein plakativ-ausdeutender Gesangsstil nicht so zusagt, hatte ich zunächst Schwierigkeiten mit dem Genre. Schlusnus sang mir, trotz des wunderbaren Timbres, zu schlicht-pathetisch. Bei Peter Pears fand ich die ideale Balance - und selbst einen stärkeren Bezug zum Lied.


    Der voll aussingende baritenore war nie mein bevorzugter Stimmtyp, aber lange Zeit der maßgebliche.
    Durch Carusos Aufnahmen habe ich begriffen, welchem stimmlichen Ideal di Stefano, del Monaco oder auch Domingo gefolgt sind und nach einem Gegenpol gesucht: Valetti, Raimondi, Alva, Björling, die französischen Tenöre der alten opera comique, heute auch Florez.


    Bach und Händel - da schließe ich die meisten Zeitfenster oft nicht wegen der Sänger, sondern wegen der Instrumentierung, und wende mich neueren und neuen Sängern zu: Hannah Schwarz, John Mark Ainsley, Christiane Oelze ...


    Mozart ist für mich zeitresistent; es gibt so viele wunderbare Aufnahmen, alte und neue!


    Ich freue mich jedenfalls, dass ich aus so einer großen Vielfalt an Interpreten und Stilen schöpfen kann!


    :hello: Petra

    Einmal editiert, zuletzt von petra ()

  • Zitat

    Original von petra
    ... Horne als Glucks Orfeo.


    Hört! Hört!


    Ja und amen zu allem bisher dazu Gesagten. Die immerhin sehr gute Stereo-Qualität, in der man Marilyn Hornes superbem Vortrag in Soltis fantastischer Aufnahme von Glucks ORFEO, die mich meinen Ohren nicht trauen ließ, als ich sie vor Jahrzehnten zum ersten Mal hörte, wirft aber eine zusätzliche Frage auf:


    Würden wir diese Leistung heute noch so schätzen, wenn sie schon zur Schellack-Zeit aufgenommen worden wäre? Ich bewundere immer Leute, denen es nichts auszumachen scheint, historische Aufnahmen zu hören um auf der eher rauschenden als berauschenden Basis des Vernommenen den Verfall der Sanges-, Instrumental- und sonstigen Kunst musikalischer Ausübung zu beklagen. Das ist nicht (nur) ironisch gemeint. Zum Glück haben wir Dokumentationen der außerordentlichen Qualität einer Rosa Ponselle, eines Lauritz Melchior und meinetwegen auch eines Caruso, obwohl gerade der für mich auch für sentimentale und andere lästige Konventionen steht, die wir - nicht zuletzt dank der inzwischen auch schon fast historisch klingenden Callas - zum Glück einigermaßen überwunden haben. Aber es sind doch relativ armselige Dokumente, vergleichbar etwa einer verblichenen Polaroid-Aufnahme der Sixtinischen Kapelle. Schon der Hörgenuss, den ein Fitzcarraldo im südamerikanischen Urwald einem Trichtergrammophon abgewann, ist für uns doch nicht wirklich mehr nachzuvollziehen.


    Jedenfalls reicht die Fantasie meiner Ohren, bzw. der diese kontrollierenden Gehirnzellen, in der Regel nicht aus, mir vorzustellen, wie diese Künstler wirklich klangen und was sie wirklich leisteten, denn zu der Tonqualität kommt ja hinzu, dass wir sie fast nur in Ariensammlungen und nur ganz selten von Gesamtaufnahmen kennen. Es bleibt eine Aufgabe der Fantasie, daraus Rückschlüsse auf das musikalische Erlebnis auch nur eines Konzertabends solcher Künstler zu schließen und die Legende mit konkreter Erfahrung zu füllen. Das ist machbar, aber kein adäquater Maßstab für die Bewertung heute aktiver Künstler oder gar der von ihnen aufgenommenen Kompositionen.


    Seien wir dennoch froh, dass wir solche Aufzeichnungen haben. Man stelle sich nur einmal vor, es gäbe von Mozarts Klavierspiel Mitschnitte wie etwa die Klavierrollen von George Gershwin oder die Eigeninterpretationen eines Leonard Bernstein.


    =) Rideamus


    PS: da die genannte Solti/Horne - Aufnahme wohl leider irgendwann auch aus dem preiswerten Bereich der Decca verschwinden dürfte, in dem es sie heute noch gibt, sollte jeder, der Oper mag und dieses grandiose Zeugnis der Kunst der Oper und ihrer Interpretation noch nicht kennt oder hat, sie sich schnellstmöglich sichern:


  • Seit einigen Jahren wächst mein Bestand an sog. "historischen" Aufnahmen stärker an, als der, von Neu-Einspielungen. Das hat mehrere Ursachen: einmal gibt es Künstler/innen, die von den offiziellen Plattenfirmen gar nicht oder nur unzureichend dokumentiert wurden. Dann interessiert mich, wie sich die Interpretation im Laufe der Jahre verändert hat, wie hat man gesungen, wie war die Wortbehandlung, welche Akzente setzte der Dirigent? Und natürlich: stimmt denn der manchmal zu hörende oder lesende Eindruck, früher sei besser gesungen worden?


    Bedenkt man jetzt noch, dass bei Live-Aufnahmen oder Rundfunkmitschnitten keine Nachbesserungen vorgenommen werden konnten, empfinde ich diese "alten" Aufnahmen als viel ehrlicher, als neuere Einspielungen.


    Kurz zum Beispiel Callas: ihre Studioaufnahmen dokumentieren nur einen Teil ihres Könnens. Nimmt man ihre Live-Aufnahmen hinzu, ergibt sich ein komplexeres Bild. Ich habe beim Anhören dieser teilweise tontechnisch problematischen Aufnahmen oft gedacht, wie muss diese Frau im Theater selbst gewirkt haben - das muss irre gewesen sein. Und natürlich können die Aufnahmen nur ein unzureichendes Bild vermitteln, aber das ist mir immer noch lieber, als darauf zur Gänze verzichten zu müssen.


    Drei kleine Beispiele: natürlich ist es ein Stunt, der kritisierbar ist - aber man höre sich das Finale des zweiten Aktes von "Aida" an, wenn Maria Callas das "hohe Es" in den Raum stellt (Mexico 1950 und 1951). Oder das Ende der Arie der Giulia aus Spontinis "Vestale" (Scala 1954) - Maria Callas wagt an dieser Stelle alles, sie lässt sich von der dramatischen Situation ergreifen und der eingelegte Schlusston fängt leicht an zu brechen - ein unglaublicher Moment. Drittes Beispiel: "Armida" von Rossini (Florenz 1952), Arie der Armida aus dem zweiten Akt, Eindrücke, die ich nicht missen möchte.


    Kleine Nebenbemerkung: diese Woche habe ich eine Rundfunkaufnahme der "Elektra" von Strauss gehört (Köln 1953). Vor allem Leonie Rysanek (Chrysothemis), sängerisch nicht immer tadellos, singt da, als gönge es um ihr Leben und Astrid Varnay (Elektra), immer etwas angestrengt, ist hier besser bei Stimme als in Salzburg, rund zehn Jahre später...

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  • Hallo Alviano,


    Du hast natürlich vollkommen Recht in allem was Du da sagst, aber gerade wenn man auf Kriterien abhebt wie das, jemand bringe sich voll ein, was fraglos bewundernswert ist, frage ich mich, ob da nicht zuviel auf den sportiven Aspekt geachtet wird. Das ist zwar durchaus legitim, jedenfalls wenn man aus den ekstatischen Publikumsreaktionen nach einem erreichten hohen C schließt, aber sind das wrklich Maßstäbe, die dem besseren Verständnis oder einer adäquaten Würdigung des jeweils dargebrachten Werk dienlich sind ? Ich habe mit derartigen Bewertungen meine Probleme, denn die Vorstellung einer Olympiade der Sänger/innen, bei denen eine Jury wie im Eiskunstlauf Punkte vergibt, womöglich mit Sonderpunkten für besonders hohe oder tiefe Töne, erscheint mir absurd. Dennoch, wohl weil der Mensch unbedingt einen Maßstab für alles braucht, wird nur zu oft genau aus dieser Richtung argumentiert.


    Das enorme Verdienst der Callas um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Not ihrer Charaktere selbst in den banalsten Belcanto-Opern ist unbestreitbar und hat zum Glück Maßstäbe gesetzt, die ihre Nachfolgerinnen nicht mehr ignorieren konnten - zum Teil mit fast tragischen Ergebnissen (siehe Elena Suliotis, um nur ein Beispiel zu nennen). Dennoch habe ich trotz zahlloser Versuche, sie einfach nur zu bewundern, immer wieder derartige Probleme mit ihrem Timbre, dass ich meist auf andere Aufnahmen ausweiche, wenn ich ein Werk ihres Repertoires hören möchte. Gleiches gilt mindestens für die Mehrzahl mehr oder weniger historischer Aufnahmen.


    Ein Beispiel ist der legendäre Mitschnitt der HUGENOTTEN aus der Scala mit Sutherland, Corelli, Cossotto, Simionato und Ghiaurov in Höchstform. Ich bin sicher, dass ich nur noch begeistert gewesen wäre, hätte ich diesen Abend miterleben dürfen. Die tontechnischen Schwächen des Mitschnitts lassen mich aber fragen, ob die Aufführung wirklich die Legende rechtfertigte. Um zum Sportiven zurück zu kehren: wer die Aufnahmen von Jesse Owens' siegreichem 100-Meter - Lauf bei den Olympischen Spielen von Berlin 1936 sieht, gibt sich doch auch nur einer Illusion hin, wenn er (als Nichtspezialist) meint, den Lauf beurteilen zu können, während er in Wirklichkeit in seinem Urteil vor allem das bündelt, was er aus dem seither zahllos Gesagten und Geschriebenen darüber gehört und gelesen hat.


    Natürlich kann man sich an historische Klänge gewöhnen und in sie einhören. Leider gibt es dafür aber auch Grenzen. Ich bin ja nicht weniger dankbar als der Rest der Welt dafür, dass es diese Zeugnisse gibt, nur sollte man sehr vorsichtig damit sein, sie mit modernen Aufnahmen zu vergleichen, wenn sie nicht einen klangtechnischen Standard haben, der frühestens seit dem Aufkommen der monauralen LP wirklich ernst zu nehmen ist. Ob diese Aufnahmen "ehrlicher" waren, kann wohl nur fallweise beurteilt werden, scheint mir aber wiederum mehr ein Kriterium sportiver als künstlerischer Beurteilung zu sein.


    Zum Glück aber ist das Erleben der Musik so subjektiv wie sonst wohl nur noch die Liebe und der Hass. Insofern hat jeder Recht, und wir können trefflich darüber debattieren, vor allem aber aus der Vielzahl von großartigen Werken wählen, die nicht jedem gefallen müssen, und damit unsere Lebensqualität bereichern.


    ?( Rideamus

  • Zitat

    Original von Rideamus: Die immerhin sehr gute Stereo-Qualität, in der man Marilyn Hornes superbem Vortrag in Soltis fantastischer Aufnahme von Glucks ORFEO, die mich meinen Ohren nicht trauen ließ, als ich sie vor Jahrzehnten zum ersten Mal hörte, wirft aber eine zusätzliche Frage auf: Würden wir diese Leistung heute noch so schätzen, wenn sie schon zur Schellack-Zeit aufgenommen worden wäre? I


    Und ich dachte schon, ich sei die einzige, die diese Aufnahme so hoch schätzt, weil ich oft erstaunte und fragende Gesichter ernte, wenn ich Marilyn Horne als Orfeo in die Debatte werfe!
    Da kann ich als musikbegeisterter Amateur schon mal an meinem musikalischen Urteilsvermögen zweifeln und freue mich wirklich, wenn jemand mit längerer und intensiverer Erfahrung im klassischen Bereich zustimmt =) !
    Zu deiner rhetorischen Frage: Vielleicht könnten wir eine solche Aufnahme, die aus Schellacks Zeiten datiert, ebenso schätzen, wenn sie denn als Gesamtaufnahme vorliegen würde und wenn der Rausch- und Knisterfaktor nicht allzu hoch wäre ...
    Aber wahrscheinlicher ist wohl, dass wir dann auf irgendeinem Sampler das nicht trotz, sondern meiner Meinung nach gerade wegen seiner Verzierungen so bewegende "Chiamo il mio ben così" hören könnten, oder noch wahrscheinlicher, dass gerade diese Auszierungen in jener Zeit unter den Tisch bzw. dem damaligen Musikgeschmack zum Opfer gefallen wären.


    Zitat

    Original von Alviano: Dann interessiert mich, wie sich die Interpretation im Laufe der Jahre verändert hat, wie hat man gesungen, wie war die Wortbehandlung, welche Akzente setzte der Dirigent? Und natürlich: stimmt denn der manchmal zu hörende oder lesende Eindruck, früher sei besser gesungen worden?


    Die Fragen in Deinem ersten Satz sind auch der Grund, warum ich gerne zu historischen Aufnahmen greife: nicht aus sentimentaler Verklärung heraus, sondern um Vergleichsmöglichkeiten oder Antworten auf Probleme zu finden.


    Die Klage darüber, dass früher (fast) alles besser war, ist wohl ein universeller Topos in allen Lebensbereichen, vor dem auch manche Kunstkritiker nicht Halt machen ...
    Ich versuche jedenfalls, mich nicht so weit aus dem Zeitfenster zu lehnen, dass ich aus dem Heute herausfalle. Andererseits halte ich dieses Fenster gerne offen, um nicht in den Maßstäben einer Zeit, nämlich der heutigen, gefangen zu bleiben.


    :hello: Petra

  • Hallo Rideamus,


    das wäre ein Missverständnis: ich bin kein Freund von sportlichen Leistungen im Opernhaus - oder genauer: wenn schon halsbrecherische Equilibristik, dann bitte perfekt.


    Nur ist das bei Callas nicht der Fall (das "Aida"-Beispiel mal aussen vor gelassen). Gerade die Giulia-Arie zeigt, dass die Sängerin die Zerissenheit der Figur stimmlich perfekt fasst, der Spitzenton ist ein Schrei der Seele, da kann eine Frau gar nicht anders, als ihr Leid so zu artikulieren, das hat für mich Gänsehautqualität, wenn dann der Ton nicht ganz korrekt "steht", das hat viel mit perfekter Gestaltung und wenig mit Sport zu tun.


    Zum Begriff des "ehrlichen": heute kann alles wiederholt werden, Schnitte sind in einem Bereich - dank der Digitaltechnik - möglich, der früher undenkbar war.


    Bei diesen alten Aufnahmen hört man aber Sänger/innen, die die Partien tatsächlich von A bis Z am Stück gesungen haben, ohne, dass das technisch nachgearbeitet wurde, das meine ich mit dem "ehrlicher".


    In meiner Jugend war ich sehr erstaunt, als ich das erstemal "Stars" auf der Opernbühne live erlebt hatte: auf den mir bekannten Platten klangen die alle, als hätten die "grosse" Stimmen, was gar nicht stimmte - und das ist nur ein Beispiel, wie man schon zu LP-Zeiten "nachgeholfen" hat...

  • Wiederum kann und will ich meinen Vorrednern gerne in allem zustimmen.


    Was allerdings die "Ehrlichkeit" betrifft, so ist die sicher ein Wert an sich, aber genau da stellt sich die Frage, welche Erwartung man an eine Platte oder, allgmeiner, die Aufzeichnung eines Werkes stellt.


    Wenn es eine Dokumentation einer Interpretation oder eines Leistungsstandes (nicht sportiv gemeint) sein soll, wie vor allem viele Dirigenten ihre Einspielungen auffassen, sein soll, dann ist diese Ehrlichkeit ein unabdingbares Muss.


    Wenn ich aber, wie wohl die meisten Klassikkäufer mit schmalem Portemonnaie, eine möglichst optimale Einspielung eines Werkes haben möchte, damit ich auch möglichst viele andere Werke kennen lernen kann, ist mir jeder Weg recht, diese zu erreichen, selbst wenn das eigentlich, wie jedes Menschending, unmöglich ist. Das hat also nichts mit der in einem anderen Thread abgefragten "perfekten" Opernaufnahme zu tun. Nicht umsonst wird eine technisch "perfekte" Aufnahme leicht als steril empfunden. Ich gehöre aber nicht zu der Fraktion, die sich mit Schaudern wendet, wenn die Schwarzkopf der Flagstad (waren es diese?) mit einem hohen C aushilft, solange das dem Endergebnis dienlich ist. Manipulationen, die im "Verfälschen" verbessern, halte ich für legitim, zuweilen sogar wünschenswert. Wenn etwa eine Plattenfirma aus mehreren Live-Aufzeichnungen die Teile mit möglichst geringem Publikumsgeräusch auswählt und zusammenstellt, so ist mir das lieber, als an einer bestimmten Stelle immer denselben Huster oder das einmal kieksende Horn zu hören.


    Natürlich gibt es für alles Grenzen, ebenso wie das Recht, eigene Prioritäten zu setzen. Ich kann nur meine beschreiben und begründen.


    Aber ich fürchte, die Diskussion bewegt sich langsam in Richtung off topic.

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Manch einer will die alten Aufnahmen nicht mehr hören, sie seien "überholt" so sagt man. Man muss sich aber vor Augen halten, daß wir uns mit jedem Jahr das verstreicht EMOTIONELL vom "Original" entfernen, und wir sollten zur Kenntnis nehmen, daß vergangene Generationen auch "historisch informiert" waren, dies aber auch den verschiedensten Gründen ignorierten.
    Die Interpretationsgeschichte ist voll von Sackgassen und Irrwegen - aber auch von beglückenden Darstellungen, weit entfernt von jeder Authentizität.


    Lieber Alfred,


    Ich kann Deine Darlegung gut folgen. Nicht umsonst habe ich Kathleen Ferrier einen Thread gewidmet.
    Wenn man mit HIP-Ohren ihre Aufnahmen der Bach/Händel Arien (7/8 Oktober 1952) hört, dann werden vermutlich die Augenbrauen zusammen gezogen. Wer eher interessiert ist an der Stimme, der wird genießen. Denn sie hatte ein einmaliges Timbre, so warm, so schön. Eine Jahrhundertstimme.
    Wenn man aber achtet auf die Beseelung womit gesungen wurde, dann könnten diesen Aufnahmen vielleicht einzigartig in der Geschichte sein. Denn nebst diesen bereits erwähnten "Tatsachen" (denn als solche betrachte ich sie; hier ist nicht mehr Rede von Geschmackssache) kommt noch hinzu das Wissen um ihr bald nähendes Ende. Und das gab diese Arien eine Sonderfärbung. Und das jenes Wissen eine Rolle bei ihrem Gesang spielte, kann man im Ferrierthread lesen. Ich zitiere:


    Zitat

    Leigh: „To hear her sing 'Che faro'. It was... 'What is life'. I mean... this woman knowing well she was dying. And her eyes... she didn't cry, but there were tears...“


    Bis jetzt habe ich nur einmal eine einzige Aufnahme gehört wo Ferriers Intensität fast erreicht wird. Das betrifft aber nur eine Arie. Da singt Anne-Sophie von Otter "He was despised" im Messias unter Pinnock. Aber auch da findet nur eine Annäherung statt.


    LG, Paul

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  • Zitat

    Original von Rideamus
    Wenn ich aber, wie wohl die meisten Klassikkäufer mit schmalem Portemonnaie, eine möglichst optimale Einspielung eines Werkes haben möchte, damit ich auch möglichst viele andere Werke kennen lernen kann, ist mir jeder Weg recht, diese zu erreichen, selbst wenn das eigentlich, wie jedes Menschending, unmöglich ist.


    Das ist völlig klar: wenn mich jemand bsplsw. nach einer guten "Carmen"-Aufnahme fragen würde, es wäre wohl nicht die von 1908, die ich empfehlen würde.


    Was die Frage der Beurteilung einer Stimme angeht: das ist schon manchmal nicht ganz leicht, aber auch da kann der Interessent Erfahrungen sammeln, eben auch dadurch, verstärkt solche Aufnahmen zu hören.


    Manche Aufnahmen sind übrigens in recht gutem Zustand, z. B. die Einspielungen der "Tosca" (Mailand 1929), der "Aida" (Mailand 1928 ) oder des "Trovatore" (Mailand 1930), die ich allesamt auch dem Opernfreund empfehlen würde, der kein "Händchen" für alte Aufnahmen hat (aber bereit ist, die zeittypischen Einschränkungen in der Klangqualität in Kauf zu nehmen).


    Schwieriger für mich: die Tonqualität von Radiomitschnitten (anscheinend wirklich mit einem Mikrophon vor der Laustprechermembran aufgenommen) oder Mitschnitte im Opernhaus: "Nabucco" mit Bechi und Callas (Neapel 1951 - aber was eine künstlerische Kraft - Duett Nabucco-Abigaille, z. B.) oder "Traviata" mit Callas und di Stefano (Scala 1955).

  • Ichj finde, wenn wir hier schon über ein "Zeitfenster" sprechen, daß die Erörterung von Tonqualität schon ein wichtiges Kriterium ist.


    Selten werde ich ein "historische" Aufnahme zum Kennenlernen empfehlen, weil es für die meisten Leute zu beginn ziemlich schwierig ist sich an die Einschränkungen alter Tonaufnahmen zu gewöhnen.


    Ich würde die Tonqualtät - einen mittleren Standard vorausgesetzz in etwa so einteilen


    HEUTIGE Rauschfreie Tonqualität


    (Gelegentlich klingen heutige DIGITALE Aufnahmen ein wenig kompakter, als Analoges - dafür rauschen sie niecht



    HIFI STEREO - mit unterschiedlichem Rauschen


    Diese Aufnahmen isin nach meiner Einschätzung oft im Gesamtergebnis überzeugender als heutige Aufnahmen - ich werte sie daher NICHT als historisch



    HIFI EDLES MONO - leichtes Rauschen


    Technischer Stand der kurz vor der Einführung der Stereophonie erreicht wurde. Gute Aufnahmen rauschen sogar weniger, als die erste Generation von Stereo-Aufnahmen, weil das Rauschen nicht "räumlich" war....


    Mono Aufnahmen- so gut gemacht können übrigens durchaus einen gewissen räumlichen Eindruck vermitteln - und zwar in die RaumTIEFE . Rechts Links Lokalisation war naturgegebenermaßen NICHT möglich



    SCHELLACK der späten Jahre MONO


    ab ca 1930 brauchbarer Frequenzbereich bei hohem Grundrauschen.


    Die höhenschwachen Aufnahmen sind ein Verbrechen "moderner" Tontechnik - wo das Grundrauschen gemildert oder eliminiert werden sollte.
    Was immer man auch verspricht: JEDE Rauschunterdrückung mindert die Qualität des Originalsignals.


    vor 1925


    AKUSTISCHE Aufnahmen - mit Trichter gemacht


    EXTREM hohes Rauschen
    Trichterklang
    stark eingeschränkter Frequenzvereich
    Geringe Dynamik und hohe Verzerrungen...


    --------------------------------------------------------------------------


    Diverse Stimmern vertragen eine eingeschränkte Tonqualität, andere wieder überhaupt nicht. Mäjnnerstimmen kommen über alte Aufnahmen viel neutraler als Frauenstimmen, deren Freqenzumfang weit in den Klirrbereich von Trichtern reichte....


    mfg aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !