Ab ungefähr 1870 bis zu seinem Tod 1886 hat Franz Liszt mit wenigen Ausnahmen nur noch kürzere Stücke – meist für Soloklavier – komponiert. Eigentlich gilt Liszts Spätwerk für Klavier ja kaum mehr als Geheimtip. Trotzdem kommt es im Forum so gut wie nie vor, während sich gleich kohortenweise die Rachmaninow-Fans outen…
Zu Beginn drei Zitate mehr oder weniger anerkannter Autoritäten:
„Liszt sagt in seinen Werken, verstreut zwischen viele Schablonen, mehr Neues als viele andere Komponisten, die das Durchschnittspublikum häufig höher schätzt.“ (Béla Bartók)
„Liszts Spätwerk ist in seiner Kompromißlosigkeit wie in seiner künstlerischen Bedeutung dem Spätwerk Beethovens, und wohl überhaupt nur diesem musikalischen Spätwerk, im Rang gleichwertig.“ (Wolfgang Dömling)
„Liszts späte Klavierstücke sind eine Entdeckung unserer Zeit. Daß sie den mephistophelischen Abbé als den Vater der Musik unseres Jahrhunderts ausweisen, war einigen Kennern bereits aufgefallen. Daß man diese Stücke nicht nur lesen, sondern auch spielen und einem hörenden Publikum vermitteln kann, entdecken wir, mit fast hundertjähriger Verspätung, erst heute.“ (Alfred Brendel, 1980)
Ich habe das Spätwerk Liszts durch eine LP kennengelernt, auf der Alfred Brendel 1980 einige dieser Stücke eingespielt hat (keine Ahnung, ob die überhaupt als CD wiederaufgelegt worden ist – ich finde sie jedenfalls bei keinem Anbieter). Dieser LP war ein Essay Brendels (Liszts „Bitternis des Herzens“) beigelegt, den ich jedem Interessierten ans Herz lege (wiederveröffentlicht im Brendel-Band „Nachdenken über Musik“). In relativ wenigen Worten gelingt es Brendel hier, Faszination für diese Musik zu wecken. Einige wenige Auszüge:
„Die Auflösung der Tonalität hat Liszt in seinen Werken wohl als erster erfahren, und er hat sich ihrer Herrschaft als erster entledigt. Liszt vermeidet nun die traditionelle Kadenz, er moduliert kaum mehr, stellt vielmehr Tonarten oder Melodien nebeneinander, läßt sie chromatisch, modal oder als Folge der Zigeunertonleiter ineinandergleiten. […] An die Stelle von Symmetrien, Durchführungen und Reprisen setzt Liszt die einfache Gegenüberstellung äußerster Gegensätze oder das Nebeneinander zweier Tonartkomplexe. Andere Stücke scheuen sich nicht, zufällig zu wirken, fragmentarisch zu sein, zu erstarren, zu versickern, zu vergessen, wo sie begonnen hatten, wenn sie aufhören. […] In vielen späten Stücken Liszts scheint mir bereits etwas vorausgenommen, was in der europäischen Malerei dann um die Jahrhundertwende stattfindet: die Entdeckung des „Primitiven“ oder „Barbarischen“. […] Fast unabhängig von Wagners Tristan-Chromatik, konsequenter als alle seine Zeitgenossen kündigt Liszt die Musik des zwanzigsten Jahrhunderts an. Was uns an diesen Stücken aber vor allem interessieren sollte, ist nicht, was sie vorwegnehmen oder vorbereiten, sondern was sie sind. […] Die Einheit dieses Stils, aber auch die Vielfalt innerhalb dieser Einheit, lassen sich erst begreifen, wenn man eine ganze Reihe dieser Stücke fortlaufend auf sich wirken läßt, allerdings in Aufführungen, die nicht von fixen Ideen einer lähmenden Langsamkeit und Farblosigkeit ausgehen. Noch in die sprödesten Klänge dieser Musik wirkt die Differenziertheit der pianistischen Mittel herein, die Liszt sich in langer Erfahrung erworben hatte. Ein ungeheurer Vorrat an Nuancen sollte selbst dort, wo er scheinbar ungenützt bleibt, im Hintergrund heimlich mitschwingen.“
Einige Stücke, die mir besonders interessant erscheinen:
Der 1883 veröffentlichte dritte Band der „Années de pèlerinage“ vereinigt Kompositionen, die zwischen 1870 und 1877 entstanden sind. Einige entsprechen zumindest teilweise den von Bartók oben angesprochenen „Schablonen“, andere sind frappierend:
„Aux cyprès de la Villa d’Este I“: ein bedrohlicher, dissonanter, archaisch-blockartiger, dann rezitativischer und sich panikartig steigernder erster Teil wird von einem chromatisch-tröstenden, dabei aber eigenartig hart klingendem Abschnitt beantwortet.
„Les jeux d'eaux à la Villa d'Este”: eines der bekanntesten unter den späten Liszt-Stücken und “das Vorbild aller musikalischen Springbrunnen, die seither geflossen sind“ (Busoni). Eine klanglich faszinierende Antezipation des Impressionismus, die fast alle klangfarblichen Register zieht. Wie allen Stücken dieser Sammlung ist auch diesem ein religiöser Gehalt zueigen: Ein Zitat aus dem Johannesevangelium, das das Thema „Wasser“ allegorisch ausdeutet, ist in die Noten gesetzt: Ihm entspricht ein Thema, das sich hymnisch aufschwingt und gleichzeitig – wenn richtig gespielt (Brendel!) – mit höchster Lautstärke im Diskant von gläserner Härte ist.
Ein absoluter Gipfel: „Sunt lacrymae rerum“ (Zitat aus Vergils „Aeneis“), im Gedenken an den gescheiterten ungarischen Freiheitskrieg von 1849 und dem unglücklichen Hans von Bülow gewidmet. Eine Threnodie, wie so viele der späten Stücke – aber was für eine: nicht unähnlich dem Zypressen-Stück, aber noch düsterer und härter, abrupt die Klangsphären nebeneinandersetzend, wiederum mit einem „offenen“ Schluss. Das Stück „enthält wohl die schwärzesten Klänge, die der Baß eines Konzertflügels je hervorgebracht hat“ (Brendel).
Dann einige einzelne Stücke aus den späten Lebensjahren:
„Nuages gris – Trübe Wolken“: minimales Material, ganz knapp dargeboten: Tremoli im Bass, Quartenmotiv, einige harmonisch vagierende Akkorde, etwas Chromatik, zwei dissonante, arpeggierte Akkorde am Schluss – keine Auflösung. Debussy, Schönberg und Webern stehen zusammen vor der Tür.
„Die Trauergondel I“: Liszt komponierte das Stück 1882/83 wenige Wochen vor dem Tod Wagners – er wohnte zusammen mit Familie Wagner im Palazzo Vendramin (was eine eher bedrückende Angelegenheit war – die Zerwürfnisse ließen sich nicht mehr kitten) und sah dort auf dem Canal Grande die Trauergondeln zum Friedhof San Michele vorbeifahren. Von ferne erinnert das Stück an eine Barcarole (6/8-Takt), aber z.B. von der Chopin’schen unterscheidet es sich erheblich: eine nicht mehr wiegende, sondern dissonant-bedrohliche Begleitfigur, verschleierte Tonalität, Melodiefragmente im Diskant, die sich wie unabhängig zum Bass verhalten – 18 Takte lang. Dann wird das Ganze einfach einen Ton tiefer transponiert wiederholt – und schließlich ein drittes Mal, noch gestaltloser, aber kurzzeitig auf bedrohliche Art dynamisch gesteigert. Eine der suggestivsten Klavierkompositionen, die ich kenne. „Eine Formlosigkeit, geboren aus der Wahrheit des Ausdrucks von Trauer und Melancholie“ (Dömling).
„R.W. – Venezia“: Nach dem Tode Wagners komponiert – wieder ein Trauerstück und wieder ein Minimum an Material: übermäßige Dreiklänge, ein pseudoheroischer Aufschwung, der in sich zusammenfällt, und schließlich eine ins Bodenlose herabsinkende Unisonolinie. Ein Abgesang auf die heroischen Gesten in Wagners Musik, darin den hellsichtigsten Passagen des dritten Parsifal-Aktes gar nicht so unähnlich.
„Unstern! – Sinistre“: Wieder übermäßige Dreiklänge, die sich diesmal bedrohlich steigern und schließlich in infernalische, brutal im dreifachen Forte in den Flügel gehämmerte Dissonanzen im Trauerrhythmus münden. Darauf antwortend der zweite Teil, kirchentonal, wie ein Harmonium oder eine Orgel, „den man als Demutsgebärde deuten könnte, als zarte Beschwichtigung, die kaum mehr bis zum Trost vordringt“ […] Nun, im Alter, ist Liszt dem originalen Schubert in seiner depressivsten Form nahegerückt. Gesänge wie „Der Doppelgänger“, „Der Leiermann“ oder „Die Stadt“ führen dicht an Stücke wie „Unstern“ oder „Mosonyi“ heran. Die Verbindung von Kürze und Monumentalität, von Rezitativischem und Lapidarem, von Monotonie und Verfeinerung ist ihnen gemeinsam“ (Brendel).
Zu einigen Einspielungen:
Die erwähnten Brendel-Aufnahmen (die zu seinen besten Einspielungen überhaupt gehören) sind offenbar zur Zeit nur sehr verstreut, teilweise überhaupt nicht erhältlich. Auf zwei verschiedenen Editionen der h-moll-Sonate bei Philips finden sich immerhin "Trauergondel I", "Csardas macabre" und "Bagatelle ohne Tonart" bzw. "Nuages gris", "En rêve" und "R.W. - Venezia":
Ebenfalls mit der h-moll-Sonate gekoppelt gibt es einige Stücke ("Nuages gris", "R.W. - Venezia", "Trauergondel I", "Unstern") mit Pollini:
Sehr viele der späten Stücke auf einen Schlag gibt es im Rahmen der Liszt-Gesamtaufnahme mit Leslie Howard (solide bis sehr gute Interpretationen):
Der dritte Band der "Années de pèlerinage" liegt ja in mehreren Einspielungen vor. Brendel hat m.W. (man korrigiere mich ggf.) nie den gesamten dritten Band eingespielt - seine Aufnahmen von Band 1 und 2 sind durch die Einspielung des dritten Bandes mit Kocsis ergänzt worden, wenn ich nicht irre. Diese Aufnahme kenne ich allerdings nicht.
Bleiben für den dritten Band Ciccolini (der die Stücke für mein Empfinden etwas verharmlost) und Berman (der stark zum Verschleppen neigt). Im Zweifelsfall entscheide ich mich für Berman:
Weitere Ausführungen, Meinungen, Korrekturen, Empfehlungen zum Thema sind natürlich herzlich willkommen.
Viele Grüße
Bernd